2 Ätiologie und Verlauf
2.1 Ätiologie
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind neurobiologisch bedingte Erkrankungen (Freitag, 2012). Hierbei sind vor allem genetische, aber auch einige biologisch wirksame Umweltfaktoren ursächlich, die das Risiko deutlich erhöhen, an einer ASS zu erkranken. Erziehungsfaktoren, schulische Erfahrungen oder traumatische Ereignisse verursachen ASS nicht. Solche und andere psychosoziale Umweltfaktoren haben allerdings Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung, den Schweregrad der Ausprägung komorbider psychischer Störungen (z. B. Angststörungen), das Ausmaß an herausfordernden Verhaltensweisen (z. B. aggressive Verhaltensweisen) und die Lebensqualität von Personen mit ASS.
2.1.1 Genetische Befunde
Zwillingsstudien zeigen eine deutlich höhere Konkordanz bei monozygoten im Vergleich zu dizygoten Zwillingen. Auch das Risiko, dass ein Geschwisterkind ebenfalls an einer ASS erkrankt, ist mit 5 % deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung (Simonoff, 1998) und erhöht sich weiter, wenn die ASS gleichzeitig mit einem genetischen Syndrom (z. B. fragiles X-Syndrom) einhergeht (Freitag, Staal, Klauck, Duketis & Waltes, 2010). Insgesamt kann aufgrund dieser Befunde von einer Erblichkeit von ca. 70–90 % ausgegangen werden (Freitag et al., 2010; Lichtenstein, Carlström, Råstam, Gillberg & Anckarsäter, 2010). In den letzten Jahren sind zahlreiche Mikrodeletions- und Duplikationssyndrome beschrieben worden, die möglicherweise ASS verursachen (Pinto et al., 2010). Daneben gibt es auch Mutationen in einzelnen Genen, die vor allem bei Personen mit ASS und geistiger Behinderung sowie komorbider Epilepsie vorkommen, wie z. B. Mutationen in den Genen, die Tuberöse Hirnsklerose verursachen (TSC1, TSC2). Oftmals ist allerdings anzunehmen, dass viele, auch in der Allgemeinbevölkerung vorkommende, Risikovarianten vorhanden sind, die jeweils eher eine kleine Risikoerhöhung bewirken, aber zusammen die Erkrankung verursachen können. Durch immer neu entwickelte Techniken, unter die aktuell z. B. die Sequenzierung fällt, werden immer neue genetische Risikovarianten entdeckt, so dass insgesamt dieses Forschungsfeld noch stark im Fluss ist. Es ist aufgrund bisheriger molekulargenetischer Forschungsergebnisse deutlich geworden, dass es sehr verschiedene genetische Ursachen von ASS gibt, die allerdings sehr wahrscheinlich ähnliche biologische Folgen für das sich entwickelnde Gehirn mit sich bringen, und so im Laufe der Entwicklung Auswirkungen auf die soziale Interaktion, Kommunikation und das stereotype Verhalten haben (siehe auch Befunde aus der Bildgebung).
Einen diagnostischen genetischen Test, der vorhersagen könnte, ob eine ASS vorliegt, gibt es bisher nicht. Die Rolle der klinisch-genetischen Untersuchungen ( Kap. 1) bezieht sich auf die Klärung einer möglichen Ursache, wenn die Diagnose einer ASS basierend auf Verhaltenskriterien gestellt wurde.
2.1.2 Prä-, peri- und postnatale Einflussfaktoren
Neben den genetischen Risikofaktoren sind bisher Infektionskrankheiten der Mutter in der Schwangerschaft als ursächlich für ASS belegt. Allen voran ist die Rötelninfektion der Mutter in einer epidemiologischen Längsschnittstudie als klarer Risikofaktor für ASS (und weitere Einschränkungen bei den Kindern, wie z. B. geistige Behinderung sowie Hörstörung) beschrieben worden (Chess, 1971, 1977; Chess, Fernandez & Korn, 1978). In einer Studie, die allerdings noch nicht repliziert wurde, wurden sowohl Virusinfektionen als auch schwere bakterielle Infektionen der Mutter in der Schwangerschaft als Risikofaktoren für die ASS beim Kind beschrieben (Atladóttir et al., 2010). Einige Medikamente erhöhen ebenfalls das Risiko für ASS, wenn sie in der Schwangerschaft eingenommen werden, insbesondere Valproinsäure (Antiepileptikum) sowie Thalidomid (Schmerzmittel, das allerdings in Deutschland nicht mehr zugelassen ist). Möglicherweise stehen auch Antidepressiva, vor allem Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, wenn die Mutter sie während der Schwangerschaft einnimmt, in Zusammenhang mit ASS (Croen, Grether, Yoshida, Odouli & Hendrick, 2011). Allerdings ist diese Studie nicht repliziert worden, so dass die Ergebnisse vorsichtig beurteilt werden müssen. Für viele andere Medikamente ist nicht untersucht, ob sie ein Risiko für das sich entwickelnde Kind darstellen, wenn sie in der Schwangerschaft eingenommen werden. In Deutschland werden insgesamt aber sehr wenige Medikamente während der Schwangerschaft verschrieben, so dass diese auch nur selten eine Ursache für ASS darstellen.
Wichtiger als (indirekte) Ursache ist in Deutschland das mittlerweile deutlich erhöhte Alter der Eltern bei der Geburt ihrer Kinder. Es ist durch eine Meta-Analyse belegt, dass vor allem ältere Väter (≥ 50 Jahre) ein deutlich erhöhtes Risiko haben, Kinder mit ASS zu zeugen als jüngere Väter (≤ 29 Jahre) (Hultmann, Sandin, Levine, Lichtenstein & Reichenberg, 2010). Der genaue biologische Mechanismus ist noch nicht erforscht, es ist aber anzunehmen, dass dies mit genetischen und epigenetischen Veränderungen der Erbinformation durch das höhere Alter der Väter verursacht ist.
Peri-/postpartal sind eine starke Frühgeburtlichkeit mit einer Schwangerschaftsdauer von weniger als 26 Wochen sowie Gehirnblutungen mit der Folge einer infantilen Zerebralparese als weitere Risikofaktoren für ASS zu nennen (Freitag, 2012). Eine infantile Zerebralparese kommt bei ca. 2 % aller Kinder mit Autismus vor (Fombonne, 2003).
Einige Eltern vermuten, dass die ASS bei ihrem Kind durch eine Impfung hervorgerufen worden sein könnte, vermutlich, weil die ersten Verhaltensauffälligkeiten meist im selben Lebensalter festgestellt werden, in dem auch üblicherweise Impfungen stattfinden. Ein Zusammenhang von Impfungen und ASS wurde allerdings durch epidemiologische Studien klar widerlegt (Chen, Landau, Sham & Fombonne, 2004; Smeeth et al., 2004). Daneben wurde auch vermutet, dass Quecksilber, das eine Zeitlang in minimaler Dosis zur Haltbarmachung in Impfstoffen enthalten war, zu ASS führen könnte. Auch dies konnte empirisch widerlegt werden (Hviid, Stellfeld, Wohlfahrt & Melbye, 2003).
2.1.3 Befunde aus Bildgebungsstudien
In einer Überblicksarbeit, die Befunde zahlreicher neuroanatomischer Bildgebungsstudien zusammenfasste, konnten Stanfield et al (2008) zeigen, dass folgende Ergebnisse in vielen Studien beschrieben und repliziert wurden: Das Gesamtvolumen des Großhirns wie auch des Kleinhirns sowie das Volumen des Nucleus caudatus war bei Personen mit ASS vergrößert; das Corpus Callosum (Balken, der die beiden Gehirnhälften verbindet) hingegen dünner und das Amygdalavolumen kleiner als bei gesunden, vergleichbaren Kontrollpersonen. Die Amygdala als Teil des limbischen Systems spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung emotionaler Gesichtsausdrücke und hinsichtlich sozialer Kognitionen (Adolphs & Spezio, 2006; Chritchley et al., 2000) sowie beim Herstellen gemeinsamer Aufmerksamkeit (joint attention) bei Kleinkindern (Mosconi et al., 2009). Eine Meta-Analyse, die mit anderen Methoden durchgeführt wurde, beschreibt noch weitere lokale Veränderungen: Bei Personen mit ASS wurde eine veränderte Struktur des Okzipitallappens (visuelle Wahrnehmung), des medialen Temporallappens (Emotionserkennung) sowie der Basalganglien (Motorik) gefunden (Nickl-Jockschat et al., 2012). Diese Ergebnisse passen auch zu Befunden aus Bildgebungsstudien, die die weiße Substanz anhand der speziellen Methode der Diffusions-Tensor-Bildgebung darstellten (Cauda et al., 2013). Zahlreiche funktionelle Bildgebungsstudien konnten zeigen, dass je nach Aufgabe, die die Probanden zu lösen hatten, vor allem Bereiche des Gehirns, die sich auf soziale Kognitionen beziehen, aber auch motorische Funktionen, die Verarbeitung visueller Stimuli, Sprache und exekutive Funktionen betreffen, bei Personen mit ASS anders aktiviert werden und in reduzierter Art und Weise parallel und synchronisiert arbeiten (Philip et al., 2012). Neben strukturellen und funktionellen Unterschieden in einzelnen Hirnarealen geht man somit auch von einer veränderten Vernetzung der Hirnareale mit reduzierter Konnektivität aus. Dies lässt indirekt darauf schließen, dass die gesamte zentralnervöse Informationsverarbeitung bei ASS anders verläuft als bei gesunden Kontrollpersonen. Insgesamt nimmt man heute an, dass es sich bei ASS um eine Entwicklungsstörung der Ausdifferenzierung von Neuronen handelt, wobei die exakten Mechanismen noch nicht aufgeklärt sind.
Für die Diagnostik und Therapie spielen die Bildgebungsstudien keine Rolle, sie sind vor allem im...