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E-Book

Das Kind - mein natürlicher Feind

20 Jahre Kooperative Erziehungsarbeit e.V.

AutorRobert Becker
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783744880718
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Wer kommt schon auf die Idee, ein Kinderheim zu gründen? Robert Becker, systemischer Familientherapeut, hat es zusammen mit seiner Frau und engagierten Kolleginnen 1997 getan. 'Das Kind mein natürlicher Feind' erzählt nicht nur diese Geschichte sondern zeigt durch zahlreiche Beiträge von Kindern, Jugendlichen und MitarbeiterInnen auf, was 'Heimerziehung' bedeutet und bewirken kann ...

Robert Becker, geb. 1960, verheiratet, zwei Kinder. Studium der Sozialarbeit, arbeitet als systemischer Therapeut in Frankfurt am Main und leitet einen selbst gegründeten Jugendhilfeträger mit mehreren Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus therapeutische Beratungs- und Seminararbeit. Freier Autor. Neben Fachaufsätzen im Kontext der Jugendhilfe, Kurzgeschichten und Erzählungen. Autodidaktische Gesangsausbildung.

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Leseprobe

Unsere Geschichte


Zum besseren Verständnis, müssen wir an dieser Stelle etwas ausholen.

Man stelle sich Folgendes vor: Das 1957 als städtisches Kinderheim in Betrieb genommene Bürgermeister-Gräf-Haus, eine damals moderne, pädagogische Einrichtung für 140 Kinder und Jugendliche, steht knapp 40 Jahre später vor der Schließung.

Ein großes Gebäude, eines mit Geschichte, das sicherlich hunderten von Kindern und Jugendlichen über all die Jahrzehnte oft genug ein Zuhause war. In unmittelbarer Nachbarschaft ein unter gleichem Namen geführtes Wohn- und Pflegeheim für ältere Menschen. Das großzügige Außengelände, zur gemeinsamen Benutzung, ließ auf die konzeptionelle Idee dahinter schließen: Begegnungen zwischen den Generationen. Die Realität aber sah anders aus: Die Bewohner beider Häuser blieben für sich. Auch die Mitarbeiter untereinander hatten kaum Kontakt.

Im Laufe der Zeit änderten sich die Anforderungen an Heimerziehung. Das Kinderheim, durch seine Größe bedingt sehr unübersichtlich, die Organisation mit der eines Großbetriebes vergleichbar, dazu unwirtschaftlich, konnte den pädagogischen Ansprüchen nicht mehr genügen.

Drei Jahrzehnte nach Gründung begannen gravierende Veränderungen: Verschiedene Abteilungen, so zum Beispiel die Aufnahmegruppe, zogen aus. Man sprach von Dezentralisierung. Auf dem Gelände zurück geblieben waren nur noch einzelne Gruppen, die schließlich im Laufe der kommenden Jahre immer weiter „ausgedünnt“ wurden und ins „Haupthaus“ zogen. Der Rest einer einst sehr großen, respektablen Institution, der „harte Kern“, wenn man so sagen will. Versuche, konzeptionelle Grundgedanken zu beleben, Veränderungen vorzunehmen und frischen Wind einziehen zu lassen, waren gescheitert. Letztlich waren die Strukturen zäh, der Geist unbeweglicher als notwendig und das vorherrschende Sicherheitsbedürfnis, größer als gedacht. Mutige Schritte fehlten.

Das Bürgermeister-Gräf-Haus hatte sich selbst überlebt. Wahrscheinlich muss man das so ausdrücken. Man hatte den Anschluss an das, was erforderlich gewesen wäre, verpasst – vielleicht aber auch verpassen wollen.

1989 etwa, (für die Verantwortlichen sicherlich auch früher), stand fest: Das Gelände des Kinderheims würde einer anderen Nutzung übergeben werden und der Abriss des Gebäudes war nur noch eine Frage der Zeit. Entsprechend groß, die Enttäuschung.

Als ich 1990 als Gruppenleiter anfing, war dieser Schmerz wie eine Lähmung zu spüren und ich erfuhr umgehend, das heißt: noch im Bewerbungsgespräch, von der bevorstehenden Auflösung des Hauses und von einem geplanten Neubau für uns (an den aber niemand so recht glauben wollte).

Meine Aufgabe als neuer Gruppenleiter bestand darin, ein sehr von Gegensätzen geprägtes Arbeitsteam mit neun Kindern und Jugendlichen zu übernehmen. Ich, der junge Mann, gerade dreißig geworden, auf der einen, mein Team: gestandene Frauen mit jahrzehntelanger Erfahrung auf der anderen Seite. Mit festen Vorstellungen, wie die Rocklänge pubertierender Mädchen zu sein habe, wie ein Haushalt zu führen und was von modernem Kram zu halten sei.

Echte „Schlachtrösser der Heimerziehung“ mit dem Herz am rechten Fleck! Deren Vorstellungen nicht verkehrt, nur sehr von meinen differierend.

Mein Auftrag: Formelle Strukturen einzuführen und die pädagogische Arbeit in der Zeit angepassten Bahnen zu lenken, (was immer das auch bedeuten sollte). Ein schwieriges Unterfangen und eine große Herausforderung für mich.

Es stand außer Frage: Ich würde viel lernen können.

Mein Empfang war herzlich, die Kolleginnen, so erfahren sie auch waren, erleichtert.

Was das alles mit der Neugründung eines Kinderheims zu tun hat? Ich glaube eine Menge! Das Bürgermeister-Gräf-Haus mit all seinen Strukturen und all diesen Erzieherinnen „alten Schlags“ – im besten Sinn des Wortes gemeint - prägten mich und bis heute erkenne ich darin unsere Wurzeln.

Ich erinnere mich: Sie griffen mir unter die Arme, wenn ich beim Kochen für so viele Kinder etwas den Überblick verloren hatte, und ich führte im Gegenzug die ersten Computer gestützten Tabellen ein. Sie bauten mir „ein berufliches Nest“ und legten großen Wert darauf, dass es mir gut ging: (Bis heute erzähle ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerne von der „guten alten Zeit“, wo mir als Chef, auch gegen meinen Willen, noch Kaffee gekocht wurde und stets jemand darauf achtete, dass ich was Süßes bekam …)

Aber, und das war wichtiger als ihre Versorgung: Sie respektierten mich. Nach so vielen Berufsjahren Verantwortung abgeben zu können, empfanden sie auch als Entlastung.

Es wurde ein gutes Miteinander, auch wenn wir uns manchmal argwöhnisch beäugten: ich mit meinen ständigen Neuerungen und sie, meine Kolleginnen, mit ihren für mich etwas verstaubten Moralvorstellungen und genauen Vorgaben, wie Bettwäsche zu bügeln war und wo die Handtücher im

Schrank „zu sitzen“ hatten. Ich wurde nicht geschont. Was ihnen nicht passte, passte ihnen nicht.

Von ihnen lernte ich, dass man einen festen Boden braucht, um tanzen zu können, dass ordentlich geputzte Gruppenräume und ein gutes Essen Gold wert waren. Die Kinder brauchten diese Kontinuität und Versorgung, oftmals mehr als pädagogische Gespräche. Meine Kolleginnen wussten das und ich spürte, wie recht sie hatten.

Sie wussten auch, was hinter den Kulissen geschah, wie die Verwaltung funktionierte und wer an welcher Stelle saß und was zu sagen hatte. Ein unschätzbares Kapital, wie sich später noch herausstellen sollte.

Zunächst einmal aber dauerte es Jahre, bis etwas Maßgebendes geschah: Jahre, in denen sich eine Grundstimmung geprägt von Resignation und Misstrauen ausbreiten konnte, der Sache wenig dienliche Auseinandersetzungen zunahmen und überall Verunsicherung zu spüren war.

Was war nun? Würde die Schließung tatsächlich auf uns zukommen? Und was sollten wir den Kindern und Jugendlichen sagen? Niemand schien etwas Genaues zu wissen.

Letztlich waren auch die politischen Strukturen im Hinblick auf eine effektive Planung eher ungünstig.

Exemplarisch sei hier die Tatsache benannt, dass innerhalb von acht Jahren alleine sechs unterschiedliche Sozialdezernenten im Amt waren.

„Persönliche Kompetenz und Wertschätzung professioneller Konflikt- und Verhandlungsfähigkeit ist bei zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Jugendamt Frankfurt/M, in den ASDs (Allgemeiner Sozialdienst) und städtischen Heimen zu wenig entwickelt. Dies gilt insbesondere für die Leitungskräfte. Strukturen und Konzepte verhindern, dass Fachkräfte die erforderliche professionelle Konflikt- und Verhandlungsfähigkeit entwickeln und schätzen können, und gleichzeitig verhindern Personen, dass Strukturen und Konzepte durchgesetzt werden, die diese Kompetenzen herausfordern und belohnen: Eine Paradoxie – hier sehen wir das zentrale Problem im Jugendamt Frankfurt.”

(Institut für soziale Arbeit, Forschungsbericht, 1996, „Qualifizierung der Hilfeplanung und der Hilfen zur Erziehung in der Stadt Frankfurt am Main“, S. 15 ff)

Zentrale Probleme, kompliziert beschrieben. Für uns kaum zu durchschauen. Eine Planungsgruppe, zu der auch ich gehörte, nahm halbherzig ihre Arbeit auf. Architektenpläne, vorgelegt und wieder verworfen, sollten uns bei Laune halten, erreichten aber das Gegenteil. Bald hatten wir genug.

Es war klar: Der lang gehegte Wunsch in einen eigens für uns geplanten und realisierten Neubau umzuziehen, schien zu zerplatzen. Keine Nachfolgeeinrichtung? Das stand 1996, sechs Jahre nachdem ich meine Position als Gruppenleitung übernommen hatte, schließlich fest und löste eine Starre aus. Im Informationsschreiben „zur weiteren Perspektive des Bürgermeister-Gräf-Kinderheims“ war am 1. Juli 1996 u.a. zu lesen: „Es wurde festgestellt, … dass darüber hinaus auch in Hessen die Nachfrage nach Vollzeitheimplätzen stark zurückgegangen ist ... Von der Jugendamtsleitung wurde unter diesen Voraussetzungen vorgeschlagen, das Bürgermeister-Gräf-Kinderheim zum Jahresende zu schließen.“ 1

Was nun?

Achselzucken.

Heimplätze gebe es in Hessen genug, so die Verantwortlichen. Stellen für uns ebenfalls. Kein Grund zur Sorge also … Für alles sei gesorgt.

Ein Teil der Kinder hierhin, ein anderer Teil dorthin.

Die Bereitschaft zur Aufnahme war seitens anderer Heimeinrichtungen signalisiert worden. Wirtschaftlich gesehen war es nur gut, einerseits Plätze, die nicht mehr gebraucht wurden, abzubauen, und andererseits die Kapazität anderer Einrichtungen, für deren Erhalt man zu sorgen hatte, durch unsere Kinder und Jugendlichen auszulasten. Das schien zwingend einleuchtend, zumindest für wirtschaftliche Lagerverwalter, die glattweg übersehen hatten, dass wir keine...

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