DIE KUNST DER LIEBE
DAS KAMASUTRA – EIN JUWEL DER EROTISCHEN LITERATUR
Bis heute ist das älteste erhaltene indische Lehrbuch der Erotik, ein aus sieben einzelnen Büchern bestehender Liebesleitfaden, Objekt der Forschungen von Indologen und Kulturhistorikern. Die erste Übertragung des Kamasutra ins Englische übernahm Ende des 19. Jahrhunderts der berühmte Forscher und Orientalist Richard Francis Burton, der sich auch um die Übertragungen der Geschichten aus 1001 Nacht und des im 16. Jahrhundert verfassten persischen Erotikwerks Der duftende Garten verdient gemacht hat.
Der Verfasser des Kamasutra, Vātsyāyana Mallanaga, widmete sich dem Werk »in Keuschheit und höchster Versenkung« und schuf so am Südufer des Ganges im Nordosten Indiens ein teilweise wahres, teilweise idealisiertes Zeitgemälde, das geprägt war von einem luxuriösen Lebensstil, verfeinerter Lebenskunst und Ästhetik. Erotik durchdringt dabei jeden Aspekt des Alltags kultivierter Männer und Frauen aus der gesellschaftlich hoch stehenden Brahmanen-Kaste.
Das Kamasutra behandelt Fragen zum harmonischen Zusammenleben in einer Ehe wie auch zur gleichberechtigten Stellung der Geschlechter auf dem Liebeslager. Die Vorbilder für die Liebesstellungen stammen aus der Natur und Tierwelt sowie aus der altindischen Mythologie.
DIE 64 LIEBESTECHNIKEN
Der Weise Babhravya von Pancala, auf dessen Autorität in allen Fragen von Sex und Erotik sich Vātsyāyana häufig beruft, verkürzte das Kamasutra auf 150 Verse und 74 Abschnitte, in denen acht Varianten von acht Liebestechniken beschrieben werden: Umarmen, Küssen, Kratzen, Beißen, sexuelle Stellungen, Stöhnen, die Frau spielt die Rolle des Mannes und Oralverkehr. Aus diesem reichen erotischen Repertoire können wir heute schöpfen, ohne dass es uns zwischen den Laken je langweilig werden würde.
Verfasst wurde das Buch für wohlhabende junge Männer, die ihre Künste als Verführer und Liebhaber vervollkommnen wollten. Schließlich geht es um nichts weniger, als immer wieder gekonnt die Lust und Sinnlichkeit der Geliebten zu erwecken. Ausführlich werden in diesem Zusammenhang auch Ratschläge zur Verschönerung von Haut und Haar, zum erregenden Vorspiel, dem gekonnten Küssen, aber auch für leidenschaftliche Spielereien, wie Kratzen und Beißen, oder zur Herstellung von Sex-Toys, wie Dildos aus Edelmetall oder Horn, abgehandelt. Auch wenn manches eigentümlich oder sogar lustig anmutet, so scheinen die Prinzipien, denen die altindische Liebeskunst folgt, überaus zeitgemäß. Denn es geht um nichts weniger als darum, sich bewusst Zeit für die Liebe zu nehmen und diese ebenso aufmerksam zu praktizieren. So will man nie die schnellstmögliche Lusterfüllung erreichen, sondern das Hinauszögern der Ekstase, um im richtigen Moment zu einem starken und intensiven Höhepunkt des Liebesspiels zu kommen.
Die Praxis des Liebesaktes und die Beherrschung von 64 Liebeskünsten stehen im Mittelpunkt des Kamasutra. Doch die Lehre geht weit über die bloße Auflistung von Stellungen hinaus. Das Kamasutra orientiert sich dabei an den Lebenszielen eines Mannes – Religion, Macht und Lust – und der einer Frau, zu denen ebenfalls die genannten Liebeskünste gehören. Ausgehend davon geht es um die Rollen von Mann und Frau in ihrer Beziehung, um den Akt des Werbens, die Ehe, das Verhältnis zu anderen Frauen und Geliebten wie auch um den Besuch bei Prostituierten.
Seine Berühmtheit erlangte das Kamasutra jedoch durch die detaillierte Beschreibung verschiedenster Positionen beim Geschlechtsakt. Diese dienen bis heute als Inspirationsquelle, um die Leidenschaft im heimischen Bett anzufeuern, auch wenn es scheint, dass einige Positionen nur nach langjähriger Yogapraxis oder Leistungsturnen zu bewerkstelligen sind. Tatsächlich gibt es Kulturwissenschaftler, die vermuten, dass einige Positionen einfach der Fantasie des bildenden Künstlers der Abbildungen im Kamasutra entsprungen sind – vielleicht als Inspiration dafür, wie frei, abwechslungsreich und fantasievoll jeder von uns Erotik leben und genießen darf, wenn er es nur will.
EROTISCHE VARIATIONEN OHNE ENDE
Die sexuelle Lust (Rati) hat im Kamasutra zahlreiche Entsprechungen, was wiederum zeigt, wie variantenreich sich das Liebesspiel gestalten kann:
• Sexuelles Gefühl (Rasa),
• Liebe oder Ekstase (Priti),
• Gefühl und Höhepunkt (Bhava),
• Leidenschaft (Raga),
• Sexuelle Energie (Vega).
DIE SCHÖNSTE HAUPTSACHE DER WELT
Auf den nächsten Seiten werden Sie viel über die Künste des Liebens und der Verführung erfahren. Einiges kennen Sie vielleicht schon, anderes ist wahrscheinlich neu, manches mutet ziemlich akrobatisch an, kann aber auch viel Spaß machen – denn Lachen ist beim Sex, der schönsten Hauptsache der Welt, ausdrücklich erlaubt. Aber eines dürfte sicher sein: Die Lehren des Kamasutra zur gekonnten Verführung, der Kreation einer lustvoll knisternden Liebesatmosphäre, eines erregenden Vorspiels sowie ausgefeilter Finger- und Zungenspielereien und spannender, unterhaltsamer Stellungswechsel lassen aller Wahrscheinlichkeit kaum mehr Wünsche offen …
Die verschiedenen Stellungsspiele, die Sie ab Seite 46 finden, bauen vom Schwierigkeitsgrad her aufeinander auf. Dabei finden Sie fünf unterschiedliche Icons, die Folgendes bedeuten:
| sehr einfach einfach für Geübtere anspruchsvoll für sehr bewegliche Paare |
Das heißt nun keinesfalls, dass Sie das Buch »durcharbeiten« müssen, um schließlich bei den besonders schwierigen Stellungen zu reüssieren. Es dient lediglich dem Hinweis, ob Sie es sich zu Beginn eines Liebesabenteuers etwas einfacher machen wollen, ob Sie als miteinander vertrautes Paar mal etwas Neues ausprobieren möchten, ein bisschen mehr Schwung in Ihr Liebesleben bringen wollen oder aus reiner Lust an der Freude ein bisschen ausgefallene Bettgymnastik betreiben möchten.
Nun kommt es darauf an, wie viel Raum Sie gutem, lustvollem Sex in Ihrer Beziehung einräumen. Denn dieser bereichert nicht nur Ihr Lebensgefühl, sondern kann einer Beziehung auch in stressigen Zeiten Halt geben und ihr diesen gewissen Kick verleihen. Tatsächlich erkennt man Paare, die ein erfülltes Sexleben haben, an einem ganz bestimmten Glow, der sie unbesiegbar und strahlend wirken lässt – sie sind Königinnen und Könige ihres Lebens.
Lieben Sie sich deshalb, wann immer Sie es sich gut gehen lassen wollen. Gönnen Sie sich einen kleinen, feinen Quickie auf dem Küchentisch oder zelebrieren Sie die Kunst des Liebens nach einem romantischen Date in einem extra zu diesem Zweck gebuchten Hotelbett im feinsten Haus der Stadt (oder in der kuscheligen Pension um die Ecke) oder im heimischen Schlafzimmer mit oder ohne Rosenblüten auf den Laken.
SEX ALS SPIRITUELLE ÜBUNG
Der Körper eines Menschen gilt im Hinduismus und im Buddhismus als Fahrzeug auf dem Weg zur persönlichen Weiterentwicklung. Deshalb sollten wir – so steht es in den über tausend Jahre alten vedischen Schriften – gut zu uns sein und den Körper auch gut pflegen, indem wir uns viel bewegen, uns gesund ernähren und auch guten Sex haben.
Mit diesem Buch, das Sie vielleicht vorher einmal durchgeblättert haben und bei dem Sie dann hoffentlich an der einen oder anderen Stelle hängen geblieben sind, um interessiert zu staunen oder auch ruhig einmal die Luft anzuhalten, können Sie Ihre Künste der Verführung und des Liebesspiels vervollkommnen oder auch einüben und so peu à peu mehr Erfahrungen sammeln. Werden Sie kundige Liebhaberin und Geliebter, üben Sie Ihre Sinnlichkeit. Denn guter Sex lässt sich, wie jede andere Lebenskunst auch, lernen – vorausgesetzt, Sie sind offen und neugierig auf Ihre erotischen Talente und die Ihres Liebespartners. Sprechen Sie gemeinsam über Wünsche und Vorlieben und worauf Sie Lust hätten, es auszuprobieren. Offenheit, Neugier, Spielfreude und Vertrauen sind die Basics für gelungenen Sex.
Und dann: Genießen Sie Ihren Sex als Wohlfühleinheit für zwischendurch, der Sie Alltagsblödsinn, Alltagsstress und Alltagsärger vergessen lässt. Allein der Blick in den Spiegel danach, wenn Sie beide auf Ihre Kosten gekommen sind, ist eine Belohnung, denn Sex hat ja diese wunderbare Nebenwirkung: Er macht zufrieden, stark, glücklich – und wunderschön!
Klassiker der Sexliteratur
Das altchinesische Tao der Liebe kennt wie das Kamasutra viele Sexpraktiken und -stellungen, die alle dem Zweck dienen, die Verbindung eines Paares zu stärken und die Lebensenergie der Liebespartner zu bereichern. Mit dem Übergang zum Konfuzianismus wurde der Sex zum Tabuthema. Innerhalb der Traditionellen Chinesischen Medizin, die auch hierzulande immer mehr Anhänger findet,...