1. Die Verhaftung
Still! Kein lautes Wort mehr! Wer ist noch im Badezimmer? Der Wasserhahn läuft immer noch. Jetzt bloß nicht mehr die Spülung ziehen. Leise, leise. Seid nicht so unvorsichtig. Psst. Nach zwei Jahren könntet ihr wirklich wissen … Nachttöpfe ausleeren. Betten zurückschieben. Schuhe ausziehen! Die Glocken läuten schon. Um halb neun, wenn die Lagerarbeiter kommen, muss es still sein.
Das tägliche Morgenritual im Hinterhaus: Um Viertel vor sieben läutet im Zimmer von Hermann und Auguste van Pels der Wecker. Sein Scheppern reißt auch die Familie Frank und Fritz Pfeffer ein Stockwerk tiefer aus dem Schlaf. Dann ein Schlag – jetzt hat Frau van Pels den Wecker abgestellt. Das Knarren, erst stockend, dann immer bestimmter – Herr van Pels steht auf und klettert vorsichtig die steile Holztreppe hinab. Wie immer ist er der Erste im Badezimmer.
Anne wartet im Bett, bis sie die Badezimmertür abermals knarren hört. Ihr Zimmergenosse Fritz Pfeffer ist der Nächste. Anne atmet auf. Sie genießt die wenigen Minuten, die sie den engen Raum für sich alleine hat. Mit geschlossenen Augen lauscht sie dem Vogelzwitschern im Hinterhof und streckt sich auf ihrer Schlafstätte. »Bett« kann man dieses schmale Sofa, das sie um einen Stuhl am Fußende verlängert hat, nicht nennen. Doch Anne hält ihr Schlaflager für geradezu luxuriös. Miep Gies, die die Franks in ihrem Versteck mit Lebensmitteln versorgt, hat ihr erzählt, dass andere Untergetauchte in winzigen, oft fensterlosen Verschlägen oder in feuchten Kellern auf dem Boden schlafen. Anne steht auf und zieht die Stoffbahnen zum Verdunkeln der Fenster auf. Disziplin bestimmt ihr Leben im Versteck. Ein kurzer Blick ins Freie. An diesem Freitagmorgen ist die Luft ziemlich dunstig, ein warmer Hochsommertag kündigt sich an. Wenn sie doch einmal … nur für ein paar Augenblicke … doch Geduld, es ist bald so weit … das Attentat auf Hitler vor etwa zwei Wochen hat allen Hoffnung gegeben … wahrscheinlich kann sie im Herbst wieder zur Schule gehen … ihr Vater und Herr van Pels sind sicher, dass im Oktober alles überstanden sein wird … dass sie dann frei … tatsächlich, heute ist schon der 4. August 1944.
Eindreiviertel Stunden haben sie Zeit, sich für den neuen Tag einzurichten. Bis acht Menschen ihre Morgenwäsche hinter sich gebracht haben, bis die Bettwäsche verstaut, die Betten zur Seite geschoben, Tisch und Stühle zurechtgerückt sind, vergehen eindreiviertel Stunden im Nu. Wenn um halb neun im Lager direkt unter ihnen der Betrieb beginnt, darf von oben kein Laut mehr durchdringen. Wie leicht könnten sie sich selbst verraten. Der Lagerleiter van Maaren ist ohnehin schon so misstrauisch.
Bevor um neun das Frühstück aufgetragen wird, beschäftigt sich jeder für sich. Möglichst lautlos. Diese halbe Stunde am Morgen ist besonders kritisch. Die Untergetauchten lesen, lernen oder nähen – und warten ab. Muss einer von ihnen unbedingt aufstehen, so schleicht er auf Strümpfen oder in weichen Pantoffeln durch den Raum. Sprechen ist nur im Flüsterton erlaubt. Wenn nach den Lagerarbeitern endlich auch die Büroangestellten eingetroffen sind und Schreibmaschinengeklapper, Telefonklingeln und die Stimmen von Miep Gies, Bep Voskuijl und Johannes Kleiman – sie alle sind Freunde und Helfer der Untergetauchten – zur Geräuschkulisse werden, ist die Gefahr etwas gedämpft.
Endlich kommt Miep, um die Einkaufsliste zu holen. Einkaufsliste? Miep muss nehmen, was sie bekommt. Und sie bekommt von Tag zu Tag weniger. Doch sie weiß, wie sehnsüchtig die Bewohner des Hinterhauses auf sie warten. Anne bestürmt Miep mit allerlei Fragen, wie jeden Morgen. Miep vertröstet sie auf den Nachmittag, wie jeden Morgen. Erst nach dem Ehrenwort, sich nachmittags zu einer ausführlichen Plauderstunde Zeit zu nehmen, entlässt Anne sie ins Büro. Otto Frank zieht sich mit Peter van Pels in dessen Verschlag im oberen Stockwerk zurück. Englisch steht auf dem Stundenplan, ein Diktat. Allein kommt Peter mit der Fremdsprache nicht weiter. Also widmet Otto Frank ihm seinen Vormittag. So ziehen die Stunden sich wenigstens nicht so hin. Margot und Anne vertiefen sich währenddessen einen Stock tiefer in ihre Bücher. Geduld. Sich in Geduld zu üben – auch das hat Anne in den letzten beiden Jahren gelernt.
Ganz unten im Magazin läuft mit vertrautem Rattern die Gewürzmühle. Willem Gerard van Maaren hat die Tür zur Prinsengracht weit geöffnet, um das Licht und die Wärme des sanften Amsterdamer Sommers hereinzulassen.
Halb elf. Bis zur Mittagspause haben der Vorarbeiter und seine Helfer noch gut zu tun. Plötzlich stehen mehrere fremde Männer im Magazin – SD, Deutscher Sicherheitsdienst. Keiner der Anwesenden hat ihr Kommen bemerkt. Die Männer, einer von ihnen in der Uniform der »Grünen Polizei«, die anderen in Zivilkleidung, tragen Waffen. Sie berufen sich auf einen Durchsuchungsbefehl. Ein paar Worte fallen, dann deutet der überraschte van Maaren mit dem Daumen nach oben zu den Büroräumen. Sein Mitarbeiter Lammert Hartog steht angespannt daneben. Sein Blick verrät Unsicherheit. Sofort eilen die Fremden die Treppe hoch zu den beiden Büroräumen, nur einer von ihnen bleibt für eine Weile zurück und behält das Personal im Auge.[1]
Ohne anzuklopfen, tritt ein anderer, der später als groß und mager beschrieben wird, in das Gemeinschaftsbüro von Miep Gies, Bep Voskuijl und Johannes Kleiman. Miep schaut erst gar nicht auf. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand ins Büro kommt. Als sie ein scharfes »Sitzen bleiben. Und keinen Ton!« hört, hebt sie die Augen und blickt in den Lauf einer Waffe. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, befiehlt der Holländer. Dann verschwindet er wieder.
Durch die doppelte Flügeltür klingen schroffe Kommandotöne. Der SD-Mann und seine holländischen Handlanger, sie alle Angestellte der Gemeindepolizei Amsterdams und erfahrene Kopfgeldjäger, sie alle Mitglieder der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande (NSB), sie alle Familienväter in fortgeschrittenem Alter, haben den Firmenchef Victor Kugler im Nebenraum an seinem Schreibtisch überrascht. Ihre Waffen bedrohen Kugler.[2]
»Wem gehört dieses Gebäude?«, fährt der Uniformierte ihn auf Deutsch an. Kugler meint, einen Wiener Akzent zu erkennen. »Herrn Wessels«, antwortet er ebenfalls auf Deutsch. Seine Kindheit und Jugend hat Kugler im sudetendeutschen Hohenelbe verbracht, einer kleinen Stadt am Fuße des Riesengebirges, im, damals noch, österreichisch-ungarischen Kaiserreich.
»Wir sind hier nur Mieter.«
Steif bleibt Kugler sitzen und nennt schnell auch die Adresse des Holländers, dem das Gebäude Prinsengracht 263 seit dem 23. April 1943 gehört.
Ungeduldig faucht der SD-Mann etwas wie: »Lenken Sie nicht ab!« Sein Name, stellt sich heraus, ist Silberbauer. Karl Josef Silberbauer.
»Wer hier der Chef ist, will ich wissen.«
»Das bin ich«, erwidert Kugler.
»Mitkommen.«
Kugler, ein nach außen ruhig und streng, auf viele geradezu unnahbar wirkender Mann, muss die SD-Männer einen Stock höher, in weitere Lagerräume bringen. Sie fragen nach versteckten Waffen. Jede Kiste, jedes Fass, jeden Sack muss er öffnen. Dabei versucht er, seine Gedanken zu ordnen. Was suchen die Männer? Sind sie gekommen, um ihn zu holen? Wissen sie etwa, dass er mit Widerständlern in Kontakt steht? Dass er einen gefälschten Ausweis …? Wenn sie nur nicht das Hinterhaus … was, wenn das viele Gerede nun doch den Falschen erreicht hat? Zwei Jahre und einen Monat haben sie gemeinsam überstanden. Unmöglich, dass gerade jetzt … jetzt, da die Offensive der Alliierten endlich auch in Nordfrankreich vorankommt. Jetzt, da es sich nur noch um ein paar Wochen handeln kann. Momente der Selbsttäuschung.
»In Ihrem Haus sind Juden versteckt«, hört Kugler einen der Holländer sagen. Seine Hoffnung weicht der fatalen Gewissheit: Leugnen macht alles noch schlimmer.
»Wo sind sie?«, mischen die anderen sich ein. Es sind Gezinus Gringhuis und Willem Grootendorst, einer klein und auffallend korpulent, der andere mit einem langgezogenen, gelblichen Gesicht. Einen weiteren werden Kleiman, Kugler und Otto Frank später auf einem Foto identifizieren, den großen und hageren Maarten Kuiper »mit einer spitzen Nase in einem kleinen Gesicht« und »dem stechenden Blick eines Verrückten«. Möglich aber, dass sie sich fehlleiten ließen. Kuiper war in mörderische Aktionen gegen Widerstandskämpfer verwickelt und wurde dafür später verurteilt, sein Gesicht ging nach dem Krieg durch die Presse.
»Wo sind sie?« Die Worte klingen wie ein Urteilsspruch in letzter Instanz. Silberbauer befiehlt Kugler voranzugehen.
Kugler gehorcht. Was bleibt ihm anderes übrig? Die Männer folgen ihm mit gezogenen Waffen. Kuglers kühlblaue Augen scheinen – mehr noch als sonst – wie eine undurchdringliche Wand. Die ihm eigene überkorrekte, stets kontrolliert wirkende Körperhaltung täuscht jedoch, das Gefühl von Machtlosigkeit lähmt seine Gedanken. Die letzten Minuten vor einem Gewitter, schwül, drückend, bedrohlich. Quälende Zweifel überfallen ihn. Was ihm an seiner Umgebung vertraut ist, verschwimmt. Bluffen die Männer nur, wie sie das bei solchen Razzien angeblich zu tun pflegen? Lässt er sich gerade in die Irre führen? Oder haben sie tatsächlich einen Hinweis bekommen? Wurden seine...