In den Wehen
Ich bereue es, Mutter geworden zu sein,
und ich liebe mein Kind über alles.
»Mama, noch mal!«
»Ja«, seufze ich.
»Mama, höher!« Ich schubse Emma auf der Schaukel an. Sie kräht vor Freude. 5 Uhr nachmittags. Seit einer Stunde hängen wir auf diesem Münchner Spielplatz rum.
»Wir gehen jetzt dann bald nach Hause«, sage ich.
»Nein!«, ruft Emma. Emma liebt Spielplätze. Ich hasse sie. Was natürlich so nicht stimmt. Was mein Kind liebt, das mag ich mindestens. Zur Not auch den Fettrand von Fleisch. Na gut, meistens. Muss ich alles mögen, was mein Kind mag? Ich werfe einen Blick zu den Müttern im Sandkasten. Für sie scheint es nichts Schöneres zu geben, als Sandkuchen zu backen, weil alles, was dein Kind erfreut, dich zutiefst beglückt. Du strahlst rund um die Uhr. Du bist Mutter! Ergriffen beißt du in einen Sandkuchen.
Ich schubse die Schaukel noch mal an, während ich ausrechne, wie viel Zeit mir bleibt, wenn wir jetzt gleich gehen. Heute ist noch viel zu tun. Wenn alles ohne Pannen läuft, könnte ich vor Mitternacht noch eine halbe Stunde für mich rausschlagen. Die Aussicht beflügelt mich.
Wieso machen alle anderen Mütter auf dem Spielplatz den Eindruck, gern hier zu sein? Wird ihr inneres Kind erweckt oder ist ihre Liebe größer? Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und dem Sandkasten entwachsen. Ich würde lieber was lesen. Oder arbeiten. Oder wenigstens den Einkauf schon erledigt haben, der ja mit einem Kind ewig dauert. Alles dauert ewig.
Ich bin undankbar. Ich habe ein gesundes, frohes Kind und freue mich, weil es so hoch schaukelt. Wir lachen, meine kleine Emma und ich. Ein schöner Moment. Wie viele schöne Momente braucht es, um den Verlust des eigenen Lebens auszugleichen? Von außen betrachtet wirke ich wie die anderen Mütter. Es kann ja keiner in meinen Kopf reinschauen, in dem diese schwarzen Rabenmuttergedanken herumflattern. Vorhin zum Beispiel, als die zwei Jungs sich kreischend um die Schaufel stritten. Da fiel mir mein schwuler Kumpel Schantalle ein. Wir kennen uns von einem Job in meiner Studienzeit. Ich war von einem Spielwarenhersteller als Walking Act in Form eines Steifftier-Teddybärkostüms gebucht. Schantalle verteilte Luftballons an Kinder. Dies war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Schantalle sagte neulich: »Stell dir vor, du hättest ein Blasrohr mit Betäubungspfeilen. Und immer, wenn du eine Verschnaufpause, Mutterpause brauchst, schießt du einen Pfeil ab auf dein Kind. Die Betäubung ist natürlich total gesund. Vitamin C und B2 und Folsäure, und die Pfeilspitze ist 100 Prozent bio. Dein Kind setzt sich hin und gibt zehn Minuten Ruhe. Schöne Träume garantiert.«
Entgeistert starrte ich ihn an, dann lachte ich laut heraus. Und dann sagte ich: »Du spinnst!« Denn so was sagt man nicht. Man denkt es nicht mal. Aber irgendwie gefiel es mir. So ein Blasrohr könnte man auch in anderen Situationen gut gebrauchen. Wir feilten an unserer Idee. Man sollte verschiedene Betäubungszeiten anbieten. Fünf Minuten, zehn, zwanzig. Schantalle meinte, wir würden damit reich. Ich vermutete, wir würden gesteinigt. Denn das Verhalten gegenüber sogenannten Rabenmüttern, die sich oft keines anderen Vergehens schuldig machen, als hin und wieder den Wunsch zu äußern, behandelt zu werden wie ein erwachsener Mensch, ist mittelalterlich. Leider gibt es kaum jemanden, mit dem ich mich so ketzerisch amüsieren kann wie mit Schantalle, da dies gegen den Mutterkodex verstößt, und der kennt keine Gnade. Du darfst dich zwar beschweren, aber immer nur in witzigem Ton, und auch die kleinste Kritik an deinem Leben als Mutter musst du sofort tausendfach ausbügeln, pampern, wegwischen, glätten, für null und nichtig erklären, war ja nur ein Witzchen. Ich behielt meine Kommentare meistens für mich. Ich wollte nicht als gefühllos, hartherzig und so weiter gelten, bloß weil ich die Wahrheit sage. Ich würde das zwar aushalten, aber womöglich müsste Emma meine Ehrlichkeit ausbaden.
Ich möchte alles dafür tun, dass mein Kind glücklich wird. Aber inzwischen ist mir bewusst, dass ich dabei womöglich über die Klinge springe. Die Mutter wird geboren, der Mensch, der sie vorher war, bleibt auf der Strecke.
Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich nicht allein bin. Dass in vielen rosig getünchten Müttern mit Nuckiflaschen, Stofftieren, Kinderwagen und Still-BHs auch solche Gedanken herumflattern. Okay, nicht in allen Müttern. Aber doch in einigen. Vielleicht sogar in relativ vielen? Solange alle schweigen, bleibt es ein Geheimnis und mehr: ein Tabu.
Die bereute Mutterschaft
Dann kam diese Nachricht, die mich elektrisierte. Ich war nicht allein! Es gab noch andere Frauen, die so empfanden wie ich. Immerhin dreiundzwanzig Stück auf der ganzen Welt! Und diese Zahl schlug dermaßen ein, dass nicht nur die sozialen Netzwerke heiß liefen, sondern auch die Süddeutsche, Der Spiegel, der Stern und viele andere darüber berichteten, und sogar in das heute journal des ZDF schafften es die dreiundzwanzig Abweichlerinnen. Eine Bombe! Mütter, die bereuten, Kinder bekommen zu haben. Das gibt’s doch nicht. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Mann ein Kind stillen würde, das liefe auch weltweit über den Ticker. Das ist … wider die Natur! Eine Soziologin namens Orna Donath hatte israelische Mütter im Alter von Mitte zwanzig bis Mitte siebzig befragt. Die meisten sagten, dass sie zwar ihre Kinder liebten, aber die Mutterschaft hassten, und dass sie durch ihre Kinder ihr Leben, ihre Autonomie und ihre Identität verloren hätten. Sie würden sich heute gegen Kinder entscheiden.
Bis zu diesem Tag kannte ich in der Kombination Mutter und Reue nur eine Frage: Bereust du es, dass du keine Kinder hast? Und sie wurde Frauen gestellt, die keine mehr kriegen konnten, weil ihr Zug in die Menopause abgefahren war. Wildfremde Leute können Rechenschaft verlangen, und die kinderlosen Frauen, die man auch kinderfrei nennen könnte, müssen sich dann rechtfertigen. Sie machen es sich leichter, wenn sie antworten: Ich hätte gern welche gehabt, aber es hat nicht geklappt. Zuzugeben, dass man kein Kind wollte, kommt nicht so gut an. Dann ist man egoistisch, karrieregeil, gefühlskalt und noch viel Unschönes mehr. Nebenbei bemerkt: nur als Frau. Für einen Mann ist das okay. Der hat dann eine Berufung, macht sein Ding oder er ist einfach freiheitsliebend, ein toller Typ, um den sich die Frauen reißen, später erst recht, dann hat er nämlich keine »Altlasten« wie so viele Männer, die für Kinder aus gescheiterten Beziehungen bezahlen, oft zum Leidwesen ihrer neuen Partnerinnen. Habe ich schon mal gehört, dass irgendwo ein Mann gefragt wurde, ob er es bereut, keine Kinder zu haben? Nein. Aber ich habe die Frage selbst schon älteren Frauen gestellt. Heute schäme ich mich dafür. Was geht mich das an? Wieso fallen beim Thema Kind sämtliche Höflichkeits- und Benimmregeln weg?
Und jetzt kommen da auch noch dreiundzwanzig Mütter daher und sagen: Übrigens, ohne Kind war mein Dasein schöner.
Eine Frau, die sich das in Deutschland zu sagen traut, braucht ein dickes Fell. Die darf so leicht nichts umhauen. Die muss damit umgehen können, schräg angeschaut zu werden. Es müsste so eine sein wie ich, dachte ich. Ich habe Schlitzaugen und bin daran gewöhnt, zu einer Minderheit zu gehören. Wenn Sie jetzt eben zusammengezuckt sind, dann ist das nett von Ihnen, in meinem Fall aber nicht nötig. Ich bin mit dem Wort seit meiner Kindergarten- und Schulzeit vertraut – bis zur Pubertät. Dann wurde ich mandeläugig und der Hit. Die Mädchen wollten meine Freundin sein, die Jungs wollten mit mir knutschen. Ich genoss diese Wende. Nach so vielen Jahren war ich plötzlich in. Dabei bin ich genauso deutsch wie meine Schulkameradinnen und -kameraden. Ich bin hier geboren, im Alter von fünf Tagen adoptiert worden und in der Nähe von Freiburg aufgewachsen, wo ich eine durch und durch deutsche Kindheit und Jugend erlebte, mein Vater ist Lehrer. Aber mir wuchs ein dickeres Fell als vielen anderen, und ich lernte, mich von der Meinung anderer unabhängig zu machen. Ich lernte auch, meine Mitmenschen nicht vorschnell zu be- und verurteilen. Toleranz bereichert das Leben. Ich würde nie auf die Idee kommen, Mütter, die es nicht bereuen, Kinder gekriegt zu haben, zu verunglimpfen. Das geht mich doch nichts an! Die werden schon ihre Gründe haben, so wie ich meine habe. Und ich war neugierig, und manchmal beneidete ich die rundum glücklichen Mütter auch.
Als ich zum ersten Mal von Regretting Motherhood hörte, fielen mir die vielen Väter ein, die ihre Vaterschaft wahrscheinlich bereuen, weil sie beispielsweise keine Alimente zahlen und sich sonst auch nicht oder kaum um ihre Kinder kümmern. Mütter kümmern sich nicht nur, sie vierteilen sich geradezu, um alles unter einen Hut zu bringen, was das moderne Leben ihnen abverlangt. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt, als ich schwanger war. Mittlerweile hatte mich die Realität eingeholt, die ich zweieinhalb Jahre lang für mein persönliches Dilemma gehalten hatte. Nun plötzlich war ich nicht mehr allein. Waren wir 23 oder 230 oder 2300 oder 23 000 oder 230 000 oder noch viel, viel mehr, die ihr Leben mit Kindern hin und wieder oder überwiegend als Last und Frust empfanden?
Sie alle hatten es offenbar kapiert, wie ich: Mütter zahlen keine Alimente, Mütter zahlen in Naturalien. Mit Lebenszeit, Karriereaus, Schlafmangel, Freiheit, Inkontinenz, Gewichtszunahme, Armut, Verblödung, Hängebrüsten, Nervenkostümdurchlöcherung, Langeweile, Dehnungsstreifen, Depressionen, Romantikverlust, Unterforderung, Burn-out,...