2.ALLTAGSSITUATIONEN UND DIE BIOLOGIE DES KÖRPERS: DIE ROLLE DER ZWISCHENMENSCHLICHEN BEZIEHUNG
DIE »SPIEGEL-NERVENZELLEN« DES GIACOMO RIZZOLATTI
Wenn interessante Fakten dargelegt werden und von neuen wissenschaftlichen Beobachtungen berichtet wird (dies wird in den nachfolgenden Kapiteln ausgiebig geschehen), ist das Publikum vor allem dann überzeugt, wenn »objektive« Messungen, möglichst auch mit größerem apparativen Aufwand, durchgeführt wurden (das vorliegende Buch wird die Leserin und den Leser auch in dieser Beziehung nicht enttäuschen). Menschen können ja sozusagen viel erzählen, ein Apparat lügt nicht. Lassen Sie uns diesen Gedanken zum Anlass nehmen, die Rolle zwischenmenschlicher Beziehungen in einer »objektiven« Welt zu bestimmen. Ein interessantes Experiment, das kürzlich von einer – international renommierten – italienischen Forschergruppe durchgeführt wurde, ergab einen ziemlich erstaunlichen Hinweis darauf, dass das Gehirn unsere Apparate-Gläubigkeit nicht teilt.
Giacomo Rizzolatti und seine inzwischen berühmt gewordene Arbeitsgruppe aus Parma sind die Entdecker der so genannten »Spiegel-Nervenzellen« (auch »Spiegel-Neurone« oder »mirror neurons« genannt). Diese können sich das, was wir bei einem anderen Menschen beobachten, so einprägen, dass wir es selbst fühlen, aufgrund dessen aber auch besser nachahmen können (das Erste, was Säuglinge an kommunikativem Verhalten zeigen, ist der Versuch, mütterliche Gesichtsausdrücke und den Klang ihrer Stimme zu »spiegeln«, siehe dazu Kap. 6). Die Wissenschaftler um M. Alessandra Umiltà und Giacomo Rizzolatti entdeckten in einem Versuch mit Affen (die neurobiologisch unsere allernächsten Verwandten sind), dass Spiegel-Nervenzellen des Gehirns nur dann »ansprechen«, wenn eine beobachtete Handlung von einem lebenden Artgenossen höchstpersönlich durchgeführt wird (wenn der gleiche Vorgang mit einem Instrument vollzogen wurde, zeigte sich bei den Spiegel-Nervenzellen keine Reaktion).
ZWISCHENMENSCHLICHE BEZIEHUNGEN UND GESUNDHEIT
Giacomo Rizzolatti entdeckte bei seinen bahnbrechenden Experimenten die neurobiologische Grundlage für die Erkenntnis, dass das menschliche Erleben, auch das Lernen, persönliche Beziehungen braucht, und dass es letztlich nicht zum Erfolg führen wird, wenn bei der Erziehung und beim Spielen von Kindern, beim Unterricht von Schülern, in der Familie, aber auch am Arbeitsplatz direkte Kontakte zwischen Menschen immer mehr reduziert werden. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Stressforschung, auf die wir in diesem Buch im Detail noch vielfach eingehen werden, ist, dass gute zwischenmenschliche Beziehungen nicht nur im Gehirn »abgebildet« und »gespeichert« werden, sondern dass sie die am besten wirksame und völlig nebenwirkungsfreie »Droge« gegen seelischen und körperlichen Stress darstellen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind das Medium, in dem sich nicht nur unser seelisches Erleben bewegt, sondern in dem sich auch unsere körperliche Gesundheit bewahren lässt. Überall da, wo sich Quantität und Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen vermindern, erhöht sich das Krankheitsrisiko.
DAS BEISPIEL EINER PATIENTIN
Eine Patientin berichtete mir bei ihrem ersten Besuch, sie gerate seit kurzem jeweils an Sonntagen am Spätnachmittag ziemlich regelmäßig in einen Zustand von Panik, ohne dass sie dies selbst beeinflussen könne. Ihr Herz beginne so zu rasen, dass sie befürchte, einen Infarkt zu erleiden, sie spüre Unruhe und Angst, auf der Haut träten, vor allem am Hals und im Gesicht, rote Flecken auf und sie habe das Gefühl von Atemnot. Untersuchungen bei ihrem Hausarzt hätten keine Schädigung oder Leistungsbeeinträchtigung eines Organs gezeigt. Herzfunktion, Schilddrüse, Niere und Blutwerte seien ohne Auffälligkeiten gewesen. (Keine Frage, dass die Beschwerden nicht »eingebildet« waren, sondern auf körperlichen Vorgängen beruhten. Diese Vorgänge spielen sich aber nicht da ab, wo die Schulmedizin sie sucht.) Ich bat sie, etwas über den Verlauf ihrer Wochenenden zu berichten, auch über ihre Gedanken und Gefühle an diesen für sie offenbar kritischen Sonntagnachmittagen. Sie erzählte, eigentlich freue sie sich sehr auf ihre Wochenenden, die sie meistens mit ihrem Partner verbringe, wobei sie sich in der Regel gut erhole.
Bei der 48-jährigen, lebenstüchtigen Frau stellte sich dann etwas Interessantes heraus: Die von ihr geschilderten Symptome wurden – was ihr bis dahin gar nicht aufgefallen war – dann ausgelöst, wenn mitten in ihrer entspannten Sonntagnachmittags-Stimmung Gedanken an den darauf folgenden Montagmorgen auftauchten. Ihre Arbeit, die sie seit vielen Jahren ausübe, tue sie gerne. Doch habe sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen etwas verändert. Ihre frühere Vorgesetzte sei durch eine jüngere Chefin abgelöst worden. Zugleich seien einige jüngere Kollegen zum Kollegium hinzugekommen. Sowohl unter den Kollegen als auch in ihrer Beziehung zu ihrer neuen Vorgesetzten habe sich ein eifersüchtiges und feindseliges Klima entwickelt. Das gute Verhältnis zu Kollegen sei für sie jedoch immer sehr wichtig gewesen. Ihr Wunsch nach einem Gespräch sei mit dem Hinweis abgewiesen worden, man empfehle ihr, sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen zu lassen; dies empfinde sie jedoch als einen demütigenden Ratschlag, da sie stolz auf ihren Beruf sei (sie hatte sich, aus schwierigen Verhältnissen stammend, mit sehr viel Fleiß in ihrem Beruf hochgearbeitet). Bei ihrem Mann habe sie diese Angelegenheit bisher nicht zur Sprache gebracht, da dieser »Weinerlichkeit« und »Probleme« nicht leiden könne.
BIOLOGISCHE ALARMREAKTIONEN UND IHRE AUSLÖSER
Alarmsituationen, wie sie diese Patientin schilderte, müssen von außen betrachtet nicht immer dramatisch aussehen (erst, wenn sich der Arzt auf eine Gesprächsbeziehung einlässt, wird der tatsächliche Ernst der Lage sichtbar). Eine Situation wie die geschilderte wird vom betroffenen Menschen mit gutem Grund als schwere Bedrohung erlebt. Oft bleibt das tatsächliche Vorliegen einer Alarmsituation lange Zeit aber sogar dem betroffenen Menschen selbst verborgen, jedenfalls seiner bewussten Wahrnehmung – so lange, bis der Körper, der die Gefahr unbewusst offenbar bereits begriffen hat, intensive körperliche Alarmzeichen aussendet. Der menschliche Körper hat die Fähigkeit, unbewusste Wahrnehmungen aufzunehmen und ohne unser Wissen seelische und biologische Reaktionen in Gang zu setzen; darauf werden wir später noch eingehen.
Alarmreaktionen wie im Falle der Patientin treten in typischen Situationen auf, z. B. wenn Menschen mehr leisten müssen, als ihre Kräfte eigentlich hergeben; oder wenn Konflikte in der Partnerschaft, in der Familie oder am Arbeitsplatz bestehen; wenn Lehrer Angst vor Schülern oder deren Eltern haben und sich von Kollegen beziehungsweise Vorgesetzten im Stich gelassen fühlen; wenn Personen ungewollt arbeitslos wurden; wenn Jugendliche das Vertrauen in ihre Eltern verloren haben; wenn Menschen bis zur Selbstaufgabe einen pflegebedürftigen Angehörigen, z. B. ein behindertes Kind oder einen Alzheimer-Kranken, versorgen; oder wenn Personen unerwartet verlassen oder vom Tod eines nahe stehenden Menschen überrascht wurden. Eine in besonderer Weise von Stresserkrankungen betroffene Gruppe, die wir in den Arztpraxen immer häufiger sehen, sind Menschen, die wegen erlittener Gewalt, Krieg oder Vertreibung ihre Heimat verlassen mussten. Der menschliche Organismus löst nicht nur dann eine biologische Alarmreaktion aus, wenn ihm ein Stein auf den Kopf fällt, wenn also eine »harte« Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens vorliegt. Wie neuere arbeitsmedizinische Untersuchungen zeigen, ist die Gesundheit heute in weit größerem Umfang von den so genannten »soft facts« (also den »weichen« Tatsachen) bedroht, das heißt durch zwischenmenschliche Konflikte, fehlende soziale Unterstützung oder andere Stressfaktoren.
Im Falle der erwähnten Patientin hatte die Zuspitzung einer zwischenmenschlichen Situation eine massive Veränderung des körperlichen Zustands zur Folge. In ihrem Falle ließ sich ein enger zeitlicher und situativer Zusammenhang der körperlichen Symptome mit der äußeren, von ihr als alarmierend erlebten Situation aufzeigen. Oft sind solche Zusammenhänge für die Betroffenen jedoch kaum erkennbar. Wenn seelisch bedingte körperliche Beschwerden nicht psychotherapeutisch behandelt werden, sondern längere Zeit fortbestehen, dann kann der zeitlich enge Zusammenhang zwischen äußerer Belastungssituation und körperlicher Belastungsreaktion immer mehr verloren gehen. Körperliche Beschwerden, die am Anfang einer Erkrankung eng an die zwischenmenschliche Problemsituation »gebunden« waren, können sich im weiteren Verlauf zunehmend »selbstständig« machen, sich im gesamten Alltag des Patienten immer mehr ausbreiten. Wir werden auf die Gründe für dieses Phänomen in einem späteren Abschnitt des Buches – nämlich beim Thema Depression – näher eingehen.
GRÜNDE FÜR STRESS UND AUSWEGE
Nicht nur unser seelisches Empfinden, sondern – für manchen vielleicht überraschend – auch die neurobiologische Ausstattung unseres Gehirns ist, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, auf gute zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen. Wenn im Leben eines Menschen Angst, anhaltende Traurigkeit, Stressgefühle oder andere emotionale Schwierigkeiten auftauchen, dann hat dies in der Regel damit zu tun, dass im Rahmen einer bedeutsamen zwischenmenschlichen Beziehung dieses Menschen wichtige emotionale Anliegen...