Vorwort
In Erinnerung bleibt, was seelisch und geistig berührt. Emotionen geben dem Gedächtnisgerüst Stabilität.
Freilich griff Maria Marc bei ihrer Wiedergabe der Geschehnisse auch auf Korrespondenzen zurück.
Wie einen geheimen Besitz hütete sie ihr biographisches Wissen, womit sie sich zur Herrscherin vor allem über das Intime machte. Und gab sie, hier und da, Fakten preis, dann wohldosiert und fein sortiert und beschönigend makellos. Kein Schatten sollte auf den Gefährten und zunehmend berühmten Künstler fallen. Sie hat Franz Marc um nahezu vier Dezennien überlebt. Lediglich ein einziges Jahrzehnt der Verbundenheit war dem Paar vergönnt.
Zehn – bei flüchtiger Lektüre vermeintlich weitgehend identische, in Wirklichkeit voneinander abweichende – Niederschriften ihrer Memoiren befanden sich, nach heutigem Kenntnisstand, im Nachlass der Witwe. Nur in Ausschnitten fanden sie bisher den Weg in die Öffentlichkeit. Sechs der unterschiedlich umfangreichen Dokumente werden im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg aufbewahrt, vier befinden sich in Privatbesitz. Sie enthalten kaum Hinweise auf das jeweilige Entstehungsjahr.
Leicht machte sich Maria Marc die Erinnerungsarbeit, begonnen um 1930, gewiss nicht. Es scheint, als wäre sie einem bestimmten Schema gefolgt. Am Anfang standen zumeist recht ausführliche Notizen. Dem Schriftbild nach zügig, aus dem Bauch heraus sozusagen, zu Papier gebracht, noch frei von einschränkenden Korrekturen. Die jeweilige Revision einer Erstfassung ging einher mit Umformulierungen, Weglassungen beziehungsweise Hinzufügungen. Das Mittel der Selbstzensur kam auch bei eventuellen weiteren Durchgängen zum Einsatz. Den bereits bereinigten Text nochmals und nochmals prüfend, nahm Maria Marc dann wiederum Eingriffe vor. Lag das vermeintlich fertige Endprodukt vor ihr, beschlich sie offenbar ein Gefühl noch immer bestehender Unzulänglichkeit. Ergo begann die ganze Prozedur von Neuem. Dennoch werden uns Fragmente geboten, niemals das Ganze. Die Kriterien der Auswahl änderten sich, wie sich die Schwerpunkte und Sichtweisen der Autorin änderten. Doch gerade aus dem, was von ihr als bedeutsam eingestuft wurde und was als unwesentlich, lässt sich eine große Aussagekraft gewinnen.
Einmal, im Jahr 1945, muss sie beschlossen haben, weitgehend bei der ungeschminkten Wahrheit zu bleiben. Und sie mag dabei, selbst kinderlos, die ihr noch verbliebenen engsten Familienangehörigen im Blick gehabt haben. Denn der Nichte Erika und deren Kindern – das heißt Tochter, Enkelin und Enkel ihres Bruders Wilhelm –, so vermutlich Maria Marcs Überlegung, musste, ja sollte am Ende nichts von Wichtigkeit verschwiegen werden. Die Faltmappe aus grünem Karton birgt ein zweiundsiebzigseitiges Manuskript. Auf der Innenseite des Deckels steht geschrieben: »Von diesen Aufzeichnungen darf nie eine Veröffentlichung gemacht werden. Sie sind lediglich privates Tatsachenmaterial. Maria Marc, Ried b. Benediktbeuern, 20. Juni 1945«. (Zu ihren Lebzeiten hielt sie allerdings nahezu all ihre Erinnerungen im Verborgenen.) Dieses Dokument konnte von mir, der Herausgeberin dieses Buches, gemeinsam mit zwei ähnlich wirklichkeitsnahen Schriftstücken Maria Marcs, im Rahmen einer Autographenauktion ersteigert werden. Auf die Frage, wie das genannte Konvolut, unter Umgehung der testamentarisch bestimmten Erben, in den Handel kam, gibt es derzeit keine Antwort.
Maria Marc rückt in ihrer Chronik den Mann und Maler Franz Marc ins Rampenlicht, schildert seinen – und auch ihren – persönlichen und künstlerischen Werdegang. Im Rückblick lässt sie die Phasen von Irrungen und Wirrungen, Einsamkeit und Depression ebenso Revue passieren wie gruppendynamische Prozesse, Wende-, Glanz- und Höhepunkte. Wir nehmen teil an den Glücksgefühlen ihres Mannes eingedenk der Freundschaft auf Augenhöhe mit August Macke. Wir lesen von der starken Wirkung Wassily Kandinskys auf Franz Marc. Folgen, geleitet von der Memoirenschreiberin, seinem Weg in die Moderne – von den ersten Kontakten zur Neuen Künstler-Vereinigung München bis zum Mitredakteur des legendären Almanachs Der Blaue Reiter. Hindernisse unterwegs werden ebenso wenig verschwiegen wie mancherlei atmosphärische Störungen. Humor spricht aus ihrer Schilderung der gemeinsamen Reise nach England – trotz enttäuschendem Ausgang. Von erkennbar größter Bedeutung ist ihr Versuch, das Trauma Quartett d’amour schriftstellerisch zu bewältigen. Von der leidvollsten Erfahrung wiederum, Franz Marcs frühem Tod, vermochte sie nur bruchstückhaft zu berichten. Im Gegensatz zum Auftauchen und Wirken von Heilsbringer Heinrich Kaminski in krisenhafter Zeit. Bemerkenswert, ja beinahe unglaublich ihr letztendliches Fazit!
Den Charakter elementarer Botschaften hat auch das Vordringen der Zeitzeugin auf bis dato unbekanntes kunsthistorisches Terrain. Manche ihrer rückwärts gerichteten Erkundungen schließen Lücken in der Forschung, können ferner Mutmaßungen in Gewissheiten verwandeln. Andere liefern lange vermisste Details nach.
Die vorliegende Publikation erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Edition. Meine Aufgabe und meine Absicht waren es, die zehn existierenden Schriftstücke von Maria Marcs Erinnerungen in eine Lesefassung zu bringen – unter strikter Beibehaltung des Originaltons. Störende Wiederholungen, von denen es sehr viele gab, galt es zu vermeiden. Streichungen blieben unbeachtet, steckt darin doch nicht selten die größte Brisanz. Die akribische Suche nach singulären Erwähnungen, Anmerkungen, Einschätzungen und Urteilen half, den Blickwinkel zu erweitern und das Gesamtbild abzurunden. Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden an die aktuell gültigen Regeln angepasst. Die Auswahl der Abbildungen oblag der Herausgeberin.
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Wer eigentlich war die Frau auf dem durch kluges Lavieren und fast grenzenloses Beharrungsvermögen errungenen Vorzugsplatz an Franz Marcs Seite?
Maria Marc kam am 12. Juni 1876 als Tochter von Philipp und Helene Franck in Berlin auf die Welt. Die Profession des Vaters, Direktor einer Bank, war Garantie für ein Aufwachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen. Man wohnte vorzüglich im repräsentativen Dienstgebäude nahe Oper und Dom, beschäftigte Personal, pflegte familiäre und außerfamiliäre Bindungen, nutzte das kulturelle Angebot, reiste viel und gern. Oftmals nach Ostpreußen, Heimat der Mutter und später auch des jüngeren Bruders Wilhelm.
Das Mädchen besuchte mit sehr gutem Erfolg ein Lyzeum, bekam Klavierstunden und war Mitglied des Chors der Berliner Sing-Akademie. Neben dem musikalischen wurde das schöpferische Talent der Heranwachsenden nicht nur erkannt, sondern nach Kräften gefördert. Mit neunzehn schloss sie eine Ausbildung zur Zeichenlehrerin an Volks-, Mittel- und Höheren Schulen ab. Nichts stand Maria ferner, als diese Befähigung zum Beruf zu machen. Lieber nahm sie ein Studium an der Berliner Königlichen Kunstschule auf und parallel dazu Unterricht bei den arrivierten Blumenmalerinnen Catharina Klein und Clara von Sivers. Erhebliche Fortschritte aber brachten erst die Kurse in Landschaftsmalerei bei Karl Storch, progressiver Mitbegründer der Berliner Secession und später Professor an der Königsberger Akademie. Mehrere Sommer verbrachte Fräulein Franck mal mit Lehrer und Mitschülerinnen, mal auch allein in den pittoresken Gegenden Ostholsteins. Aber: Schwabing lockte! Beginnend 1902, schwatzte Maria den widerstrebenden Eltern alljährlich ein paar Monate München ab. Insgeheim träumte sie von einer selbstbestimmten Künstlerinnenexistenz. Real mischte sie sich (und zwar fortgesetzt bis in das Jahr 1910) unter die Studierenden an der Damen-Akademie des Künstlerinnen-Vereins. Wir sehen sie in den Klassen von Angelo Jank, Max Feldbauer und Marie Schnür. Ihre Pleinair-Malkünste vervollkommnete sie während eines Aufenthaltes im Dachauer Moos, möglicherweise innerhalb einer Gruppe von Elevinnen um Adolf Hölzel. Doch damit nicht genug. Im niedersächsischen Worpswede arbeitete sie erklärtermaßen unter der Korrektur von Otto Modersohn. Überschattet wurden die Ausflüge der Mitt- bis Endzwanzigerin in die Freiheit durch eine weitgehend im Verborgenen gebliebene Herz-Schmerz-Geschichte.
So stand es um Maria Franck, als sie, achtundzwanzigjährig, im Februar 1905 den Kunstakademieflüchtling und Kollegen Franz Marc, fünfundzwanzig, zunächst nur kurz und im Februar 1906 näher kennenlernte. Richtig harte Anfangsjahre und von noch mancherlei Schwierigkeiten gekennzeichnete Folgejahre lagen da vor ihr und ihm. Was sie wurde und was sie blieb: Franz Marcs Lebens- und Liebensmensch. Seine Ermutigerin und Ratgeberin. Seine Wegbegleiterin, Mitmacherin und Mitstreiterin. Seine Patrona artium eben. Eingebunden in die Ideenwelten der Klassischen Moderne wie in den wachsenden Freundeskreis. Zusammenkünfte Franz Marcs ohne die Gefährtin mit den Mackes, den Klees, Kandinsky, Münter, Jawlensky, Werefkin, Lasker-Schüler, Niestlé, Campendonk, den Brücke-Malern waren für ihn denkbar fast nur, wenn sie sich andernorts aufhielt. Schrecklich vermisst und sehnlichst zurückerwartet.
Lediglich das weibliche Anhängsel zu geben war niemals Marias Absicht. Außerdem wäre es falsch, Zurückhaltung in puncto Herzeigen ihrer Werke mit Mangel an kreativen Ambitionen zu verwechseln. Bilder aus der gemeinsamen Zeit in Lenggries und Sindelsdorf sind Belege für eine individuelle künstlerische Handschrift. 1912 war sie mit drei Arbeiten, darunter ihre Lithographie Tanzende Schafe, auf der zweiten Blauer-Reiter-Ausstellung vertreten.
Zwischen dem Einzug ins eigene Haus 1914 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs lagen nur wenige Monate. Das Glück schlug um in abgrundtiefe...