Kapitel 1
Wie alles begann
Die Geschichte beginnt am 31. August 1994. Es waren Sommerferien in Bayern – und ich als Lehrerin hatte frei. An diesem Mittwochabend saß ich noch spätabends vor dem Fernseher und schaltete durch die Programme. Ich war auf der Suche nach leichter Kost. Es war 23 Uhr und auf RTL lief gerade stern TV mit Günther Jauch.
Die Kamera schwenkte über eine kleine Gesprächsrunde, neben dem Moderator saß ein Mann mit ernster Mine und neben ihm ein kleiner afrikanischer Junge namens Issaka. Sein Gesicht schien auf einer Gesichtshälfte dunkler als auf der anderen Seite. Was war das? Ich hörte, wie Günther Jauchs Gesprächspartner, ein Mann namens Yvan Muriset, über Afrika erzählte. Er berichtete von einer Reise durch Niger und davon, dass er in der Wüste Kinder vor die Kamera bekam, wie er sie so noch nirgendwo gesehen hatte. Muriset sagte, die Kinder litten an einer Krankheit, die Noma hieß.
Noma ist eine bakterielle Erkrankung, die fast ausschließlich unter- und mangelernährte Kinder in Entwicklungsländern betrifft. Die krank machenden Keime beginnen meist an der Wangenschleimhaut mit der Bildung von Geschwüren und zerstören das betroffene Gewebe. Von dort aus befällt Noma auch tiefere Gewebsschichten, wie Muskulatur und Knochen. Unbehandelt breitet sich die Infektion über das gesamte Gesicht aus. Das kann zu einer Beeinträchtigung vieler wichtiger Körperfunktionen wie Essen, Sprechen, Riechen, Sehen und Hören führen. Die erfolgreichste Bekämpfung der Krankheit wäre eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Entwicklungsländern, da sich Noma bei Nahrungsmangel und schlechter Hygiene ausbreiten kann.
Jetzt wurden Bilder eingeblendet, grausame Bilder. Günther Jauch erklärte, was die Zuschauer nun sahen. Der kleine Issaka sollte auch so ein entstelltes Gesicht gehabt haben! Kaum vorstellbar, denn der kleine Bub saß ruhig und anscheinend unversehrt auf dem großen roten Sofa. Mit eindringlichen Worten wies der Moderator darauf hin, dass die kommenden Aufnahmen nichts für schwache Nerven seien. Wie recht er hatte. Ich schnappte nach Luft – und schaltete um. Nein, das wollte ich nicht sehen. Nachher könnte ich nicht mehr schlafen, dachte ich.
Es dauerte jedoch nur einen Moment, da hatte die Neugier gesiegt und ich schaltete wieder zurück auf RTL. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen schaute ich den Bericht an, der von der Arbeit der Schweizer Stiftung Sentinelles handelte. Jede Information saugte ich auf, notierte gedankenverloren den Namen des Schweizer Studiogastes Yvan Muriset auf den Rand einer Tageszeitung. Die Adresse, unter der man weitere Informationen anfordern konnte, schrieb ich direkt daneben.
In dieser Nacht schlief ich tatsächlich schlecht. Aber nicht, weil mich die schockierenden Bilder bis in die Träume verfolgten. Es war vielmehr eine Idee, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatte und über die ich nicht mehr aufhören konnte nachzudenken. Es war der Wunsch, diesen Kindern zu helfen.
Runder Tisch bei Familie Winkler-Stumpf
Am Morgen nach der Sendung brannte ich bereits darauf, meiner Familie von meinen Gedanken und Überlegungen zu berichten. Mein Mann Paul und unsere Söhne Vasco (damals 17) und Mathis (damals 20) saßen bereits am Tisch, als ich zum Frühstück kam. Zwischen Kaffee und Brötchen sprudelte es aus mir heraus. Haarklein erzählte ich alles, was ich am Abend zuvor erfahren hatte, und schilderte die Bilder bis ins kleinste, grausame Detail.
Um mich herum wurde es still. Schließlich brach Paul das Schweigen: »Und was genau willst du dagegen machen?«, fragte er.
Auf diese Frage hatte ich gewartet: »Helfen natürlich! Ich werde eine Aktion der Hilfe an den Schulen in Regensburg initiieren. Und dann holen wir so ein Kind nach Regensburg und lassen es hier operieren.«
»Moment, Moment«, stoppte Paul meinen Redefluss. »Hast du dir das auch genau überlegt? Und wo willst du überhaupt dieses Kind unterbringen?«
»Na ja, also zunächst ist es ja nur so eine Idee. Aber bis die Schule in zwei Wochen beginnt, werde ich ein Konzept ausgearbeitet haben …« Ich konnte kaum still sitzen, so sehr brannte ich darauf, alles genau zu planen. »Und wegen der Unterbringung: Das Kind könnte ja die paar Wochen bei uns wohnen.«
Jetzt meldete sich Vasco zu Wort: »Boah, ich glaub’, mir wird schlecht. Wenn so ein Kind zu uns kommt, dann kriege ich keinen Bissen mehr runter …«
Mathis lachte: »Ich finde die Idee gut.«
Paul nickte: »Ja, ich bin auch dabei.« Und an Vasco gerichtet: »Es wird schon nicht so schlimm werden. Wahrscheinlich hat deine Mutter ja nur übertrieben in ihren Schilderungen.«
Insgeheim hoffte ich, dass Paul recht hatte. Die Bilder vom Vorabend hatten sich zwar tief in meine Erinnerung gebrannt, doch ich sagte mir, dass die Fernsehleute vielleicht nur besonders aufrüttelnde Bilder gezeigt hätten, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu binden.
Nun waren im Jahr 1994 Informationen bei Weitem noch nicht so leicht verfügbar wie heute. Es gab kein Google und auch E-Mails waren noch nicht weit verbreitet – aber ich hatte eine Schreibmaschine und die Adresse von stern TV. Dorthin schrieb ich meinen ersten Brief. Ich bat um die Kontaktdaten dieser Schweizer Stiftung Sentinelles.
»Eine Aktion der Hilfe«
Die 14 Tage bis Schulbeginn verbrachte ich mit Recherchearbeit. Bald wusste ich, wo der Staat Niger liegt und dass es sich dabei um eines der ärmsten Länder Afrikas handelt. Ich schlug im Lexikon nach, um mehr zu erfahren: Die Republik liegt in Westafrika, ist 1 267 000 Quadratkilometer groß und besteht, von einem schmalen Uferstreifen entlang des Flusses Niger abgesehen, vor allem aus Wüste. Dementsprechend sind die Ernten dürftig und die sporadischen Regenfälle genügen kaum, um ausreichende Erträge zu garantieren. In der Folge wird vor allem die Landbevölkerung regelmäßig von Dürrekatastrophen und Hungersnöten heimgesucht. Niger ist ein Binnenland und wird geografisch in Sahara, Sahel- und Sudanzone unterteilt. Gemeinsame Grenzen bestehen im Westen zu Burkina Faso und Mali, nach Norden mit Algerien und Libyen, nach Osten mit Tschad sowie nach Süden mit Nigeria und Benin.
Über Noma, diese grauenhafte Krankheit, die Günther Jauch in seiner Sendung gezeigt hatte, fand ich jedoch nichts. Ich wusste nur das, was ich in der Sendung aufgeschnappt hatte. So schrieb ich alles, woran ich mich aus dem Fernsehbericht erinnerte, auf und entwickelte mit einem fast unheimlichen Tatendrang das Konzept für eine Hilfsaktion aller Regensburger Schulen. Meine Planung stand unter der Prämisse »Wertevermittlung für Schüler durch das praktische Engagement für hilfsbedürftige Kinder«. Ich brannte für die Idee, übergreifend für alle Schulformen ein didaktisches Konzept zu entwickeln, um gemeinsam diesen armen Kindern zu helfen.
Die Antwort von stern TV kam pünktlich zum Schulbeginn. Allerdings waren die Informationen der Redaktion nur dürftig und wenig erhellend. Im Prinzip nicht viel mehr als das, was ich mir ohnehin schon notiert hatte. Der Sender bot mir allerdings an, meine Anfrage weiterzuleiten Ich setzte mich also umgehend wieder an meinen Schreibtisch und schrieb einen weiteren Brief.
Schon wenig später bekam ich Post von Sentinelles aus Lausanne (Schweiz). Die enthaltenen Informationen waren genau die Mosaiksteinchen, die ich brauchte, um meinem Konzept für den Schuleinsatz den letzten Schliff zu geben. Zudem waren auch Fotos dabei, die Kinder mit schrecklichen Entstellungen im Gesicht zeigten.
Durch eine Broschüre erfuhr ich mehr über Sentinelles. Die Stiftung wurde 1980 von Edmond Kaiser gegründet, der auch schon die Organisation terres des hommes ins Leben gerufen hatte und diese über 20 Jahre lang leitete. Sentinelles bedeutet im Französischen »Wächter« oder »Wachtposten«. Die Stiftung ist in den verschiedensten Ländern Afrikas, in Kolumbien und der Schweiz aktiv und kümmert sich unter anderem um an Noma erkrankte Kinder in Niger. Zudem sucht sie nach Möglichkeiten, diese kleinen Patienten in Europa operieren zu lassen.
Jetzt hatte ich alles beieinander, um meine Lehrerkollegen zu überzeugen. Da ich meine Kollegen häufiger einmal mit neuen Ideen überraschte, wusste ich schon vorher, was sie sagen würden: »Ach, Ute, du wieder mit deinen Ideen.« Ja, vielleicht war der Gedanke noch nicht ganz ausgereift, aber noch nie zuvor hatte ich für etwas so sehr gebrannt.
»Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen«
In seinem Buch Der seidene Schuh hatte der Autor Paul Claudel seinem Werk ein Zitat vorangestellt: »Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.« Es soll sich dabei um ein portugiesisches Sprichwort handeln.
Auf besondere Weise hat mich dieses Zitat mein Leben lang begleitet. Wenn ich schreibe, dass ich noch nie zuvor für etwas so sehr gebrannt habe, dann stimmt das natürlich nicht ganz. Aber es war lange her, sehr lange. Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war ich Gott sehr nah. Es war die Zeit, als ich im Kloster lebte.
Dort hingekommen bin ich nicht allein aus tiefem Glauben, sondern weil eine Schule, die von Franziskanerinnen geleitet wurde, in meiner Jugend für mich der einzige Weg zu sein schien, meine Ziele zu erreichen. Ich wollte, was in den 1950er-Jahren keineswegs selbstverständlich war, einen höheren Schulabschluss erreichen, am besten das Abitur machen und anschließend studieren. Ich lebte deshalb in einer Internatsschule für Mädchen, weit...