II. Integration und Wandel in offenen Gesellschaften
Integration gelingt!
»Integration gelingt in Deutschland ziemlich gut!« Wenn ich diesen Satz in der Vergangenheit aussprach, regte sich Widerstand. Dies erlebte ich bei unzähligen Veranstaltungen von Bayern bis Hamburg, vom Saarland bis Sachsen, auf dem Land und in der Stadt, unabhängig davon, wer die Zuhörer:innen oder Mitdiskutant:innen waren. Im Widerstand gegen diesen Satz vereint waren Pädagog:innen, Journalist:innen, Politiker:innen und Polizist:innen, Rotarier:innen, Christ:innen, Muslim:innen und PEGIDA-Demonstrant:innen. Selbst von Wissenschaftlern und Künstlern kam Widerspruch. Habituell, intellektuell und politisch hochgradig ungleiche Menschen, die es keine zehn Minuten im selben Raum aushalten würden, waren sich einig. Man könnte sagen: diffuse Einigkeit in der Vielfalt. Natürlich äußerte sich die Ablehnung meiner These auf stilistisch und intellektuell sehr unterschiedliche Weise. Aber noch stärker unterschieden sich Standpunkt und Stoßrichtung der Kritik. Aus der einen Ecke wurde betont, dass Politik und Gesellschaft die Migranten nicht angemessen behandeln und fördern würden. Aus der anderen Ecke wurden Migrant:innen als Fremde dargestellt, die einfach nicht zu »uns« passen. An den Rändern dieser Ecken hieß es, ich würde entweder den Rassismus der deutschen Gesellschaft oder aber die Islamisierung des Abendlandes übersehen oder gar gutheißen. Von links über die Mitte bis rechts sangen fast alle einstimmig das Lied von einer sich dramatisch verschlechternden Situation.
Nun könnte es in meinem Interesse sein, meine wissenschaftliche Arbeit als wichtig darzustellen. Am einfachsten funktioniert das, indem man die Probleme und nicht die Errungenschaften in den Mittelpunkt rückt. Und soziale Probleme gibt es reichlich: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsdefizite, Gewalt, Obdachlosigkeit. Neben dieser strukturellen Perspektivlosigkeit können große Bedrohungen genannt werden, insbesondere organisierte Kriminalität und Terrorismus. Gerade die bedrohlichsten Probleme gehen sowohl von perspektivlosen und benachteiligten Menschen als auch von feindseligen und fanatischen Akteuren aus – Letztere sind auffällig häufig privilegiert.[7] All das führt zu einer angespannten Atmosphäre. Zur Entspannung trägt man nun nicht bei, indem man darauf hinweist, dass es all das schon immer gab: Die Anzahl schwerer Gewalttaten ist tendenziell sogar deutlich rückläufig, und auch Terrorismus ist in Deutschland und Europa kein neues Phänomen.[8] Neu ist lediglich die Intensität, mit der darüber berichtet und diskutiert wird. Wie sagen es die Journalisten so schön: »Only bad news are good news.« Aber ist das wirklich so?
Seit Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist es mein Anspruch, Phänomene wirklich zu verstehen. Das ist für mich eine doppelte Herausforderung, denn es geht darum, auf der einen Seite Integration insgesamt und die sich stetig verbessernde Situation und auf der anderen Seite die Widerstände gegen gute Botschaften und die zunehmenden Spannungen zu begreifen. Während der langen Beschäftigung mit diesen beiden gegenläufigen Prozessen wurde mir zunehmend klar, dass sie unmittelbar miteinander zusammenhängen. Das Credo vieler Journalist:innen, dass negative Neuigkeiten besser »funktionieren« und damit gut für das mediale Geschäft sind, ist sicher richtig, kann aber nicht die Erklärung des eigentlichen Phänomens sein. Tatsächlich erzeugt die negative Botschaft mehr Aufmerksamkeit als eine Erfolgsmeldung, und da die Konkurrenz in der Medienlandschaft durch neue Technologien enorm verstärkt wurde, weisen ganz offensichtlich Schlagzeilen und Bilder immer dramatischere Tendenzen auf. Diese täglichen Einflüsse durch die Medien erzeugen ein gewisses negatives Hintergrundrauschen. Vor diesem Hintergrund passiert aber etwas völlig anderes: Positive Entwicklungen können negative oder zumindest unerwartete Nebeneffekte haben. Das Credo wäre also umzudrehen: »Good news are bad news.« Gemeint ist hier aber nicht die schlechte Medienwirksamkeit einer positiven Schlagzeile, sondern die sich im Schatten des Erfolgs schleichend entwickelnden Veränderungen. Werden diese Veränderungen nicht reflektiert, sieht man nur noch Schatten und kein Licht.
Zumindest in der Langzeitbetrachtung gilt es, die Schattenseiten des Erfolgs als verborgene Bürde im Blick zu behalten. Man stelle sich zum Beispiel zwei Geschwister vor, eine beruflich extrem erfolgreiche Managerin und ihren Bruder, der ein Verwaltungsangestellter im mittleren Dienst ist. Sie hat einen ungleich schwereren Job, muss massive Konkurrenz aushalten, muss zunehmend riskante Entscheidungen treffen und wird regelmäßig ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Bei ihm laufen die Dinge ruhiger, es könnte natürlich immer etwas besser sein, aber er ist insgesamt zufrieden mit seiner Situation. Bereits kleine berufliche Verbesserungen werden von ihm positiv wahrgenommen. Von außen ist eindeutig erkennbar, wer beruflich erfolgreicher ist: Der Kontostand, der Status und das Prestige sprechen für sich. Aber das sagt noch nichts über die individuelle Wahrnehmung aus. Beide haben sowohl unterschiedliche objektive Rahmenbedingungen als auch unterschiedliche subjektive Erwartungen, die dazu führen können, dass die Schwester mit ihrer beruflichen Situation unzufrieden und der Bruder zufrieden ist. Es kann sogar so weit kommen, dass sie durch die Rahmenbedingungen und die gestiegenen Erwartungen einen Burn-out erleidet und schließlich im Beruf vollständig ausfällt, während sich ihr Bruder ganz langsam, aber kontinuierlich verbessert.
Bürgermeister:innen, Unternehmer:innen und Fußballclubs müssen damit klarkommen, dass die Ansprüche der Wähler:innen, Aktionär:innen und Fans parallel zum Erfolg steigen. Gleichzeitig wird oben die Luft dünner: Die Herausforderungen verändern sich, Druck, Konkurrenz und Aufmerksamkeit steigen, jeder kleine Fehler wird wahrgenommen. Daher ist es schwerer, Trainer von Borussia Dortmund zu sein als vom SC Freiburg. Und es ist sicher nicht leichter, Oberbürgermeister der wohlhabenden Stadt Freiburg zu sein als von der deutlich ärmeren Stadt Dortmund, auch wenn es dort viel mehr soziale Probleme gibt. Denn es kommt nicht auf die zu bewältigenden Probleme an, sondern auf die zu erfüllenden Erwartungen.
Positive Entwicklungen können also zwei wesentliche Veränderungen mit sich bringen: Zum einen steigen die subjektiven Erwartungen und zum anderen die objektiven Grundlagen. Und man muss sich diese beiden Realitäten genau anschauen, denn sie stehen in einem sich stetig verändernden Wechselspiel. Was an den Geschwistern oder den Fußballclubs noch leicht darzustellen ist, wird in einer gesamtgesellschaftlichen Betrachtung ungleich komplexer.
Wenn man nun die These, dass Integration relativ gut oder zumindest besser als früher gelingt, belegen möchte, ist es wichtig, den Vergleichshorizont zu benennen. Denn dieser bewertende Satz unterliegt Bewertungskriterien, über die man sprechen muss. Eine Bewertung benötigt zwingend einen Vergleich. Wer meint, es werde besser, muss zeigen, dass es irgendwann schlechter war oder dass es irgendwo schlechter läuft. Historische und internationale sowie regionale Vergleiche sind in der Wissenschaft die häufigsten Formen der Bewertung von Sachverhalten und Entwicklungen. Dass die Entwicklung der Integration von Migrant:innen gut verläuft, kann man in jeder Hinsicht und ohne Einschränkungen belegen. Fangen wir mit dem historischen Vergleich an.
Die Integration ist heute so gut, wie sie noch nie in der deutschen Geschichte war. Wer sich jetzt wundert, sollte sich kritisch fragen: Weiß ich überhaupt, wie es den Migrantenfamilien damals erging? Kenne ich die Asyl- und Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte? Die Älteren können sich ergänzend fragen: Hat mich das damals überhaupt interessiert?
Die Integrationspolitik hat sich insgesamt ganz deutlich verbessert. Die Teilhabechancen von Minderheiten sind wesentlich besser als noch vor zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns den Arbeitsmarkt, das Bildungssystem, die Wohnverhältnisse oder die Möglichkeiten der politischen Partizipation anschauen. In der Bildungsforschung kann gezeigt werden, dass Migranten und ihre Kinder über stetig bessere Sprachkenntnisse und Kompetenzen insgesamt verfügen. Auch die Bildungsbeteiligung (also die besuchten Schulformen), der Bildungserfolg (also die erreichten Schulabschlüsse) und zum Beispiel auch der Zugang zu den Hochschulen haben sich stetig positiv entwickelt. Es verbesserte sich dabei nicht nur die Anzahl, also die nominale Entwicklung, sondern auch jeweils der Anteil, also das relative Verhältnis zu den Schülern und Studenten insgesamt. Die Entwicklung ist also keinesfalls negativ. Auf dem Arbeitsmarkt sehen wir einen ganz ähnlichen Trend. Es ist noch lange nicht perfekt, Chancengleichheit ist nicht erreicht, aber schlechter ist es ganz sicher nicht geworden.[9]
Man müsste hierfür auch keine Statistiken bemühen, sondern nur den Fernseher einschalten. Das Frühstücksfernsehen moderiert Dunja Hayali, die Nachrichten werden uns von Pinar Atalay oder Ingo Zamperoni vorgetragen, zu den erfolgreichsten Comedians gehören Bülent Ceylan, Fatih Çevikkollu und Serdar Somuncu, die besten Filme kommen von Fatih Akin, zu den gefragtesten deutschen Schauspielerinnen zählen Sibel Kekilli und Aylin Tezel...