1.1 Stolpersteine, Fragen, Zugänge
Karfreitag ist sperrig geworden. Seine herausragende Stellung als hoher Feiertag hat er verloren. Viele bleiben den Karfreitagsgottesdiensten fern und kommen lieber an Ostern. Andere halten die Tradition aufrecht und spüren dann: Was da gefeiert wird, entfaltet nicht mehr die Kraft, die es einmal hatte. Hat unsere Zeit einfach keinen Zugang zu dem, wofür Karfreitag steht? Wenn ja, woran liegt das? An der Botschaft von Karfreitag? An den sperrigen Symbolen? An der Atmosphäre? An den fehlenden Brücken? An der mangelnden Erschließung? An unserer Scheu, uns dem grausamen Tod am Kreuz auszusetzen?
Manchmal frage ich mich: Warum ist das an Weihnachten anders? Und ich vermute: weil Weihnachten nicht so bedrohlich wirkt. Das Baby ist zwar gefährdet, bedroht, verletzlich. Aber wir können es in Wärme und Geborgenheit hüllen. Wir können als Mitleidende und Fürsorgende auftreten. Wir müssen uns nicht mit dem Baby identifizieren. Wir können uns kümmern, auch um das Baby in uns. Wie viel Freundlichkeit und Fürsorge und Beziehungsvertiefung geschieht an Weihnachten! – Neben den Verpflichtungen, den Streitereien in der Familie, den Einsamkeiten etc., die es natürlich auch gibt. – Wie viele Geschenke werden gekauft, gebastelt und überbracht, manchmal auch für Fremde! Wie viele Menschen freuen sich! In allem liegt die Sehnsucht nach Frieden auf Erden, mit und ohne die ausdrückliche Ausrichtung auf Gott.
Gott als Baby – gefährdet, bedroht, verletzlich. Das ist leichter zu verkraften als ein hingerichteter Mensch oder gar ein hingerichteter Gott, bei dem man nichts mehr machen kann. Dem wir nicht mehr helfen können. Und der sich scheinbar auch selbst nicht helfen kann. Da ist die Zumutung viel größer: dass Gott das mit sich machen lässt! Das passt nicht in menschliche Gottesvorstellungen. Das Kreuz ist eine mächtige und erschütternde Frage an unsere Vorstellungen von Gottes Macht und die Kraft seiner Liebe. Wenn Gott das mit sich machen lässt, was heißt das für uns? Dass unsere Wünsche nach zügiger Beendigung des Leides oft nicht in Erfüllung gehen? Dass Gott uns in der Regel nicht aus dem Leid heraus erlöst, sondern durch das Leiden hindurch? Hat die Christenheit deshalb angefangen, das Kreuz zu »vergolden«? Hat sie angefangen, das Kreuz mit Heilserwartungen und Heilsvorstellungen zu umgeben, die mehr den eigenen Wünschen entspringen, als den biblischen Quellen? Hat sie eine Theorie entwickelt, die das Kreuz als notwendig und gut und heilsam darstellte und damit seine Schrecken in den Hintergrund drängte? Wollte sie sich durch die Rede von der »Heilsnotwendigkeit« des Todes seine Brutalität vom Leib halten? – Hans-Joachim Iwand, mutiger Streiter der Bekennenden Kirche mit hohem Respekt biblischer und protestantischer Theologie gegenüber, formulierte es in seiner Christologievorlesung so:
»Wir haben uns die Härte des Kreuzes, die Offenbarung Gottes im Kreuz Jesu Christi dadurch erträglich gemacht, daß wir es in seiner Notwendigkeit für den Heilsprozeß verstehen lernten [...]. Dadurch verliert das Kreuz den Charakter der Kontingenz, des Unbegreiflichen.«1
Das spiegelt sich auch in meiner eigenen geistlichen und theologischen Entwicklung. Ich habe schon zu Jugendzeiten nicht verstanden, warum ein »stellvertretender Sühnetod« für Gottes Liebe notwendig sein sollte. Ich hörte oft: ›Jesus ist für dich gestorben.‹ Doch mir konnte niemand richtig erklären, warum sich gerade darin Gottes Liebe zeigt. Schon im Religionsunterricht und in der Jugendgruppe fragte ich: Wie konnte Gott Gefallen haben am Tod seines eigenen Sohnes? Warum rettet er die Welt nicht ohne solche Grausamkeiten? Und wenn es schon so grausam sein muss, warum wird das dann als Ausdruck der Liebe Gottes verstanden? Was ist das für eine Liebe? Die Frage brachte andere durcheinander, irritierte und verunsicherte sie. Deshalb musste, so hatte ich den Eindruck, die Sicherheit schnell wiederhergestellt werden: »Das ist eben so.« Oder, etwas differenzierter: »Gott kann die Regeln, die er aufgestellt hat, nicht einfach durchbrechen. Wegen seiner Gerechtigkeit ist Strafe für unsere Sünden nötig. Seine Liebe ist, dass er nicht uns straft, sondern seinen Sohn.« – »Wenn Gott gerecht bleiben will, muss die Sünde gesühnt werden.« – »Vor Gott wiegt jede Sünde schwer. Bei ihm gibt es nicht kleine und große Sünden.« Das hieß: Alle Sünden sind groß. Auf die Idee, dass alle klein sein könnten, kam niemand. Die Antworten befriedigten mich nicht: Warum unterliegt Gott einem Gesetz? Oder unterstellt er sich dem freiwillig? Auf meine Frage, warum Gott an so vielen Stellen – auch schon vor Jesu Tod – einfach gnädig ist, unverdient gütig oder unverschämt barmherzig, bekam ich dann keine Antwort mehr. Manche sagten: »Das mit dem Kreuz musst Du halt glauben.« Was auch immer ›das mit dem Kreuz‹ genau war. ... Manche ergingen sich in längeren Erklärungsversuchen. Meine Fragen waren am Schluss doch nicht vernünftig beantwortet. Ich dachte damals: Wenn meine Sünde auch noch so schrecklich sein mag, Gott muss doch – wenn er wirklich barmherzig ist – einen barmherzigen, weniger grausamen Weg finden, mit meinen Sünden fertig zu werden.
So machte ich mich auf die Suche. Durch christliche Freizeiten, verschiedene Gespräche, durch das Theologiestudium, die Promotion, meine Arbeit mit Jugendlichen und in der theologischen Ausbildung begleitete mich die Frage: Wie kann ich das Kreuz verstehen? Kann ich es überhaupt angemessen verstehen? Wie verbinden sich damit Gottes Gütekraft, seine Liebesenergie und Friedensstärke? Ich hatte verschiedene Artikel dazu geschrieben. Einzelne Entdeckungen verbanden sich zu einem Bild. Irgendwann war mir klar: Ich kann Gottes Liebe am Kreuz nur dann finden, wenn ich sie zunächst woanders suche. Sie erschließt sich mir nur indirekt. Gottes Liebe entdecke ich vor allem und zuerst in der Menschwerdung und in der Auferweckung. Dort wird deutlich: In der Welt mag sich alles ändern – Menschen, ihre Bilder von Gott, Überzeugungen, Kulturen –, auf eines aber ist Verlass: Gott findet immer einen Weg für seine Liebeskraft und Zuwendung. Das hat er darin gezeigt, dass er in diesem Jesus von Nazareth ins Galiläa des 1. Jahrhunderts kam, zunächst abseits von dem religiösen Zentrum in Jerusalem und am Rand des damaligen römischen Großreichs. Auch seine Kreuzigung konnte diese Zuwendung Gottes nicht zerstören, vernichten, töten. Gott hat Phantasie genug, sich neu zuzuwenden und seiner Güte Kraft zu verleihen. Er erweckt den brutal Gekreuzigten von den Toten: Er stiftet neues Leben und lässt seine Geistkraft wirksam werden. So kommt Gott auch zu uns, hinein in unsere menschliche und religiöse Entwicklung, in unsere Zeit und Gesellschaft. Und er wirbt darum, sich auf ihn einzulassen, umzukehren, dem Leben zu dienen. Paulus hat das in dem Spitzensatz zusammengefasst: »So bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.« (2. Kor 5,20) Es bleibt die Frage: Welche Bedeutung hat in all dem das Kreuz Jesu?
Meine Suche nach Antworten wird auch durch Gottesdiensterfahrungen in der Passionszeit und am Karfreitag angestachelt: Dort erlebe ich teilweise hervorragende Erzählungen der Passionsgeschichte (dazu mehr in Teil 3). Ich kann mich hineinversetzen, die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven miterleben, mich mit dem Geschehen auseinandersetzen. Doch sobald es um die Bedeutung dieses Geschehens geht, werden auch eloquente und theologisch fitte Kolleginnen und Kollegen eigenartig sprachlos, hölzern, formelhaft. Entweder sie meiden klassische Formeln ganz, z.B. dass Jesus »für uns« gestorben ist, dass er stellvertretend für uns sein Leben hingab etc. Oder sie nennen sie in dieser Formelhaftigkeit, ohne zu entfalten, was damit gemeint ist. Ich sage nicht, dass die Entfaltung leicht wäre. Und ich verstehe die Sorge vor Missverständnissen und Einseitigkeiten. Manchmal frage ich mich: Wirke ich auch so? So hilflos? So amtsmäßig? Mehr erlernt als überzeugt? Mehr der Tradition ergeben als von der eigenen Suche angetrieben? Gibt es nicht mehr zu sagen? Ich möchte mich nicht zufrieden geben mit der Wiederholung bekannter Formeln. Ich wünsche mir vielfältige Auseinandersetzung. Ich möchte etwas spüren vom Widerstand und den Entdeckungen der Einzelnen, ihrem Verstehen und den offenen Fragen.
Andere Predigerinnen und Prediger entfalten die bekannten Formeln nach wie vor in vertrauter Weise. Aber es wirkt gleichzeitig eigenartig fremd, wenig im Leben, in den Fragen des Alltags, in dem Unverständnis der Gesellschaft verwurzelt. Wieder andere üben sich im Gegenteil. Sie verabschieden, was unverständlich wirkt. Sie suchen Worte, die akzeptabel scheinen. Das wirkt dann manchmal banal. Mein Eindruck ist: Beides wird der Störung durch das Kreuz, der Gottesgegenwart in der Tiefe, dem Geheimnis Gottes in dieser Welt, der Heilskraft, die von ihm ausgeht, nicht gerecht.
Wenn ich nach der Bedeutung des Kreuzes frage, suche ich einen Weg, der weder in den bekannten Formeln stecken bleibt, noch sie einfach verabschiedet; einen Weg, der die Sprach- und Hilflosigkeit aushält und überwindet; einen Weg, der das Anstößige des Kreuzes ernst nimmt, aber nicht jede Deutung, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat, für plausibel halten muss; einen Weg, der hoffentlich auch zu neuen Deutungen führt, in denen sich die alte Kraft des Kreuzes entfaltet; einen Weg, der dem Kreuz Facetten abringt, die an unsere gegenwärtigen Herausforderungen andocken und dort ihre Wirkung entfalten.
Um mein Verständnis zu weiten,...