I. Theoretische Grundlagen
I.1. Der Labyrinth-Mythos
Die verwirrenden Wege des Labyrinths, seine geheimnisvollen Figuren und seine unlösbaren Paradoxen übten eine fortwährende Faszination auf die Künstler und Schriftsteller aller Zeiten aus.
Das klassische Labyrinth[6] – ein komplexes künstliches Bauwerk von Knossos (Kreta), dazu errichtet, um den monströsen Minotaurus zu verheimlichen – wandelte sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts in ein Sinnbild der Welt um, wo moderne Minotauren, Theseen, Ariadnen und Dädalen ihre Platz zu finden versuchen. In seiner Abstraktheit erscheint das Labyrinth in Gestalt zahlloser Korridoren, die immer in andere unendliche Korridoren abzweigen (s. Dürrenmatt, Kafka, Borges), in Gestalt einer Stadt (s. Joyce, Dölbin, Calvino), einer Bibliothek (s. Borges, Eco) oder des Inneren des menschlichen Wesens (s. Kafka, Dürrenmatt, Pavič). Diese letzte Metamorphose fügte dem Labyrinth-Bild eine metaphysische Perspektive hinzu, die besonders für die Werke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergiebig wird.
Die oben erwähnten Umwandlungen des Labyrinth-Mythos sind nur einige Beispiele aus den mannigfaltigen Verwandlungsfähigkeiten des Labyrinths, besonders wenn es von der schöpferischen Imaginationskraft verarbeitet wird.
Umberto Eco[7] spricht über drei topographische Modelle, auf die man die vielfältigen Formen von Labyrinthen einschränken kann; das klassische Labyrinth hat einen einzigen Eingang, der notwendig in sein Zentrum führt, und einen einzigen Ausgang, der aus seinem Zentrum herausführt. Dieses Einweglabyrinth kann metaphorisch durch einen Faden (nämlich den Ariadnefaden) dargestellt werden.
Das zweite Modell ist das manieristische Labyrinth, oder der Irrweg, innerhalb dessen nur ein einziger Weg aus seinen zahllosen Sackgassen zum Ausgang führt. Jeder Pfad zweigt ab und bietet dem Besucher eine alternative Wahl an. Deshalb nimmt der entfaltete Irrweg die Form eines Baums.
Die dritte Art von Labyrinth ist ein Netz, ein System von untereinander verknüpften Vielecken, ohne äußeren Grenzen. Da die Verbindung eines Punktes mit jedem anderen Punkt des Netzes möglich ist, und außerdem jede neue Verbindung die vorherigen Verbindungen korrigiert, kann man sich vom Labyrinth kein stabiles Bild machen. Man muss dafür seine Vorstellungen immer neu korrigieren. Eco nach ist dieser Labyrinth-Typus dem Rhizom[8] ähnlich. Wie ein Rhizom, schließt es den ganzen Raum (und Zeit) ein. Demzufolge hat das rhizomatische Labyrinth kein Äußeres und kein Inneres, es ist abmontierbar und reversibel, immer verwandlungsfähig. Es folgt notwendig davon, dass es für das menschliche Wesen unmöglich und zugleich undenkbar ist, das Labyrinth zu verlassen oder zu überwinden.
Das Bild eines Raums, der sich ad infinitum vervielfacht, der keine Übersichtlichkeit bietet, wird zu einer Metapher für Orientierung (oder eher für Desorientierung) in einem Universum, das für den Menschen unlesbar bleibt. Die Postmoderne - fasziniert von der Ambiguität und Aporie, vom Paradoxon und Inkommensurabelen - übernahm das Labyrinth (besonders das rhizomatische Labyrinth) als seine strukturierende Metapher.
Die Labyrinth-Metapher aber lässt eine mehrschichtige Problematik entfalten, die sich, wie ein Rhizom, in mehrere Richtungen, in verschiedene miteinander kreuzende Bereiche ausbreitet, was den Überblick verhindert. Dies ist der Grund, weshalb nur diejenigen Aspekte zur Diskussion gestellt werden, die auf das Thema dieser Arbeit zielen und die den theoretischen Hintergrund für die Analyse des Spiegellabyrinthmotivs in Dürrenmatts Minotaurus bieten. Gemeint werden hier : (1) der philosophische Aspekt (die Perspektive aus der Erkenntnistheorie und einige ontologische Fragen, die die Labyrinth-Problematik stellen könnte), (2) der semiotische (und zwar das Labyrinth als reiner Signifikant) und (3) der narratologische Aspekt (nämlich die Perspektiven über das Labyrinth). Offensichtlich lässt das Labyrinth-Motiv diese Aspekte nicht isoliert erscheinen, einer zieht den anderen mit sich hinein und es ist oft unmöglich und zugleich unproduktiv, sie getrennt zu betrachten. Trotzdem werden wir aus methodischer Überlegung versuchen, die wichtigsten Aspekte jedes Bereiches voneinander getrennt zu behandeln.
Außerdem muss es hier festgestellt werden, dass der Labyrinth-Mythos von den Philosophen und Schriftstellern der Postmoderne in verschiedenen Arten verarbeitet wurde, so dass der Mythos sich entweder in eine Metapher, oder in ein Glechnis umwandelte, das ein Modell für ihre Weltanschauung bilden lässt. Andererseits verwandelte sich der Mythos in ein literarisches Motiv oder Thema, oder häufiger wurde er in der postmodernen Literatur als Struktur des literarischen Texte funktionalisiert. Deshalb werden wir uns aus terminologischer Sicht auf den Labyrinth-Mythos kontextuell als Labyrinth-Metapher, Labyrinth-Gleichnis, Labyrinth-Motiv oder als labyrinthische Struktur beziehen.
(1) Die philosophische Dimension des Labyrinths ist dadurch erkennbar, dass der, der seine verwickelten Gänge durchwandert, eine Reihe von Erkenntniserfahrungen erlebt: „zum einen die Erfahrungen des modernen Menschen mit sich selbst, zum anderen die mit der Welt, welche er erfährt und in ihrer Struktur zu begreifen versucht“[9]. Aus diesem Blickpunkt betrachtet, wird das Labyrinth in der Postmoderne zum entsprechenden Sinnbild desorientierender Raumerfahrungen. Als „Ära der Indifferenz: der austauschbaren Individuen, Beziehungen, Wertsetzungen und Ideologien“[10] führt die Postmoderne zu Pluralisierung und Partikularisierung der Formen der Erkenntnis. Nach dem Zerfall der großen Metaerzählungen ist keine Erkenntnisform legitimiert, universelle Geltung zu beanspruchen, so Deleuze[11]. Es gibt keine universellen, überindividuellen Wahrheiten, sondern nur Einzelwahrheiten, die jeder für sich selbst erschafft.[12]
Diese Axiome hat Dürrenmatt in einem ausdrucksvollen Gleichnis formuliert[13]: Man stellt sich ein Labyrinth von Korridoren mit vielen Nischen vor, in dem Gefangene und Wärter gegenübersitzen. Man weiß nicht, wer Gefangener und wer Wärter sei. Sie selben wissen es nicht. Man könnte es durch reines Denken erfahren – dafür bleibt er ewig in seiner Nische, indem er über das Gefängnis spekuliert – oder man könnte versuchen die Ausgangstür zu öffnen und hinauszugehen. Das Freiheitskriterium würde aber in diesem Fall nicht funktionieren. Einmal die Tür geöffnet, hält niemand ihn am Ausgang zurück; aber auf der anderen Seite der Tür findet er sich vor einem anderen Korridor mit anderen Nischen und gegenübersitzenden Menschen wieder. Hinter jeder Ausgangstür gibt es immer neue Korridore, neue Nischen und neue Ausgangstüre. Am Ende findet der Mensch eine leere Nische, in der er sich wirft, und es wird ihm bewusst, dass es keine Flucht gibt, nur die eigene Entscheidung, sich als Wärter oder als Gefangener zu betrachten. Denn die Freiheit kommt nicht von außen, sondern sie ist „eine Bestimmung des Geistes“[14].
Dürrenmatts Text zeigt, inwiefern die Literatur und die Philosophie in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengelaufen sind: das Labyrinth wurde von einem reinen literarischen Thema zu einem ästhetischen Ausdrucksmittel von Erkenntnis- und Metaphysikkritik. Zugleich entspricht das Fragment der postmodernen Tendenz, die epistemologische Unsicherheit der Moderne (bzw. die Frage nach den Grenzen des Erkennbaren und des menschlichen Wissens) mit der Dominanz der ontologischen Fragestellung zu ersetzen[15].
„Was ist dies für eine Welt?“, „Was soll in dieser Welt gemacht werden?“, „Welche Welten gibt es, wie sind sie beschaffen und wie unterscheiden sie sich?“. Solche und andere ontologische Fragen – im engen Zusammenhang mit dem Labyrinth-Motiv – werden auch von J.L.Borges in verschiedenen Erzählungen thematisiert und poetisch realisiert. Entweder stellt er sich das Labyrinth als ein künstliches Bauwerk mit unendlichen, miteinander identischen Korridoren und inneren Höfen (Das Haus von Asterion)[16] vor, oder als eine Wüste mit unlösbaren Wegen (Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe)[17]. Die Labyrinthe von Borges desorientieren und erschrecken durch ihre alltägliche Monotonie.
Es ist eben diese Monotonie, die jede Orientierungsmöglichkeit ausschließt. Da es kein Zentrum mehr gibt, in das sich alle Wege ausrichten, ist auch ein Ausweg nicht mehr möglich. Das klassische Labyrinth hatte die Funktion eines Initiationswegs, eines Weges der geistlichen Selbstsuche, der Konfrontation mit eigener Monstrosität; dieser Prozess löst sich auf im Überwinden seines Selbstes und dadurch in der Überwindung des Irrationalen, d.h. des Minotaurus, innerhalb der Mauern des Labyrinths eingeschlossen. Der siegreiche Held kommt aus diesem Ort des Werdens[18] mit höherem Verstehen der Ordnung der Welt heraus. Durch den Sieg über den Minotaurus ist Theseus darauf vorbereitet, die politische Ordnung in Athen einzusetzen.
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