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Ordnung, ihre Erklärung und die Ordnung der Natur
Eine mit Liebe zum Detail gebaute Stadt aus Lego-Bausteinen erscheint uns geordnet, ein großer Haufen solcher Bausteine dagegen ungeordnet. Eine weiße Fläche, auf der schwarze Farbkleckse ohne erkennbare Struktur verteilt sind, erscheint uns ungeordnet; bildet die schwarze Farbe jedoch ein Bild oder einen sprachlichen Text, erkennen wir Ordnung. Diese Fälle sind Beispiele, in denen wir Ordnung intuitiv und direkt wahrnehmen. Oft kann Ordnung zudem auch quantitativ abgeschätzt oder sogar berechnet werden. In solchen Fällen zeigen geordnete Systeme nicht selten eine verblüffend geringe statistische Wahrscheinlichkeit. Abb. 1 zeigt drei Systeme mit unterschiedlichen Systemgrößen, wobei für jedes System beispielhaft jeweils ein ungeordneter und ein geordneter Zustand dargestellt ist. Wir nehmen auch hier sofort intuitiv wahr, welche Zustände die geordneten sind. Ordnung hat in diesem Beispiel das Merkmal, dass sich alle weißen Kreise in der einen Hälfte und alle grauen Kreise in der anderen Hälfte befinden. Fällt das Ordnungskriterium weg, dürfen die grauen und weißen Kreise beliebig und zufällig angeordnet sein.
Eine wichtige Eigenschaft von Ordnung ist, dass geordnete Zustände eine kleine Teilmenge von allen möglichen Zuständen darstellen, die das System haben kann. Es gibt viel mehr Möglichkeiten, irgendeinen beliebigen Zustand zu bekommen, als es Möglichkeiten gibt, einen geordneten Zustand zu bekommen. Und genau das heißt: Geordnete Zustände haben eine geringe statistische Wahrscheinlichkeit; wenn ein Systemzustand zufällig zustande kommt, ist es viel wahrscheinlicher, einen ungeordneten Zustand zu bekommen, als einen geordneten. Die statistische Wahrscheinlichkeit nimmt dabei mit steigender Größe des Systems exponentiell ab; entsprechend nimmt der Ordnungsgrad, den wir am einfachsten als Kehrwert dieser statistischen Wahrscheinlichkeit definieren können, exponentiell zu. So ist beim größten abgebildeten System die Wahrscheinlichkeit, durch Zufall den (hier definierten) geordneten Zustand zu erhalten, mit rund 10–37 verschwindend gering. Dabei ist die Zahl der Bestandteile dieses Systems verglichen mit einer menschlichen Zelle, einem Glas Wasser oder gar dem ganzen Universum wiederum verschwindend gering.
Sehr häufig kann ein System in verschiedener Weise geordnet sein. Wir würden zum Beispiel das in Abb. 1 dargestellte System auch dann als geordnet bezeichnen, wenn sich die grauen Kreise in der oberen Hälfte und die weißen in der unteren Hälfte befinden würden. Weitere Ordnungskonzepte für dieses System kann man sich leicht ausdenken. Die Wahrscheinlichkeit, zufällig irgendein geordnetes System zu erhalten, ist daher meist deutlich größer als die Wahrscheinlichkeit, genau dieses geordnete System zu erhalten. Ordnung, oder zumindest das, was wir intuitiv als Ordnung wahrnehmen, ist aber trotzdem nichts Beliebiges und bleibt im Normalfall etwas sehr Unwahrscheinliches.15
Abb. 1: Drei Systeme mit unterschiedlichen Systemgrößen; links jeweils (beispielhaft) ein ungeordneter, rechts ein geordneter Zustand. Das quantifizierbare Ausmaß der Ordnung („o“) steigt mit der Systemgröße sehr stark an. Die Tabelle zeigt diesen Ordnungsgrad in Abhängigkeit von a und b an, welche die Systemkomplexität repräsentieren. a ist die Anzahl aller Komponenten, also hier der grauen und weißen Kreise zusammen, b ist die Anzahl der weißen Kreise bzw. die Anzahl der grauen Kreise, also jeweils die Hälfte von a. Dieser Ordnungsgrad ist der Kehrwert der Wahrscheinlichkeit, zufällig einen entsprechenden geordneten Zustand zu erhalten. Diese Wahrscheinlichkeit ist die Anzahl aller Zustände, die das Ordnungsmerkmal tragen, geteilt durch die Anzahl aller möglichen Zustände des Systems.
Was ist zum Beispiel, wenn man die in Abb. 1 links befindlichen (also eigentlich als ungeordnet aufgefassten) Zustände einfach als „geordnet“ definieren würde? Eine solche Definition erschiene uns willkürlich und unbegründet. Der Grund dafür ist, dass wir an Zuständen, die wir als geordnet bezeichnen, ein besonderes Merkmal erwarten. Ein solches Merkmal sollten wir mit treffenden, verhältnismäßig einfachen Begriffen bezeichnen können. Dies können besondere mathematische Regeln sein, (bei Texten) semiotische Merkmale, weiterhin Zwecke bzw. technische Funktionen (wie bei Maschinen oder, damit verwandt, biologischen Systemen). Nachrichtentechnisch würde man Ordnung mit dem Begriff „Signal“ ausdrücken, in Abgrenzung zum „Rauschen“, das ungeordnete Zustände charakterisiert. Wie erwähnt erkennen wir Menschen Ordnung meist intuitiv, wobei hier (wie generell bei allen menschlichen Erkenntnissen) auch Irrtümer möglich sind.16 In den meisten Fällen ist unsere Intuition aber zuverlässig, z. B. wo wir im Alltag zufällig zustande gekommene Strukturen (wie durch Umkippen eines Tintenfasses) von gezielt erzeugten Strukturen (z. B. ein Text oder ein Gemälde) treffsicher unterscheiden. Oder ein aufgeräumtes von einem unaufgeräumten Zimmer.
Im Zweifelsfall muss ein diskutiertes Ordnungsmerkmal genauer analysiert werden.17 Die physikalische Entropie18, die wir im siebten Kapitel behandeln werden, beruht zum Beispiel auf einem recht robusten und bewährten Ordnungsbegriff. Sie betrifft einen gewichtigen Aspekt der lebensfreundlichen Ordnung unserer Welt. Aber auch die äußerst funktionale, feinabgestimmte Architektur der Physik und Chemie stellt Ordnung in einem, wie wir meinen, hinreichend klaren Sinne dar.
Wir können Ordnung also wie folgt definieren: Ein komplexes System weist ein besonderes, wohldefiniertes Merkmal auf und dieses Merkmal kann nur durch eine statistisch unwahrscheinliche Anordnung seiner Bestandteile bzw. eine statistisch unwahrscheinliche Einstellung seiner Parameter realisiert werden. „Komplex“ bedeutet, dass das System aus einer Vielzahl von Einzelbestandteilen oder Parametern besteht, die (ganz oder weitgehend) unabhängig voneinander in unterschiedlicher Weise angeordnet oder eingestellt sein können.19 Kurz: Ordnung ist vorhanden, wenn ein System ein besonderes und statistisch unwahrscheinliches Merkmal besitzt.
Eine solche statistische Unwahrscheinlichkeit eines geordneten Systems ist nicht in jedem Fall gleichzusetzen mit seiner tatsächlichen Unwahrscheinlichkeit, da unsere Welt ja voll von geordneten Systemen ist und sie selbst ein solches ist. Statistisch sehr unwahrscheinliche Anordnungen können also in Wirklichkeit recht häufig und wahrscheinlich sein. Das ist kein Widerspruch. Denn die statistische Wahrscheinlichkeit eines geordneten Zustandes entspricht nur dann einer tatsächlichen Wahrscheinlichkeit, wenn diese Ordnung zufällig zustande gekommen sein sollte, also wenn es keinen Faktor gibt, der geordnete Zustände auswählt oder (stark) begünstigt. Die Unwahrscheinlichkeit verschwindet daher (oder wird signifikant verringert), wenn statt des Zufalls eine systematische Ursache für einen statistisch sehr unwahrscheinlichen Sachverhalt existiert. Voraussetzung ist natürlich, dass diese Ursache nicht wiederum selbst statistisch sehr unwahrscheinlich ist.
Zum Beispiel ist es statistisch extrem unwahrscheinlich, dass eine Person mehrfach hintereinander sechs Richtige im Lotto hat. Eine systematische Ursache wäre ein geschickter Betrug, der hier sehr viel wahrscheinlicher ist als ein bloßer Zufall. Der Betrüger (oder ein Komplize) wählt sozusagen aktiv spezielle, statistisch sehr unwahrscheinliche Ereignisse aus. Ein anderes Beispiel ist ein in den Sand geschriebener Text „wir waren da“. Systematisch kann ein solcher Text wohl nur so erklärt werden, dass irgendein sprachbegabtes Wesen diesen Text in den Sand geschrieben hat.20
Die statistische Unwahrscheinlichkeit wird dann zu einer tatsächlichen Unwahrscheinlichkeit, falls es solche systematischen Ursachen, die die Ordnungsmerkmale auswählen oder hinreichend stark begünstigen würden, nicht geben sollte. Das wäre so, wenn eine Person wirklich zufällig mehrfach hintereinander sechs Richtige im Lotto gehabt hätte oder der genannte Text durch ein Zusammenspiel von Wind und Wetter zustande gekommen sein sollte. Wir würden und sollten so etwas aber nie annehmen.21 Es ist ein Grundprinzip der Vernunft, Erklärungen stark zu bevorzugen, die reale, sehr unwahrscheinliche Zufälle ausschließen. Entsprechend verlangt die Vernunft angesichts geordneter Zustände systematische Erklärungen, also Angaben systematischer Ursachen; das sind Ursachen, die die zu erklärende Ordnung in einer nachvollziehbaren Weise auswählen. Eine systematische Erklärung liefert entsprechend einen klaren Grund, warum im System gerade das vorliegende spezifische Ordnungsmerkmal vorhanden ist.
Es ist ein zentrales Ordnungsmerkmal unseres Universums, dass biologisches Leben und sogar intelligente Lebewesen in ihm möglich sind. (Dieses Merkmal können wir, etwas plakativ, „Lebensfreundlichkeit“ nennen.) Dieses Ordnungsmerkmal ist mit einem weiteren Ordnungsmerkmal kombiniert, nämlich der mathematisch elegant formulierbaren Grundstruktur des Universums sowie der Verstehbarkeit dieser Struktur für einigermaßen intelligente Wesen, wie wir es sind. Diese Merkmale stellen eine komplexe und in vielerlei Hinsicht hochgradig spezifische, maßgeschneiderte Struktur dar. Ihre wichtigsten Aspekte sind:
1. Naturgesetze gelten immer...