KAPITEL 1
DAS MACHTZENTRUM
Im hektischen Autostrom von Südkoreas Hauptstadt Seoul, in den schrillen Werbeanzeigen auf den riesigen Videowänden und im Archipel von neonbeleuchteten Läden und Kantinen wirkt das Dongdaemun-Tor wie Strandgut aus einer vergangenen Zeit. Wenn nachts die zweistöckigen Balustraden und ausladenden Giebel des Tors angestrahlt werden, kann man sich schon eher vorstellen, dass das einmal das Osttor der von hohen Mauern geschützten Hauptstadt des koreanischen Königreichs Joseon war. Ein Reich, das die gesamte koreanische Halbinsel einschloss und über fünfhundert Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dauerte.
Ich bin aufgeregt an diesem Abend, als ich von meinem Hotelzimmer auf das Tor und die Lichter Seouls blicke. Irgendwo in dieser Millionenmetropole versteckt sich der Mann, der seit Monaten auf der Flucht vor Kim Jong-un ist und den ich am nächsten Morgen zu einem konspirativen Interview treffen soll. Die Tage zuvor habe ich immer wieder mit seinen Sicherheitsleuten vom südkoreanischen Geheimdienst telefoniert. Es ging darum, wo das Interview stattfinden kann und ob seine Leibwächter den Ort vorher prüfen können. Fragen, die Alltag sind für Thae Yong-ho, Nordkoreas höchstrangigen Überläufer.
Thae war Teil von Nordkoreas innerstem Machtzentrum. Seine Familie gehörte zur Elite des Landes. Bevor er als Vizebotschafter nach London ging, leitete er die Europaabteilung im Außenministerium. Thae war einer jener intelligenten, sprachgewandten Spitzenkader, auf die sich Diktator Kim Jong-un stützt und die man bei Besuchen in Nordkorea immer wieder trifft.
Das Hotel am Dongdaemun-Tor hat Thaes Sicherheitsleuten nicht wegen der historischen Erinnerungen an großkoreanische Zeiten gefallen, sondern weil es über eine Tiefgarage verfügt, in die sie mit Thae unbemerkt hineinfahren können. Und über einen Lift, der sie direkt in eine Suite in den zehnten Stock bringt. Am nächsten Morgen klopfen eine halbe Stunde vor dem Interview zwei seiner breitschultrigen Leibwächter an der Hoteltür. Sie schauen hinter Vorhänge und Türen, in jeden Schrank und unter die Betten, um sicherzugehen, dass sich niemand sonst hier versteckt. Es scheint, als erwarteten sie hinter jeder Ecke eine böse Überraschung.
Als Thae dann mit vier weiteren Begleitern hereinkommt, wirkt er angespannt. Ein kleiner Mann mit schwarzgescheiteltem Haar und einem wachen, prüfenden Blick hinter der Brille. Wie ihm, seinen beiden Söhnen und seiner Frau die Flucht gelang, darüber will er nur wenig sagen. »Es ist zu gefährlich für alle, die dabei mitgeholfen haben«, sagt er. Selbst er, der zweite Mann in der Botschaft Nordkoreas, konnte sich in London kaum frei bewegen. Auch er musste immer von einem Kollegen begleitet werden, damit einer den anderen kontrollieren und überwachen konnte. »Aber es gab Momente«, erzählt Thae, »in denen ich zumindest für ein paar Minuten oder eine halbe Stunde allein sein konnte.« Bei einem Besuch im Krankenhaus, beim Einkaufen. In diesen Momenten hat er die Flucht geplant mit Helfern, die er nicht nennen will und die ihn und seine Familie am Ende nach Seoul gebracht haben, nur gut fünfzig Kilometer entfernt von der Grenze zu Nordkorea. Seit Monaten versteckt Thae sich nun hier, ein Koreaner unter rund fünfundzwanzig Millionen anderen Koreanern, die in Seoul und den angrenzenden Satellitenstädten wohnen. Eigentlich ein gutes Versteck, wenn es nur nicht so nah am Reich von Kim Jong-un läge.
Es ist das erste Interview, das Thae einem deutschsprachigen Medium gibt. Wir stecken ihm ein kleines Mikrofon an das Revers seines Jacketts und ziehen die schweren Vorhänge zu, damit die Scheinwerfer ihn besser ausleuchten können. So machen wir das oft bei Interviews, aber bisher war mir nicht aufgefallen, was für eine merkwürdige Szenerie sich dadurch ergibt. In der Mitte des Raums ist eine gleißende Lichtinsel. Da sitzt Thae und kneift die Augen zusammen, weil er anfangs stark geblendet wird. Um ihn herum aber ist alles so dunkel, dass seine Leibwächter aussehen wie Scherenschnitte. Die Suite scheint keine Wände mehr zu haben. Wir könnten jetzt irgendwo sitzen, vielleicht sogar in Thaes altem Büro im Außenministerium in Pjöngjang oder in der Botschaft Nordkoreas in London. Oder an einem jener Orte, an denen Kim Jong-un seine Drohungen und Provokationen plant, seine Politik, die so sehr nach der eines Verrückten aussehen mag. Und die in Wahrheit so wenig damit zu tun hat, weil sie eiskalt geplant ist. Thae weiß davon zu berichten.
»Als Kim Jong-un an die Macht kam«, beginnt Thae, »war nicht nur ich hoffnungsvoll, sondern auch die meisten in der Führung. Weil er lange in der Schweiz studiert hatte, dachten wir, er sei der Richtige, um die nordkoreanische Gesellschaft zu reformieren und zu modernisieren.« Aber bald sei ihm klar gewesen, sagt Thae, dass Kim nicht für Veränderungen stehe, sondern die Politik seines Vaters und Großvaters fortsetze, Nordkorea zur Atommacht machen zu wollen. Dass er das sogar noch weiter treibt mit dem wahnwitzigen Ziel, in ganz kurzer Zeit Interkontinentalraketen zu entwickeln. Ich überlege einen Moment, ob Kim nicht auch hätte beides anstreben können: Atomraketen und Reformen. Er hat den Nordkoreanern immer wieder versprochen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Und seine sogenannte Byungjin-Politik sieht beides vor, den wirtschaftlichen Aufbau des Landes und die nukleare Bewaffnung. Aber politisch umgesetzt hat er vor allem Letzteres, von einer wirtschaftlichen oder gar gesellschaftlichen Modernisierung ist wenig zu sehen. Tatsächlich fallen mir auch sonst kaum Beispiele ein, in denen ein Land sich bis an die Zähne bewaffnet und gleichzeitig wirtschaftlich und gesellschaftlich geöffnet hätte. Offenbar schließen Atomraketen und die Modernisierung einer Gesellschaft sich gegenseitig aus. Thae scheint das sehr aufgebracht zu haben. »Ich war verzweifelt wegen dieser Entscheidung Kims, und ich beschloss, alles zu versuchen, um mein Land vor einer atomaren Katastrophe zu bewahren.« Das war im Rückblick der erste Schritt hin zu seinem folgenschweren Entschluss. Aber es braucht viel, sich gegen Kim Jong-un und das Regime zu stellen – viel Mut und viel Verzweiflung. Dass Kim entschied, die Ressourcen eines verarmten und rückständigen Landes zuallererst in ein Programm für Massenvernichtungswaffen zu stecken, reichte allein vielleicht noch nicht dafür, dass Thae den offenen Bruch wagte. Dazu musste noch etwas anderes passieren. Etwas, das ihn persönlich traf.
Nordkoreas Propaganda vermittelt immer den Eindruck, als würde das Land allein von seinem »obersten Führer«, von Kim Jong-un, gelenkt. Wenn er in Pjöngjang eine neue Straße oder ein Wissenschaftszentrum eröffnet, wenn er im Kommandostand das Artilleriefeuer der Kanonen bei einem Manöver begutachtet – immer soll es so aussehen, als habe Kim das alles alleine geplant, gebaut oder abgefeuert. Aber natürlich ist das nicht so. Natürlich stützt sich auch eine totalitäre Diktatur wie Nordkorea, die einen quasi-religiösen Kult der Kim-Dynastie praktiziert, auf ein Heer von hohen Beamten, Diplomaten, Militärs und Wissenschaftlern. Dieses Machtzentrum ist das Getriebe des Staats, das ihn am Laufen hält, das Entscheidungen trifft, Einblick in Pläne und Strategien hat und viel mehr als alle anderen auch über die Probleme und Schwierigkeiten im Land informiert ist. Deshalb war ich auch so aufgeregt am Abend vor diesem Interview. Das Treffen mit Thae würde mir einen seltenen Einblick geben in dieses Getriebe, in eine Welt, die sonst hermetisch verschlossen ist.
Thae ist der höchstrangige, aber nicht der einzige Überläufer aus Nordkorea. Es gibt inzwischen sehr viele, und die meisten leben in Seoul, wo sie die Sprache sprechen und nahe an der Grenze zu ihrer Heimat sind. Die Zahl der Überläufer ist nach südkoreanischen Angaben in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Das kann ein Zeichen sein für eine sich verschärfende Krise im Machtzentrum in Pjöngjang, für eine schleichende Abkehr der Eliten von Kim Jong-un. Die Überläufer werden meist vom Geheimdienst Südkoreas ausführlich befragt in der Hoffnung, neue Erkenntnisse über Nordkorea zu bekommen. Thaes Aussagen lassen sich nicht in allem nachprüfen. Was man aber tun kann, ist, die Angaben mit dem zu vergleichen, was wir sonst über Nordkorea wissen, was andere Überläufer erzählt haben und was wir aus Studien und Statistiken wissen. Danach ist er ein authentischer, glaubwürdiger Zeuge. Mit Hilfe Thaes können wir uns den Hallen und Hinterzimmern annähern, in denen in Nordkorea die wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Und wir können einen Blick auf das werfen, was das Regime lieber verheimlichen würde.
Nordkoreas Elite ist Nutznießer eines Systems, dem Familienzugehörigkeit und unbedingte Loyalität alles bedeuten. Viele gehören Familien an, die mit Staatsgründer Kim Il-sung, dem Großvater von Kim Jong-un, nach dem Zweiten Weltkrieg aus Russland nach Korea zurückgekehrt sind. Sie sind Teil jener Revolutionskader, die sich in den Machtkämpfen durchsetzen konnten und im September 1948 die Volksrepublik Korea gegründet haben. So ähnlich ist das auch bei Thae. Seine Frau ist verwandt mit O Jung-hup, der als Partisane im Zweiten Weltkrieg gegen die Japaner gekämpft hat – an der Seite von Kim Il-sung. O Jung-hup führte ein Regiment, das in der nordkoreanischen Propaganda als Musterbeispiel für die bedingungslose Hingabe an die Kim-Dynastie steht. Seit Generationen gilt die O-Familie deshalb auch als besonders einflussreich in Nordkorea.
»Ich hatte ein einfaches Leben und einen sehr privilegierten Status in Nordkorea, verglichen mit normalen Menschen«, erzählt Thae. Aber als hoher Diplomat hatte er eben auch Zugang zu Informationen...