Kindheit und Jugend am Weimarer Musenhof
»Eine Prinzessin darf niemals müde sein«
Ob es wohl ein Glücksstern war, jener hell leuchtende Komet, der am 30. September 1811 am mitternächtlichen Himmel strahlte? So hoffte man zumindest in Weimar. An jenem Montag nämlich hatte die zweite Tochter des erbprinzlichen Paares von Sachsen-Weimar das Licht der Welt erblickt, ein gesundes kleines Mädchen, das sechs Tage später auf die Namen Marie Luise Augusta Katharina getauft wurde.
Augustas Mutter war die russische Großfürstin Maria Pawlowna (1786 – 1859), eine Enkelin Katharinas der Großen und nach dem schmeichelnden Urteil Goethes »eine der besten und bedeutendsten Frauen ihrer Zeit«. Von Augustas Vater wußte hingegen niemand etwas Vergleichbares zu sagen. Nachdem Maria Pawlowna 1804 mit Carl Friedrich den Bund fürs Leben geschlossen hatte, dem Sohn des brillanten Großherzogs Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, muß ihr schon bald klargeworden sein, daß sie keinen kongenialen Partner gefunden hatte. Carl Friedrich galt zwar zu Recht als lieber Mensch, war aber offenbar etwas steif, langweilig und nach dem Urteil seiner Zeitgenossen zu schließen eher dumm. Die Schuhe seines vitalen Vaters waren ihm von Anfang an zu groß, denn der Horizont des Erbprinzen war eher bescheiden: Bis zu seinem Tod im Jahr 1853 blieb seine Lektüre im wesentlichen auf Märchen beschränkt. Und doch erfreute er sich, nachdem er 1828 die Herrschaft über das Herzogtum angetreten hatte, als gutmütiger und leutseliger Landesvater bei seinem Volk großer Beliebtheit.
Dazu freilich hatte auch Maria Pawlowna ihren Teil beigetragen. Seitdem sie am 9. November 1804 nach Weimar gekommen war, hatte sich der kleine Hof durch St. Petersburger Pracht, Pomp und Geld nachhaltig verändert. Man hatte also nicht nur unter dem politischen Aspekt eine wichtige Brücke nach Rußland geschlagen, auch in finanzieller Hinsicht erwies sich die Verbindung als warmer Regen, denn nun flossen dem vergleichsweise armen Land beachtliche Mittel zu, die Hof und Staat zugute kamen und die angespannte Finanzlage spürbar erleichterten. Doch die Weimarer hätten die junge Russin ohnehin liebgewonnen. Die damals 18jährige Tochter des Zaren Paul I. (1754 – 1801) hatte sich gleich von Anfang an klug in die neuen und eher bescheidenen Verhältnisse eingefügt und zugleich ihre Umgebung mit Freundlichkeit und jugendlichem Charme verzaubert. Sicherlich entscheidend für ihre Beliebtheit aber war Maria Pawlownas unermüdliche Fürsorge für Kranke und Bedürftige, was ihr in späteren Jahren den Ehrennamen »Engel der Armen« einbrachte.
Augusta, ihre drei Jahre ältere Schwester Marie und der jüngere Bruder, Erbprinz Karl Alexander (* 1818), wuchsen so auf, wie Fürstenkinder damals zumeist aufzuwachsen pflegten. Vater Carl Friedrich hielt sich, was die Kindererziehung betraf, eindeutig im Hintergrund. Doch auch die vielbeschäftigte Maria Pawlowna kümmerte sich um das Wohl des erbprinzlichen Nachwuchses eher im Sinne einer »Richtlinienkompetenz«, deren Umsetzung wiederum in den Händen der Kinderfrau lag, einer mütterlichen Dame namens Amalie Batsch, an der vornehmlich Augusta zeit ihres Lebens mit zärtlicher Liebe gehangen hat – einer Liebe, die, wie sich aus ihren zahlreichen Briefen unschwer erkennen läßt, weitaus inniger war als die zu ihrer eigenen Mutter, mit der sie eine eher förmliche Korrespondenz zu führen pflegte. Und doch hat Augusta ihrem »geliebten Bätschchen«, wie sie ihre Erzieherin bis zu deren Tod im Jahr 1847 bezeichnete, die aufopferungsvolle Arbeit nicht immer ganz leicht gemacht.
Die zweitgeborene Prinzessin war offensichtlich alles andere als ein umgängliches kleines Mädchen, auch wenn dieser Sachverhalt von den Zeitgenossen etwas verharmlosend umschrieben wurde. Frau Batsch charakterisierte ihren etwas schwierigen Schützling als ein »heftiges, energisches, starkes Kind«, und Charlotte von Schiller, Witwe Friedrich von Schillers († 1805), die häufig am Weimarer Hof verkehrte, fiel auf, daß sich die drei Jahre ältere Schwester Marie reichlich viel von der kleineren gefallen lassen müsse. Einen starken Willen hatte Augusta ohne Frage von klein auf, und der »Feuerkopf«, den ihr späterer königlicher Gemahl Wilhelm I. bisweilen reichlich entnervt in ihr zu erblicken glaubte, machte ihrer Umgebung schon von Anfang an erheblich zu schaffen.
Doch auch ein starker Wille hatte sich aristokratischen Zwängen zu beugen. Wie ihre Geschwister, so wurde auch Augusta zu strenger Pflichterfüllung erzogen, einem Leben, in dem kaum Platz war für irgendwelche Launen oder auffallende Schwächen. »Eine Prinzessin darf niemals müde sein«, entgegnete Maria Pawlowna einmal reichlich ungehalten, als ihre jüngere Tochter wieder einmal über das umfangreiche Programm stöhnte, das sie Tag für Tag zu absolvieren hatte. Denn trotz des so oft gerühmten liberalen Weimarer Geistes, von dem später noch die Rede sein wird, wurde am Hof streng auf Repräsentation und Etikette geachtet. Beides ist Augusta im Laufe der Jahre gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen und hat ihr später erheblich geholfen, zahllose Festlichkeiten, öffentliche Auftritte und Defiliercours in hoheitsvoller Haltung tadellos zu überstehen, auch wenn sie das Förmliche dabei wohl allzu sehr betont hat und daher immer etwas steif und unnahbar auf ihre Umgebung wirkte. Das freilich lag vielleicht auch in der Art und Weise, wie ihr das Zeremoniell des »Zirkelhaltens« beigebracht worden war: Wieder und wieder mußte das junge Mädchen vor einer Anzahl aufgereihter leerer Stühle entlanggehen, huldvoll lächeln und »jedem Stuhl« etwas Freundliches und Verbindliches sagen – eine Prozedur, die uns heutzutage entsetzen mag, in Hofkreisen damals aber durchaus üblich war. Schließlich erwartete man von einer Prinzessin, daß sie bei einem feierlichen Empfang Hunderte der sie gespannt erwartenden Gäste einzeln mit liebenswürdiger Sicherheit und formvollendeter Gestik ansprach. Sprachliche Gewandtheit galt dabei als ebenso selbstverständlich wie sicheres Auftreten und eine tadellose Haltung. Augusta hat zu diesem Zweck in späterer Zeit stets einen Holzstab zwischen den Schultern getragen, der sie daran hinderte, eine schlechte Haltung einzunehmen (allerdings auch etliche unglückliche Stürze verursachte).
Auch ansonsten ließ der Stundenplan der jungen Weimarer Prinzessin wenig Zeit zur Muße, denn um die späteren Repräsentationspflichten einmal vollendet erfüllen zu können, war eine entsprechende Bildung unumgänglich. So hatte man eine Zeichenlehrerin und einen Musiklehrer berufen; Französisch, Russisch, Geschichte und Geographie standen ebenso auf dem Stundenplan wie Klavierunterricht und Tanzstunden. Zuletzt durfte die religiöse Unterweisung nicht zu kurz kommen. Augusta wurde in protestantischem Glauben erzogen, im Sinne des von Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) vertretenen Humanitätsideals. Herder sah in der Menschheit die Gesamtheit aller Völker – also das Ergebnis einer vom Schöpfer gewollten wundersamen unendlichen Verschiedenheit. Diese Schöpfung sollte sich nach Herder zu einem kraftvollen Menschentum entwickeln, dem Träger reiner, geläuterter Menschlichkeit, keine Gleichmacherei, sondern eine wahre innere Menschenschöpfung aufgrund persönlicher und ethnischer Besonderheiten. Gewiß ist in dieser Erziehung auch die Grundlage für Augustas spätere Toleranz gegenüber den Katholiken zu suchen und insbesondere ihre lebenslange strikte Ablehnung von Krieg jedweder Art, eine Ablehnung, die auch von Herder vertreten wurde.
Es besteht kein Zweifel, daß die junge Weimarerin ihre umfassende Ausbildung mit Bravour gemeistert hat, gelehrig und frühreif, wie sie war, auch wenn sich der »Feuerkopf« bisweilen gegen den umfangreichen Lehrplan gewehrt haben mag. Doch wie hatte ihre Mutter seinerzeit gesagt? »Eine Prinzessin darf niemals müde sein!«
Würde man Augusta Glauben schenken, so durfte sie in ihrer Kindheit auch niemals so richtig satt werden. Später behauptete sie nämlich ernsthaft, die spärliche Kost (bei der offenbar Schwarzwurzeln eine herausragende Rolle spielten) habe ihrer Gesundheit auf Dauer geschadet und die geringe Widerstandsfähigkeit ihres Körpers mitverschuldet. Diese Unterstellung hätte Maria Pawlowna gewiß strikt zurückgewiesen, und das nicht zu Unrecht, auch wenn die fürstlichen Kinder tatsächlich nur knapp bemessene Kost erhielten. Das aber war damals an allen Höfen so üblich. Den englischen Thronerben wurde zum Abendessen lediglich trockenes, in Milch hineingeschnittenes Brot gereicht. Und genauso wollte es das damalige Erziehungsprinzip. Zeitgenössische Pädagogen wie Joachim Heinrich Campe (1746 – 1818) vertraten schließlich die Ansicht, Kinder sollten von frühster Jugend an an Mäßigung und Enthaltsamkeit gewöhnt werden. »Ich glaube«, schrieb ein uns leider unbekannter Autor, »ihnen eine der höchsten Glückseligkeiten zu schenken, wenn ich sie entbehren lerne. Meine Kinder haben schon vom dritten Jahre an sich die Versagung der Speisen, welche auf dem Tische standen, ohne Thränen gefallen lassen und sich mit der gemeinsten Kost, oft mit hartem Brot, begnügt …« Denn – so die Begründung, »so schnell die kräftig genährten Kinder blühen, so schnell welken sie auch«. Tatsächlich aber hoffte man, durch die asketische Ernährung des Nachwuchses das Erwachen der...