I. RAUS AUS DER HÖLLE
Der Mann wirft sich auf den Boden und packt mich an den Knöcheln: »Nicht zurück nach Libyen, bitte, nicht zurück! Lieber springe ich ins Wasser und ertrinke!« Er meint es ernst. Viele sagen das, manche haben es schon getan. Dutzende Augenpaare starren mich an. Bloß keine Unsicherheit zeigen, jeder Fehler, jedes falsche Wort kann Panik auslösen. Ich ziehe den Mann wieder hoch und blicke ihm fest in die Augen: »Ich verspreche, dass alles gut wird«, sage ich. In Wahrheit kann niemand sagen, was in den kommenden Minuten passieren wird.
Es ist der 21. Juni 2018, halb zehn Uhr morgens, es ist heiß, das Meer reflektiert das Sonnenlicht, es ist gleißend hell. Es dämmerte noch, als wir das erste Schlauchboot mit Flüchtlingen fanden. Das zweite eine gute Stunde später. Beide waren völlig überladen und verloren schon Luft. Jetzt haben wir 235 Menschen an Bord. Die Geretteten dachten, sie seien in Sicherheit, wir haben ihnen das ja auch so gesagt. Um sie zu beruhigen. Aber jetzt sehen sie schon wieder dem Tod ins Auge.
Ich schaue rüber auf das Achterdeck. Einige fangen an zu beten, eine Frau steht auf und fragt mit besorgter Stimme: »Aber ihr gebt uns doch nicht heraus, oder?« Die meisten sitzen nur apathisch da und starren auf den Boden. An der Backbordseite sitzt eine Frau mit einem Baby im Arm. Ihr Kopf lehnt gegen die Schiffswand, sie hat die Augen geschlossen. Doch ganz sicher hört sie den Motor des nahenden Patrouillenboots.
654 Sabratah hält direkt auf uns zu. Die Libyer sind da. Sie fahren bis auf wenige Meter an uns heran, im letzten Moment drehen sie ab. Acht Männer in blauen Hemden stehen breitbeinig an Deck, stützen ihre Hände auf die Reling und starren uns an. Die Schergen der sogenannten libyschen Küstenwache sind unberechenbar wie kleine Kinder, extrem launisch. Ganz sicher haben sie Waffen an Bord. Es ist völlig offen, was sie tun werden. Es fielen auch schon Schüsse, wenn Libyan Coast Guard (LCG) und Seenotretter aufeinandertrafen. Einige von unserer Crew haben das sogar miterlebt. Ungewissheit kann nervös machen. Nervosität führt zu Fehlern. Gar nicht erst eintreten in diesen Teufelskreis.
Ich war mein Leben lang ein guter Verhandlungsführer. Jetzt steht eine sehr wichtige Verhandlung an. Es geht um Menschenleben. Einer der Libyer kramt ein Tau hervor und schickt sich an, es auf unser Deck zu werfen. »No, nooo«, schreien wir. Denn damit könnten sie sich an uns heranziehen und entern.
Sie wollen die Flüchtlinge zurück nach Libyen bringen. Das ist ihr Job, gefördert von der EU: Flucht verhindern. Formal haben sie von der Seenotrettungsleitstelle, dem Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC), den Fall zugewiesen bekommen. Aber für unsere Passagiere würde das bedeuten: Sie haben die Wahl zwischen Tod und Folter. In diesen Minuten erleben wir das ganze Dilemma der Seenotrettung wie unter einem Brennglas: Die Libyer sind Verbrecher, die sich nicht um Menschenleben scheren. Gleichzeitig erzählen manche Politiker in Europa, Seenotretter seien Verbrecher. In der Zwischenzeit saufen Menschen ab. Die Welt ist völlig verrückt geworden.
Ich schaue mir das Patrouillenboot genauer an. Es ist viel zu klein, um so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Dass sie nicht wirklich an Rettung interessiert sind, sieht man schon daran, dass die LCG nie Rettungswesten dabeihat. Und überhaupt: Wo waren sie eigentlich, als wir die untauglichen Boote evakuierten? Wo waren sie, als die Flüchtlingsboote ablegten? Die sogenannte Küstenwache hat ja nicht mal ihre eigene Küste im Griff.
Die Schlauchboote legen meistens in der Nacht ab. So war das auch diesmal.
Um Viertel nach vier kommt Clemens, der Dienst auf der Brücke hat, in meine Koje und weckt mich. »Ich glaube, wir haben was gefunden«, sagt er. Schnell ziehe ich mir eine Hose drüber und Flip-Flops an die Füße. Ich eile die steile Treppe hinauf zur Brücke, brumme »Guten Morgen« und gehe zum Radarschirm. Ich muss erst einmal zwinkern. Drei kleine Punkte, die sich mit konstanter Geschwindigkeit fächerförmig auseinanderbewegen. Ein Blick auf den GPS-Navigator über meinem Kopf: Wir befinden uns 14 Seemeilen von Libyen entfernt. Es wird eine Weile dauern, bis wir die Boote einholen. »Na, dann mal Hebel auf den Tisch«, sage ich. Das bedeutet: Vollgas. Die Boote fahren mit ungefähr vier Knoten Richtung Norden, eines Richtung Nordwest. Die Lifeline hat 9,5 Knoten Höchstgeschwindigkeit drauf, das sind 17 Kilometer pro Stunde. Der Mond ist schon untergegangen, noch ist es dunkel und unheimlich diesig. In ungefähr einer Stunde geht die Sonne auf. Das würde uns helfen, sie zu finden.
Hermine und Clemens gehen aufs Deck und drücken sich die Ferngläser an die Augen. Hermine ist eigentlich die Bordfotografin und für Öffentlichkeitsarbeit zuständig, aber in der Praxis hat hier jeder sehr viele Aufgaben. Um 4:45 Uhr ist es so weit. Wir sind noch ungefähr 300 Meter entfernt, als Clemens zum ersten Mal einen dunklen Schatten im fast genauso dunklen Wasser sieht.
Jetzt ist auch die Crew geweckt. Der Kran auf dem Achterdeck hebt Christa und Hülse über die Reling ins Wasser. Die beiden Einsatzschlauchboote mit festem Rumpf, RHIB genannt (rigid-hulled inflatable boats), sind das Herzstück einer Rettungsmission. Man kann nicht einfach mit dem großen Schiff an das Flüchtlingsboot heranfahren, das wäre viel zu gefährlich.
Die Abläufe sind dutzendfach geübt. Zuerst steigt der Crewführer ein und wirft den Motor an, danach klettern zwei weitere Menschen hinunter. Sie packen zwei Bigpacks mit über 100 Schwimmwesten ein, 20 in Kindergröße, dazu Funkgeräte, eine Beatmungsmaske für den akuten Notfall, Überlebensanzüge, falls die Crew ins Wasser muss. Dann startet die Aufholjagd.
Die Rettung naht – aber die Flüchtlinge fliehen erst einmal vor ihren Rettern. Völlig planlos versuchen sie, uns im Zickzackkurs abzuhängen. Aber mit 40 PS gegen 115 PS hätten sie im mit etwa 120 bis 180 Personen hoffnungslos überfüllten Schlauchboot sowieso keine Chance. Sie glauben, wir seien die LCG. Unser Schiff, die Lifeline, war für sie erst einmal nur ein dunkler, bedrohlicher Umriss.
Aline spricht fünf Sprachen, sie sitzt ganz vorne in der Christa, die sich jetzt seitlich nähert und das Schlauchboot umrundet. Es wird allmählich heller. Die RHIB-Crew winkt und lächelt aufmunternd. »Hallo, wir sind aus Deutschland«, ruft Aline auf Englisch, »wir sind hier, um euch zu helfen«, sie wiederholt es auf Französisch. Skeptische Blicke. »Ihr seid nicht aus Libyen?« – »Germany«, wiederholt Aline, »bleibt ruhig, okay? Wir wollen euch auf das große Schiff bringen.«
Man darf sich Flüchtlingsbooten niemals von der Seite nähern. Sofort würden einige aufstehen und versuchen aufzuspringen, das Boot könnte kentern. Die Christa nähert sich dem Heck, Aline bittet, den Motor auszumachen und fragt: »Wer spricht Englisch? Du? Wie heißt du? Samir? Okay, ich bin Aline.« Samir muss jetzt für alle übersetzen.
Im Eiltempo reicht die Crew die Rettungswesten hinüber. Es folgt eine Standard Operating Procedure (SOP), Fragen in fester Reihenfolge: Habt ihr Notfälle an Bord? Wie lange seid ihr schon unterwegs? Wie viele Kinder, Frauen, Babys? Von wo seid ihr losgefahren? Von wie vielen anderen Booten wisst ihr? Drei Boote hätten gemeinsam abgelegt, sagen sie. Für den Moment ist das eine gute Nachricht: Laut unserem Radar ist noch keines untergegangen.
Die Lifeline hält noch gebührenden Abstand, 100 Meter vielleicht. Um 5:20 Uhr funkt Christa zur Brücke: »Circa 120 Personen. Zehn Frauen, ein paar Kinder, ein Säugling. Ein Schlauch sieht instabil aus.« Die anderen beiden Boote entfernen sich in der Zwischenzeit immer weiter. Schon deshalb muss das erste so schnell wie möglich evakuiert werden. Im Prinzip gilt das eigentlich jedes Mal, deswegen verteilen wir auch die Westen: Falls jetzt noch etwas passiert, kann niemand mehr ertrinken. Es gibt Aufnahmen von einer früheren Mission, da platzte der Schlauch just in dem Moment, als das RHIB ankam. Weißer Schaum blubberte unter den Füßen der Flüchtlinge hervor. Fünf Minuten später am Einsatzort hätte die Crew nur noch Leichen geborgen.
Frauen und Kinder zuerst. Christa shuttelt eine Mutter und ihr Baby hinüber zur Lifeline. Das Kind sieht aus wie eine starre, hilflose Puppe, als Aline es hochhebt und sich ihr vom Deck zwei Arme entgegenstrecken. Sein Blick sucht die Mutter, die wenige Sekunden vorher an Bord gegangen ist.
Die meisten Rettungen finden im Sommer statt. In diesen Monaten herrscht oft ruhiges Wetter mit südlichen Winden und wenig Seegang. Es ist heiß. Bis zum Abend hätten die Menschen auf dem Schlauchboot einen Hitzschlag erlitten. Doch immerhin ist es windstill. Das hat...