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Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns -

Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit

AutorChristian Meier
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783641038960
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens
Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu »bewältigen«, muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.

Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.
Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?

Christian Meier, geboren 1929 in Stolp/Pommern, ist emeritierter Professor für Alte Geschichte und einer der herausragenden Historiker Deutschlands. Von 1980 bis 1988 war er Vorsitzender des Verbands der Historiker Deutschlands, von 1996 bis 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Für seine wissenschaftliche Arbeit wurde er mit hohen und höchsten Auszeichnungen geehrt; auch erhielt er 2003 den Jakob-Grimm-Preis für deutsche Sprache. Er hat zahlreiche Werke zur Antike veröffentlicht, darunter 'Caesar' (1982), und 'Athen' (1993). Darüber hinaus greifen Publikationen wie 'Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik' (2001) sowie 'Von Athen bis Auschwitz' (2002).

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Leseprobe
"5. Deutschland seit 1945 (S. 34-35)

Überblickt man die Geschichte des öffentlichen Umgangs mit schlimmer Vergangenheit, so ergibt sich - wenn ich nicht wesentliche Komplexe übersehen habe -, daß sich Deutschland seit 1945 in einer welthistorisch völlig neuen Situation befindet. Es war etwas geschehen, was in einem völlig neuen Sinn ungeheuerlich war; über alles hinaus, was die Weltgeschichte bis dahin an Kriegs-Untaten und Greueln gekannt hatte. Das Land war nicht nur militärisch und politisch, sondern auch moralisch zusammengebrochen.

Es konnte nicht beanspruchen, ja war mangels Regierung nicht einmal dazu in der Lage, einen Friedensvertrag auszuhandeln, der es zwar Gebiete, Kontributionen und dergleichen hätte kosten können, es aber mit sich allein gelassen hätte, so daß es das im Krieg von ihm Angerichtete in einer Art Besiegtenstolz hätte beschweigen können.

Die Verfolgung all dessen, was damals vornehmlich als »Kriegsverbrechen« firmierte, war unumgänglich. Und nahezu die gesamte deutsche Bevölkerung stand zunächst einmal im Verdacht, alle Gewalttaten, all das Unrecht des Regimes getragen, gefördert, ja mit ausgeübt zu haben. Keine Rede davon, daß man Hauptschuldige separieren und das Gros hätte in Ruhe lassen können. Später, sehr zögerlich seit Ende der fünfziger Jahre und sehr allmählich zunehmend begann sich die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden tiefer in das öffentliche Bewußtsein einzuprägen.

Die Täter, soweit das noch möglich war, wurden, zunächst ebenfalls zögerlich, vor Gericht gestellt, und die Gesellschaft der Bundesrepublik rang sich mit der Zeit dazu durch, nicht nur anzuerkennen, was geschehen, sondern auch ernsthaft zu fragen, was alles daraus an Konsequenzen zu ziehen war. Nur in einer nicht genau abzugrenzenden Zwischenzeit, konzentriert in den fünfziger Jahren, jedoch schon vorher ansetzend und danach erst allmählich auslaufend geschah das nach großen Katastrophen Normale: Man verdrängte und strebte nach Amnestie, nach Vergessen. Und hatte damit für eine lange Weile auch guten Erfolg.

Die Alliierten waren bereit, das Land, wenn auch verkleinert, bestehen zu lassen und ihm - im Westen - eine demokratische Zukunft zu ermöglichen. Zunächst aber hatten sie es nicht nur besetzt, sondern regierten es auch. Alle Forderungen nach Bestrafung Schuldiger konnten sie selber erfüllen, indem sie vor ihren Militärgerichten Anklage erhoben. Sie waren nicht darauf angewiesen, daß eine deutsche Regierung jemand auslieferte (was freilich nicht ausschloß, daß sich viele durch Flucht entzogen)."
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