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E-Book

Das Leben Michelangelos

Biografie

AutorHerman Grimm
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl1069 Seiten
ISBN9783752861037
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Der Kunsthistoriker Herman Grimm (1828-1901) ist ein Sohn des bekannten Märchensammlers Wilhelm Grimm. Herman Grimm legt in seinen Werken großen Wert auf eine lebendige, anschauliche, und originelle Sprache, die Geschichte für den Leser zu einem lebendigen Ereignis werden lässt. Grimms Michelangelo-Biographie von 1868 gehört bis heute zu den Standardwerken über den großen italienischen Maler, Bildhauer, Baumeister, und Dichter der Renaissance.

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Leseprobe

Zweites Kapitel


I

Nach denselben Gesetzen, nach denen in unserem Gedächtnisse das, was wir erlebten, feste Formen annimmt, bildet sich im Bewußtsein der Völker die eigene Geschichte und in dem der ganzen Menschheit das Gefühl vom Inhalte ihrer Vergangenheit. Es wäre als Resultat der vergleichenden Wissenschaft vielleicht natürlich, die Schöpfungsfrage ganz beiseite zu lassen und ein in unabsehbare Jahre rückwärts sich verlierendes Menschengewimmel anzunehmen, dessen Entstehung einstweilen nichts aufklärt. Das aber widerspricht noch dem allgemeinen Geiste. Die Leute verlangen zu hören, daß ein Paar geschaffen sei, plötzlich, durch einen Willensakt Gottes, daß von ihm die Völker abstammen, die heute noch leben. Je weiter wir zurückschauen, um so leerer und lichter erscheinen die Länder. Stärkere, schönere, einsamere Menschen wohnten in ihnen. Immer volkreicher werden dann die Erdteile und gewöhnlicher ihre Bewohner, immer seltener die großen Männer, und diese selbst geringer der Qualität nach. Endlich kommen wir so auf die eigene Zeit, die keine Helden mehr gebiert, wo der erbärmlichste Kerl, der lebt, ißt und trinkt, wie der edelste seinen eigenen Namen hat, dem er mit gemeinen Mitteln ein Echo aus den vier Enden der Welt verschaffen könnte.

Diese Betrachtung der Begebenheiten scheint dem Gefühle des Volkes zu entsprechen. Wir begegnen ihr überall. So erzählen wir und lassen uns erzählen; das Reine, Heroische liegt in der Vergangenheit, das Gemeine in der Gegenwart.

Allein es greift eine andere Ansicht von den Dingen um sich.

In der Zeit, in welcher ein Vulkan erkaltet und sich aus seinen erstarrten Lavaströmen ein waldbewachsenes Gebirge bildet, während der Krater nun ein stiller, tiefliegender See ist, sterben Generationen auf Generationen hin. Es bedurfte drei- bis viertausend Jahre etwa, um diese Umwandlung zu vollenden. Sie ist heute so deutlich zu erkennen, daß gar kein Zweifel darüber waltet, wie sie vollbracht worden sei. Solcher Langsamkeit gegenüber erscheinen die längsten Kriege der Menschen wie das rasche Wegflackern eines Reisigfeuers und das durch Jahrzehnte hingezogene Leiden eines Mannes kurz wie der augenblickliche Tod eines Käfers, dem man mit dem Fuße gelegentlich sein bißchen Leben austritt; die fernsten mythischen Zeiten der Geschichte liegen in ganz behaglicher, handgreiflicher Nähe vor uns. Es lebten damals Menschen wie heute, aßen, tranken, liebten und zankten sich. Man hat in den Seen der Schweiz Überbleibsel von Völkern entdeckt, deren Dasein all dem vorauszugehen scheint, was wir heute die Geschichte Europas nennen. Man fand halbverbranntes Korn, Scherben, Handwerkszeug und allerlei Knochenwerk. Es erscheint so wenig riesenhaft wie die Werkzeuge und Schädel der Indianer, die heute wahrscheinlich unter denselben Bedingungen leben, wie jene Leute getan, von denen wir nicht wissen, wohin sie gegangen sind.

Was sind wir mit unseren Maßen von Raum und Zeit? Was bedeutet die Erde, wenn wir sie als den einen Stern unter unzähligen anderen betrachten? Wie viel Revolution erlebte sie, ehe Menschen da waren, wie lange waren Menschen da, ehe sie sich der Vergangenheit zu erinnern anfingen? Die paar tausend Jahre, die wir mit dem Namen Geschichte bezeichnen, sind ein spannenlanger Abschnitt von einer Strecke, die nach Meilen gemessen werden könnte. Nicht mehr lange, und es wird die richtige Ansicht über diese Verhältnisse in das Volk dringen. Den Römern waren noch die Teile von Deutschland, welche jenseits der Elbe liegen, ebenso nebelverhüllte Märchenländer wie dem Mittelalter zur Zeit der Entdeckung von Amerika die Inseln des stillen Ozeans. Heute spricht der gemeine Mann von Südamerika, Australien und Japan und von den Epochen der Erdbildung. Unserem Gefühl von heute liegt die Zeit des Heroismus schon nicht mehr in der Vergangenheit, sondern wir erwarten sie als die schönste Frucht der Zukunft, wir steigen empor, nicht abwärts. Wir befinden uns in einer Krisis der Anschauungen. Wir blicken mit Geringschätzung hinter uns und erwarten neue Offenbarungen des Menschengeistes, größere Dinge, als sie die Welt jemals gesehen hat.

So gewiß die Bahnen der Gestirne ineinandergehen, daß jedes den Weg des anderen bedingt und mit seinen geringsten Eigentümlichkeiten sich fühlbar macht, so gewiß bilden die Menschen, welche leben, gelebt haben und leben werden, in sich ein ungeheures System, wo die kleinste Bewegung jedes einzelnen unmerklich meistens, aber dennoch bedingend auf den allgemeinen unaufhaltsamen Fortschritt einwirkt. Die Geschichte ist die Erzählung der Schwankungen, die im Großen eintreten, weil im einzelnen die Kräfte der Menschen ungleich sind. Unser Trieb, Geschichte zu studieren, ist die Sehnsucht, das Gesetz dieser Funktionen und der sie bedingenden Kraftverteilung zu erkennen, und indem sich hier unserem Blicke Strömungen sowohl als unbewegliche Stellen oder im Sturm gegeneinander brausende Wirbel zeigen, entdecken wir als die bewegende Kraft Männer, große, gewaltige Erscheinungen, die mit ungeheurer Einwirkung ihres Geistes die übrigen Millionen lenken, die, niedriger und dumpfer, sich ihnen hinzugeben gezwungen sind. Diese Männer sind die großen Männer der Geschichte, die Anhaltspunkte für den in den unendlichen Tatsachen herumtastenden Geist; wo sie erscheinen, werden die Zeiten licht und verständlich, wo sie fehlen, herrscht unverwüstliche Dunkelheit; und werden uns Massen sogenannter Tatsachen aus einer Epoche mitgeteilt, der große Männer mangeln, es sind lauter Dinge ohne Maß und Gewicht, die zusammengestellt, so bedeutenden Raum sie einnehmen, kein Ganzes bilden.

Es gibt ein allgemeines Gefühl über das, was groß ist. Die Menschheit hat es immer gewußt, es braucht nicht erklärt zu werden. Jedes Menschen Wert und Einfluß hängt davon ab, inwieweit er fähig ist, selber groß genannt zu werden oder sich denen anzuschließen, die es sind. Nur was unter diesem Gesichtspunkte sichtbar wird vom Menschen, bildet seine unvergängliche Persönlichkeit. Ein Herrscher, der mit eiserner Willenskraft Nationen in das Fahrgeleise seiner Launen hineinzwängt, wird spurlos vergessen werden; nachdem er eine Zeitlang als eine Art Affe der Vorsehung genannt worden ist, verschwindet der Begriff seiner Person, und der Name folgt ihr. Ein elender, dunkler Sterblicher, der den Zustand seines Volkes tief empfindend einen fruchtbaren Gedanken faßte und aussprach, dessen das Volk bedurfte, um einen Schritt vorwärts zu kommen, ist unsterblich in seiner Wirksamkeit. Und wenn sein Name vergessen werden sollte, man wird immer fühlen, an jener Stelle muß ein Mann gestanden haben, der eine Macht war.

So erweckt in uns das Studium der Geschichte nicht mehr Trauer über den Hingang schönerer Tage, sondern Gewißheit ihrer zukünftigen Erscheinung. Wir schreiten fort, wir wollen die kennen lernen, die zu allen Zeiten vorangingen. Das Studium der Geschichte ist die Betrachtung der Begebenheiten, wie sie sich zu den großen Männern verhalten. Diese bilden den Mittelpunkt, von dem aus das Gemälde konstruiert werden muß. Der Enthusiasmus für ihre Person verleiht die Fähigkeit, den richtigen Standpunkt ihnen gegenüber einzunehmen. Man will betrachten und anderen die Gabe der Betrachtung mitteilen. So meinte es Goethe, als er sagte der einzige Nutzen der Geschichte sei die Begeisterung.

Unsere Sehnsucht ist, die edelste Ansicht von der Menschheit zu gewinnen. Wenn wir die großen Männer anschauen, ist es, als sähen wir eine siegreiche Armee als die Blüte eines Volkes einherziehen. So hoch als im Momente eines solchen Triumphzuges auch der niedrigste Soldat des Heeres über allen Zuschauern steht, so erhaben über der unübersehbaren Masse der Sterblichen steht auch der geringste unter jenen, die wir große Männer nennen. Es schmückt sie alle derselbe Lorbeer. Eine höhere Gemeinschaft findet statt unter ihnen. Sie schieden sich ihrem irdischen Auftreten nach: jetzt stehen sie dicht beieinander, Sprache, Sitten, Stand und Jahrhunderte trennen sie nicht mehr. Sie reden alle eine einzige Sprache und wissen nichts von Adel oder Pariatum, und wer heute oder zukünftig wie sie denkt und handelt, steigt hinauf zu ihnen und wird in ihre Reihen aufgenommen.

II

Aus der Zahl der Bürger von Florenz sind drei als große Männer zu bezeichnen: Dante, Leonardo da Vinci und Michelangelo. Raffael stammte aus Urbino; doch darf er dazu gerechnet werden, weil er als Künstler für einen Florentiner gelten könnte. Dante und Michelangelo stehen am höchsten. Es ist nicht die Folge einseitiger Vorliebe, wenn dies Buch, das sich mit der Blüte der florentinischen Kunst beschäftigt, Michelangelos Namen an der Stirn trägt. Ein Leben Raffaels oder Leonardos würde doch nur ein Bruchstück von dem des Michelangelo bedeuten. Seine Kraft überbietet die ihre. Er allein beteiligt sich an der allgemeinen Arbeit des Volkes. Samt seinen Werken ragt er empor wie eine Erscheinung, die sich von allen Seiten der Betrachtung bietet, wie eine Statue, während jene beiden mehr wie prächtige Bildnisse erscheinen, die stets dasselbe lebendige Antlitz, aber auch stets von derselben Seite zeigen.

Das Gefühl, daß Michelangelo so hoch stehe, bildete sich früh bei seinen Lebzeiten in Italien nicht allein, sondern verbreitete sich über Europa. Es kommen deutsche Edelleute nach Rom: das erste, was sie verlangen, ist Michelangelo zu sehen. Auch daß er so alt wurde und in zwei Jahrhunderten lebte, ist ein Teil seiner Größe. Wie Goethe genoß er im Alter die Unsterblichkeit seiner Jugend. Er wurde zu einem Elemente in Italien. Wie ein alter Felsen, um den man einen Umweg macht im Meere, ohne sich...

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