Prolog
Es ist Winter an der Mosel. Die kalten, feuchten Luftmassen schieben sich träge von Westen her über die tief in den Schiefer gegrabenen Schlingen des Flusses. In den Weinbergen hängen Wassertropfen an den nackten Reben.
Es ist noch dunkel um unser Haus, aber ich bin schon wach. Ich liege mit offenen Augen im Bett und bade in den letzten Momenten der Stille, bevor der Arbeitstag beginnt.
Ich stelle mir meine Fässer vor. In Gedanken stehe ich in meinem kühlen Keller und zapfe mir eine Probe des frisch vergorenen neuen Jahrgangs in mein poliertes Weinglas. Dann von einem anderen Fass eine zweite Probe in ein anderes Glas und ein drittes Glas von einem weiteren Fass. Niemals mehr als drei.
Ich weiß, wie meine Weine schmecken. Ich weiß es von jedem einzelnen Fass. Im Geiste habe ich die Geschmäcker präsent. Ich kenne die Weine schon lange, alle paar Tage verkoste ich sie – zum ersten Mal im Herbst, wenn sie noch süßer Most sind und ich sie von der Traubenpresse in die blitzblanken Fässer pumpe. Seitdem begleite ich sie auf ihrem Weg, während sie nach und nach zu Persönlichkeiten heranreifen. Und an jedem Tag lerne ich sie ein wenig besser kennen.
Die Moste, die wir im Oktober und November aus unseren Trauben gekeltert haben, haben in den letzten Monaten die alkoholische Gärung durchlaufen. Jetzt schwebt die Gärhefe als beigefarbener Schleier in den jungen Weinen. Durch die Erfahrung vieler Jahrgänge kann ich mir jedoch gut vorstellen, wie sie nach dem Klären schmecken werden. Ich habe sozusagen einen sensorischen Filter auf der Zunge und kann mir während des Kostens die Hefe wegdenken.
Trotzdem überraschen mich meine Weine nach dem Filtrieren jedes Jahr aufs Neue. Ich ahne zwar, wie sie werden, genau wissen tu ich es aber nie. Und so bleibt die Spannung: Welcher von ihnen wird der Eine in diesem Jahr, der mich packen wird? Der mir durch meine Geschmackssinne seine Geschichte erzählt und mir zeigt, was ich mit meiner Arbeit bewirkt habe? Und welche werden es nicht schaffen, dieses besonders intensive Erleben auszulösen, weil ihre Komplexität, ihre Finesse zwar im Rahmen meiner Erwartungen liegen, mich aber nicht überraschen?
Heute werden diese Fragen für diese drei Fässer beantwortet. Denn heute ist der Tag. Der Tag der Entscheidung.
Ich stehe auf, ziehe meine Arbeitskleidung an, gehe in die Küche und trinke einen Kaffee. Ich putze mir nicht die Zähne, sondern spüle mir lediglich den Mund mit Wasser aus. Dann nehme ich eine Flasche Mineralwasser in die Hand und gehe hinunter in den Keller.
Ich knipse das Licht an. Stille.
Es riecht feucht. Die kühle Luft ruht auf meinen Arbeitsgerätschaften und umhüllt die Fässer, Schläuche, Leitern, Wannen, Pumpen. Die hintere Wand ist in den Berg hineingebaut. Sie ist die Klimaanlage des Weinkellers. Sie ist immer feucht. Im Sommer hält sie die Temperatur bei vierzehn Grad, im Winter bei acht bis zehn Grad.
Im Keller riecht es nach Wein – klar, nach was auch sonst? Es riecht fruchtig, gärig, hefig. Die Jahrgänge haben den Geruch verstärkt, einer nach dem anderen, so wie die Jahresringe einen Baumstamm verstärken. Das ist der Grund, warum ich die Weine nicht im Keller probieren werde. Denn der Geruch hier ist wie ein Wahrnehmungsfilter: Zwischen den Fässern schmecken alle Weine gut und vertraut. Damit ich meine Sinne nicht in diese Vertrautheit einlulle, muss ich den Keller zum Probieren verlassen.
Ich stehe vor meinen kühlen, glatten, sauberen Stahlfässern, genau so, wie ich es mir noch im Bett liegend vorgestellt habe. Ja, ich bin bereit für die Entscheidung. Ich hole mir drei Gläser und gehe zum ersten der drei Fässer, die ich ausgewählt habe. Die Weine in diesen Fässern stammen aus drei unterschiedlichen Weinbergsparzellen, die zu meinen liebsten gehören.
An jedem meiner Fässer gibt es ein kleines Zapfventil. Den dazu passenden Schlüssel habe ich in der Hand. Ich öffne den Probierhahn und zapfe eine Probe ins erste Glas. Dabei halte ich es leicht schräg, so dass der Wein aus dem Röhrchen sanft hineinläuft – bloß nicht zu turbulent, damit durch den Sturz ins Glas nicht zu viel von den Aromen ausgast. Ich fülle das Glas nur zur Hälfte, um noch genug Raum für die Bukettentfaltung zu lassen. Dann gehe ich zum zweiten der auserwählten Fässer. Danach zum dritten.
Mit drei halbvollen Gläsern in der Hand schreite ich zum hölzernen Kellertor. Dort steht ein kleiner rollbarer Tisch, den ich nun mit der anderen, freien Hand hinter mir her ziehe, vor das Haus ins Freie. Ich schließe die Tür und stelle die drei Gläser auf das Tischchen.
Ich richte mich auf und atme tief ein. Die Luft ist kalt, feucht, frisch, sauber. Es dämmert, der Himmel ist verhangen. Vor meinem Winzerhaus ist ein kleiner gepflasterter Platz. Hier werden die Kisten abgeladen, hier manövriert der kleine Gabelstapler, hier belade ich meinen Lieferwagen, hier begrüße ich meine Gäste und Kunden, hier werden Hände geschüttelt, und hier wird auch mal getratscht, wenn ein Kollege vorbeikommt. Und hier stehe ich jetzt mit meinen drei Gläsern.
Jenseits der Straße vor unserem Haus geht es den Hang hinunter zum Moselufer – ich kann den trägen, dunklen Fluss von hier aus sehen. Auf der anderen Moselseite liegen meine »Wingerte« – so werden die mit Reben bestockten Einzelparzellen hier genannt. Ich genieße es, die meisten meiner Lagen von meinem Haus aus im Blick zu haben – auch wenn es sich zu dieser Jahreszeit um einen eher tristen Anblick handelt, denn der Weinberg ist jetzt grau, braun und blattlos, kein Vergleich zu seiner üppigen Pracht, die er im Frühling, Sommer und Herbst darstellt.
Einige Winzerkollegen haben schon den Rebschnitt in ihren Wingerten abgeschlossen und das Altholz entfernt. Ich sehe zwei von ihnen, die gerade mit dem Traktor zum Weinberg unterwegs sind. Meine eigenen Rebschnittarbeiten sind erst zur Hälfte fertig. Die nächsten Tage mit schönem Wetter werde ich nutzen, um damit fortzufahren.
Aber nicht heute. Heute brauchen mich die Weine. Ich wende mich ihnen zu.
Ausgerechnet jetzt muss ich kurz an einen Hollywoodstreifen mit Bruce Willis denken, in dem er selbst in ärgster Bedrängnis mit spielerischer Leichtigkeit seine Entscheidungen trifft. Genau wie er werde ich heute einfach tun, was richtig ist – weil ich alleine weiß, was richtig ist. Es gibt keinen Zweifel und kein langes Überlegen. So etwas wie das hier ist keine Sache des Verstands, weder bei Bruce Willis im Kugelhagel noch bei mir hier unten. Der Moselwinzer ist der Held in diesem Kellerthriller. Ich muss grinsen, schnäuze mir die Nase und lege los.
Ein Glas nach dem anderen nehme ich nun in die Hand und rieche den Wein ab. Dann stelle ich jedes Glas wieder hin und lasse die Emotionen in mir hochkommen. Welcher von den Weinen weckt in mir die positivsten Gefühle? Welcher von ihnen riecht am interessantesten? Welcher macht mich am neugierigsten auf den Geschmack?
Je nach Jahrgang tut sich ein Hang besonders hervor – eine kleine Parzelle, welche in dem jeweiligen Jahr passend zum Wetter die optimalen Voraussetzungen hatte. Hinzu kommt, dass die Gärungen allesamt individuelle, zum Teil unergründliche Prozesse darstellen. In jedem Fass läuft der Gärvorgang ein klein wenig anders ab.
Heute möchte ich diesen einen, besonderen, charakterstarken Wein erkennen, den ich in diesem Jahr als Terroir-Wein abfüllen kann – das ist derjenige Wein, der für mich besonders gut seine Lage, seinen Boden und meine Arbeit widerspiegelt. Er ist mein Charakterwein.
Und die anderen? Die »degradiere« ich zum »normalen« Steillagenriesling. Das klingt nach einem härteren Urteil, als es gemeint ist, denn alle Weine wurden mit dem gleichen handarbeitlichen Aufwand im Steilhang erzeugt, und bei vielen Jahrgängen lässt selbst diese Basisqualität wenig Wünsche offen.
Ich schließe die Augen und probiere das erste Glas. Ein Schluck fließt mir in den Mund. Über die Zunge schlürfe ich langsam ein wenig Luft dazu. Die Aromen verteilen sich im gesamten Mundraum, im Rachen, in der Nase. Ich versuche, den Wein mit möglichst allen Sinneszellen wahrzunehmen. Ein paar Sekunden lasse ich ihn reglos im Mund, dann kaue ich ihn ein wenig. Schließlich spucke ich ihn aus und schlucke nur einen kleinen Rest. Ich spüre dem Nachhall hinterher und höre zu, was der Wein mir beim Verlassen der Zunge erzählt. Ich denke nichts. Ich schmecke nur.
Ein Glas nach dem anderen verkoste ich auf diese Weise. Dazwischen spüle ich den Mund mit Wasser aus. Jeden Schluck Wein spucke ich nach dem Probieren auf den Boden, sonst wäre ich bereits bei Sonnenaufgang betrunken. Über die Schleimhaut nehme ich ohnehin ein wenig Alkohol auf. Das hat eine beschwingende Wirkung und schärft meine Wahrnehmung.
Denn um die geht es. Wie gut passt der Geschmack zum Geruch? Oder zeigt der Geschmack eine ganz andere Facette? Schmeckt der Wein noch verschlossen, hat aber Potential? Verrät er der Nase noch nicht, was er bringen wird? Ist der Geschmack vielversprechender, komplexer, als die Nase es vermuten lässt? Oder ist es umgekehrt so, dass der Wein mit seiner frühen Trinkreife gegenüber der Nase angibt, später seine Versprechen gegenüber der Zunge jedoch nicht halten wird? Ich schmecke in die Zukunft des Weines, erforsche das, was in ihm steckt.
Jeder der drei Kandidaten beeinflusst den Wein danach, die Reihenfolge der Proben ist daher keinesfalls beliebig. Also probiere ich die Gläser in umgekehrter Reihenfolge noch mal. Und dann noch ein drittes Mal durcheinander. Es ist wie eine Meditation, die einem festen...