Das erste Haustier
«Oh Gott, sind die süß!», dachte ich und drückte mir die Nase an der Ladenscheibe platt. Weder Hamster noch Meerschweinchen, Hund, Katze oder Papagei interessierten mich, mein Herz schlug allein für diese schwarz-weiß gefleckten putzigen Dinger. Meine Eltern waren strikt gegen ein Haustier. Ich aber spürte, dass sie es nicht verhindern konnten: Es würde der Tag kommen, an dem die japanischen Tanzmäuse ihre Runden auch bei uns zu Hause drehten.
Japanische Tanzmäuse sind noch kleiner als weiße Mäuse, haben mittellange rosa Schwänzchen und passen sogar auf die Handfläche kleiner Kinder. Eigentlich waren sie nicht mal richtig teuer: Eine Maus kostete zwölf Mark. Natürlich musste man noch in Käfig, Ausstattung und Futter investieren.
«Die stinken!», sagte meine Mutter. Das brachte mich zum Weinen. «Nein, nein, nein, du stinkst!», schlug ich zurück. Zugegeben, die Mäuse kackten tatsächlich ab und zu in das fein geschnittene Stroh in ihrem Käfig. Aber warum, in aller Welt, sollten diese Minimäuse-Häuflein stinken? «Die schlafen tagsüber», meinte mein Vater, «und tanzen nur nachts, wenn du schläfst. Das macht doch keinen Sinn!» – «Ich werde die nicht schlafen lassen», parierte ich auch hier selbstbewusst, «ich wecke sie! Die tanzen den ganzen Tag nur für mich, und außerdem laufen sie hier im Laden doch auch tagsüber im Kreis!»
Allerdings hatte mein Vater damals recht: Japanische Tanzmäuse schlafen tagsüber und werden erst in der Nacht aktiv. Für Kinder sind sie als Haustiere also eher ungeeignet. Mittlerweile sind die Zucht und der Verkauf in Deutschland sowieso verboten. Die Mäuse haben einen angezüchteten Gendefekt. Eine hervorgerufene Schädigung des Innenohrs macht sie gehörlos und zerstört ihren Gleichgewichtssinn. Das verleitet sie, immerzu im Kreis zu laufen. In Deutschland gilt das mittlerweile als Tierquälerei. 1974 spielte es wohl noch keine Rolle. Hätte ich das alles gewusst, wäre es mir wahrscheinlich auch egal gewesen. Für mich waren die Mäuse einfach nur klein, süß und extrem lebendig.
Wochen vergingen, in denen ich am Schaufenster dem Treiben der kleinen Nager zusah oder im Laden mit dem Verkäufer über Pflege, Nahrung und Verhalten der Minimäuse sprach. Ich besaß weder genügend Geld, um eine Maus, den Käfig und alles andere zu kaufen, noch hatte ich die Erlaubnis meiner Eltern. Andere Kinder hatten Hamster, Meerschweinchen, Kanarienvögel, Katzen oder sogar Hunde (die eigentlichen Könige unter den Haustieren) – mir wurde nicht mal eine Tanzmaus gegönnt.
Eines Tages stand ich wieder allein vor dem Laden und sah den Tanzdarbietungen meiner kleinen Freunde zu, als plötzlich eine ältere Dame neben mir stehen blieb. Dass jemand vor der Scheibe des Tiergeschäfts haltmachte, kam natürlich öfters vor. Aber diese Dame blieb erstaunlich lange dort stehen, beobachtete die Mäuse und zwischendurch auch immer wieder mich. Irgendwann sahen wir uns beide an. «Gefallen dir die Mäuse?», fragte sie. Ich nickte und antwortete: «Die sind so süß. So eine will ich auch haben!» Die Frau lächelte verständnisvoll. «Ich habe bei einer Tombola einen Gutschein für zwei Tanzmäuse mit Käfig gewonnen. Leider kann ich mich nicht um die Mäuse kümmern. Möchtest du den Gutschein haben?»
Was für eine Frage – natürlich wollte ich! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich lief, ich sprang, ich tanzte und sang, bis ich zu Hause war, wo ich meinen Eltern freudestrahlend den Gutschein unter die Nase hielt. Die waren natürlich fassungslos – ihr Widerstand aber war gebrochen. Bereits am nächsten Tag zwang ich sie ins Tiergeschäft. Dort suchte ich mir zwei Tanzmäuse aus: Eine war fast weiß und hatte nur ein paar schwarze Punkte auf dem Kopf, die andere hatte zwei große, fast quadratische schwarze Flecken auf dem Rücken. Dazu bekam ich einen Käfig aus Plexiglas, der halb so groß war wie ein Bierkasten. Außerdem kauften wir noch Streu, Futter und zwei kleine Porzellanfutterschälchen.
Wir transportierten die Mäuse in einer Pappschachtel nach Hause, die während der Autofahrt auf meinem Schoß ruhte. Im Kinderzimmer ließ ich die beiden sofort frei. Anders als erwartet tanzten sie nicht, sondern versteckten sich unter dem Kleiderschrank. Meine Mutter füllte derweil die Streu in den Käfig, in die eine Futterschale Körner und in die andere Wasser. «Ich mache das nur das erste Mal!», sagte sie streng und stellte den Käfig in mein Kinderzimmerregal. «Kein Problem, ich mache das gern!», antwortete ich, während ich versuchte, die Mäuse wieder einzufangen, was mir lange nicht gelang. Irgendwann eierten sie unter dem Schrank hervor, sodass ich sie packen und in ihren Käfig setzen konnte. Jetzt musste ich den zweien nur noch Namen geben. Feierlich trat ich vor den Käfig und sprach: «Hiermit taufe ich euch auf die Namen Max und Moritz!»
Als es Zeit war, schlafen zu gehen, begannen die Mäuse plötzlich wie wahnsinnig in ihrem Käfig herumzurasen. Immer wieder drehten sie sich im Kreis und machten einen Höllenlärm. «Ihr müsst jetzt auch schlafen», ermahnte ich die beiden, «morgen ist Schule!» Den Mäusen war offenbar egal, was ich sagte, denn sie setzten ihre Runden unbeirrt fort. Ich konnte nicht einschlafen. Schließlich beschloss ich, meine Eltern zu holen. Mein Vater kam ins Kinderzimmer, griff sich den Käfig und stellte ihn kurz entschlossen auf den Balkon. Jetzt war Ruhe.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lief ich gleich nach draußen zu den Mäusen. Max und Moritz lagen wie tot nebeneinander im Käfig. Sie waren doch nicht etwa erfroren?! Es war gar nicht so kalt gewesen! Mir stockte der Atem. Aber ich beruhigte mich schnell wieder: Wenn man genau hinsah, konnte man die kleinen Herzen von Max und Moritz schlagen sehen. Die Tiere schliefen tief, und das taten sie auch noch, als ich wieder aus der Schule kam. Ich versuchte sie zu wecken, aber sie streckten sich nur und liefen einmal im Kreis, bevor sie sich wieder hinlegten.
Gegen Abend wurden sie immer munterer und rasten bald wie irre im Kreis. In seltenen Pausen tranken und fraßen sie oder pinkelten und kackten ihren Käfig voll. Am darauffolgenden Morgen waren sie dann wieder wie tot. Nach einer Woche ödeten mich die beiden Gesellen nur noch an.
Eines Nachmittags besuchte ich einen Freund, der selbst Mäuse hielt – allerdings keine japanischen Tanzmäuse, sondern weiße Mäuse. Davon hatte er eine ganze Menge, im Keller des Hauses standen mehrere Käfige. Bereits in der Schule hatten wir einen tollen Plan ausgeheckt: Wir wollten für zwei der weißen Mäuse kleine Fallschirme aus Taschentüchern basteln und diese dann mit Raketen, die vom letzten Silvesterabend übrig geblieben waren, in die Luft schießen. Die Mini-Fallschirmspringer sollten dann zur Erde zurücksegeln. Wir verknoteten die Tuchenden mit Nylonfäden und knüpften Schlaufen, die wir den beiden umlegen wollten.
Den Weg zur Abschussrampe legten die zwei Mäuse in der Transportschachtel meiner Tanzmäuse zurück. Wir fuhren mit unseren Fahrrädern zu einem abgelegenen Waldstück mit einer großen Lichtung. Die Mäuse ahnten wohl, dass ein aufregendes Abenteuer auf sie wartete. Nachdem wir angekommen waren, sahen wir, dass sie sich diverse Male in der Schachtel erleichtert hatten.
Wir machten eine Rakete startklar und tauften die erste Astronauten-Maus auf den Namen «Armstrong». Als wir ihr den Fallschirm anlegen wollten, wehrte sie sich und versuchte, die Fäden durchzubeißen. Erfolglos. Wir hängten das Tuch mit dem zappelnden Armstrong an die Spitze der Rakete, dann verabschiedeten wir den kleinen Astronauten: «Houston, Mission Control: zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null!» Ich lief zur Rakete und hielt das Feuerzeug unter die Zündschnur.
Es qualmte und zischte. Für kurze Zeit war kaum mehr etwas zu erkennen, dann verzog sich langsam der Rauch. Dort, wo eben noch die Rakete im Boden gesteckt hatte, konnte man eine Maus entdecken, die mühsam einen kleinen Fallschirm hinter sich her zog. Offensichtlich hatte sie sich kurz vor dem Start der Rakete befreien können.
Entschlossen packte ich die zweite Rakete aus, mein Freund fing in der Zwischenzeit Armstrong ein. Der kleine Astronaut zitterte am ganzen Körper. Davon ungerührt drapierten wir den Fallschirm ein weiteres Mal an der Spitze der Rakete. Wir salutierten und fingen an, den Startcountdown herunterzuzählen. Ich zündete die Zündschnur schon bei «fünf» und streichelte Armstrong noch mal zur Beruhigung über den Rücken. Kurz vor «Null» startete die Rakete. Diesmal blieb nichts auf dem Boden zurück. Die Mausmission hatte begonnen – nur ein kleiner Schritt für uns, aber ein großer Schritt für die Mausheit.
Früher als erwartet kam etwas vom Himmel gefallen. Der Fallschirm war offenbar nicht aufgegangen. Armstrong hatte keine weiche Landung, war aber auch nicht besonders tief gefallen, ein paar Meter vielleicht. Er hatte überlebt. Enttäuscht beendeten wir unser Projekt der Eroberung fremder Welten durch Mäuse und fuhren zurück nach Hause. Immerhin, sicher hatte Armstrong den anderen Mäusen einiges zu erzählen.
Als wir wieder im Keller bei den Mäusen waren, fiel mir in den Käfigen weiße Watte auf. Mein Freund erklärte mir, die Mäuse würden sich darin zum Schlafen einrollen. Beim Abschied gab er mir für meine Tanzmäuse etwas davon mit. Ich hoffte, dass Max und Moritz darin besser schlafen könnten. Noch am gleichen Tag säuberte ich ihre Behausung und machte ihnen neben ihrer Streu ein schönes Bett. Am nächsten Morgen lagen die beiden gemütlich eingerollt in der weißen Mäusewatte.
In der Schule erwartete mich eine erschreckende Nachricht: Armstrong hatte die Nacht nicht...