| Welche Formen der Kindeswohlgefährdung gibt es?
Nachfolgend werden die einzelnen Formen einer Kindeswohlgefährdung hinsichtlich ihrer Ursachen, ihrer Erscheinungsformen, ihrer Folgen für die Opfer und besonders hinsichtlich ihrer erkennbaren (diagnostischen) Merkmale vorgestellt.
Es gibt fünf verschiedene Formen einer Kindeswohlgefährdung, wobei in vielen Fällen sowohl mehrere Formen zusammenkommen als auch Graubereiche an den Schnittstellen der einzelnen Formen existieren.
Bevor auf die einzelnen Formen der Kindeswohlgefährdung genauer eingegangen wird, hier einige Feststellungen, die für das Thema „Kindeswohlgefährdung“ Allgemeingültigkeit haben:
■ Kindeswohlgefährdung kommt sehr häufig in Deutschland vor. Hunderttausende Kinder und Jugendliche sind betroffen – auch wenn es durch das Fehlen einer amtlichen Statistik an offiziellen Zahlen mangelt.
■ Kindeswohlgefährdung tritt überwiegend im sozialen Nahbereich auf, das heißt in der Familie, im Bekanntenkreis der Familie oder in vertrauter Umgebung, z. B. in Schulen oder anderen pädagogischen Einrichtungen. Täterinnen und Täter1 sind insofern meistens Vertrauenspersonen des Kindes oder Jugendlichen, was die Taten in einem noch belastenderen Kontext erscheinen lässt.
■ Kindeswohlgefährdungen stellen Verletzungen der Grundrechte von Kindern und Jugendlichen dar, vor allem der Menschenwürde (Art. 1 GG), des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) oder des Rechts auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (Art. 2 GG).
■ Kindeswohlgefährdungen führen bei den meisten Opfern zu massiven Folgen. Psychosoziale Einschränkungen, körperliche und psychische Erkrankungen oder gar Behinderungen sowie Traumatisierungen verfolgen die Opfer oft ein Leben lang. Im schlimmsten Fall enden Kindeswohlgefährdungen mitunter auch tödlich.
■ Kindeswohlgefährdung ist trotz der zunehmenden medialen Berichterstattung und hochkochender Diskussionen in der Öffentlichkeit im Einzelfall stark tabuisiert. Das führt dazu, dass selbst Kindern und Jugendlichen, die aktiv nach Hilfe suchen, diese oft verwehrt wird – sei es aus Angst oder Unwissenheit der damit konfrontierten Erwachsenen.
■ Kindeswohlgefährdungen stellen oft auch Straftaten dar, die aber nur in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt werden. Die oftmals nicht stattfindende strafrechtliche Verfolgung ist zum einen gewollt und beruht zum anderen auf dem Anzeigeverhalten. Diese Problematik macht das Eingreifen von pädagogischer Seite umso wichtiger, denn dies ist dann der einzige Weg, der den betroffenen Kindern und Jugendlichen die Chance auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände bietet.
■ In jedem Fall stellen alle Formen der Kindeswohlgefährdung ein erhebliches Risiko für die Entwicklung der Opfer dar und bedürfen fachlich fundierter und koordinierter Hilfsangebote und Interventionen.
Körperliche Misshandlung von Kindern und Jugendlichen
Zunächst stellt sich die Frage, ab wann man von einer körperlichen Misshandlung von Kindern und Jugendlichen spricht. Dabei ist zwischen dem gelegentlichen oder seltenen Einsatz von Gewalt als Erziehungsmittel (dem sogenannten „Klaps auf den Po“) und einer körperlichen Misshandlung von Kindern und Jugendlichen zu unterscheiden.
Gewalt als Erziehungsmittel ist pädagogisch sinnlos, verletzt die Würde und grundlegende Rechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ist grundsätzlich abzulehnen. Im Übrigen ist sie auch durch das seit dem Jahr 2000 bestehende Gewaltverbot in der Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) verboten. Doch nicht jede körperliche Züchtigung stellt eine körperliche Misshandlung dar.
Folgende Definition einer „körperlichen Misshandlung“ grenzt diesen Begriff sehr prägnant ab.
Körperliche Misshandlung
Unter körperlicher Kindesmisshandlung könnten alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden werden, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen (Kindler et al., 2006, Kap. 5, S. 3).
Die entscheidende Abgrenzung liegt in den anzunehmenden Folgen einer körperlichen Misshandlung für die Opfer. Von einer Kindeswohlgefährdung durch eine körperliche Misshandlung ist folglich nur auszugehen, wenn ziemlich sicher angenommen werden kann, dass das betroffene Kind oder der betroffene Jugendliche in seiner Entwicklung durch die Misshandlung erheblich beeinträchtigt wird. Dabei können niemals die Gewalthandlungen isoliert betrachtet werden, sondern müssen immer im Kontext anderer Aspekte, wie der Bindung des Kindes oder des Jugendlichen zu den Eltern, der sonstigen personalen und sozialen Ressourcen u.a. gesehen werden. Zu den personalen Ressourcen gehört z. B. die Resilienz des Kindes. Als soziale Ressourcen sind z. B. verlässliche und stabile Beziehungen zu anderen Erwachsenen oder die stützende Einbindung in Institutionen zu sehen.
Wie viele Kinder und Jugendliche sind betroffen?
Eine belastbare amtliche Statistik zur körperlichen Misshandlung von Kindern und Jugendlichen wird in Deutschland nicht geführt. Lediglich die „Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)“ belegt die Fälle, in denen es zu einem Ermittlungs- oder Strafverfahren kommt. Dabei ist davon auszugehen, dass sie nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle abbildet. Für das Jahr 2012 weist die PKS 1.725 Fälle körperlicher Misshandlung von Schutzbefohlenen im Alter von unter 6 Jahren aus. Das heißt, nach dieser Statistik sind 0,4 Promille aller Kinder von körperlicher Misshandlung betroffen – ein unrealistisch geringer Wert, wenn man anderen Aussagen glaubt.
Es ist also nötig, sich anderenorts zu bedienen, um Fallzahlen zu ermitteln. Dazu dienen wissenschaftliche Untersuchungen und Befragungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch Statistiken über das Agieren von Jugendämtern und Polizei.
Dabei wird deutlich, dass die Mehrheit der Eltern (ca. 2/3 aller Eltern) in Deutschland zumindest minderschwere Formen physischer Erziehungsgewalt anwendet, etwa leichte Ohrfeigen oder einen Klaps, was ja noch nicht unbedingt eine Kindeswohlgefährdung darstellt (Engfer, 2005, in: Egle et al., S. 23ff).
Eine Befragung erwachsener Personen nach ihren Erfahrungen mit körperlichen Misshandlungen ergab, dass ca. 10-15 % aller Eltern schwerwiegende und häufige körperliche Bestrafungen ihrer Kinder anwenden. In diesen Fällen ist schon deutlich von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen (Engfer, 2005, in: Egle et al., S. 24ff). Diese erschreckend hohe Zahl zeigt, dass das Phänomen der körperlichen Misshandlung ein Massenphänomen und keine Seltenheit ist. Folglich ist auch anzunehmen, dass betroffene Kinder und Jugendliche (aus anderen Gründen) Ärzten vorgestellt werden und Adressaten von ergo- und physiotherapeutischen sowie logopädischen/sprachtherapeutischen Angeboten sind, was die Verantwortung der dort tätigen Fachkräfte erneut unterstreicht.
Eltern, die ihre Kinder körperlich misshandeln, landen nur sehr selten vor einem Strafgericht (Ausnahme sind sehr schwere Misshandlungen, die z. B. zu einer Behinderung oder dem Tod des Kindes oder Jugendlichen führen). Das ist gewollt, denn es gilt der Vorrang öffentlicher Hilfen vor strafrechtlicher Verfolgung. Und das ist auch gut so, denn der überwiegende Teil der Fälle ist nicht mit den Mitteln des Strafrechts, sondern nur mit Mitteln sozialpädagogischer Hilfen zu bearbeiten.
Warum misshandeln Eltern ihre Kinder körperlich?
Es gibt im Bereich der körperlichen Misshandlung keine einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, sondern es sind eher multifaktorielle Bedingungsgefüge, die das Auftreten von körperlicher Misshandlung begünstigen.
Als besonders begünstigend für körperliche Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen in Familien gelten folgende Faktoren:
Gesellschaftliche Einstellung gegenüber Kindern und generelle Haltung zu Gewalt als Konfliktlösung | Es gibt zwar eine rechtliche und oberflächlich auch gesellschaftliche Ächtung von körperlicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Bei vielen Menschen liegt jedoch auch eine wenig wertschätzende Einstellung gegenüber Kindern und Jugendlichen vor, die diese nicht als Individuen und Träger aller Rechte ansehen. Ferner besteht bei vielen Menschen keine grundsätzliche Ablehnung von Gewalt als Konfliktlösungs- und Erziehungsmittel. |
Ökonomische Ungleichheit und soziale Ausgrenzung | Sozio-ökonomische Schwierigkeiten und die damit verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Deklassierungen von Eltern begünstigen das Auftreten körperlicher Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. |
Prekäre Familiensituationen | ... |