Im Tod Georgs wird ein Topos der Romantik, nämlich das Verschmelzen von Traum und Wirklichkeit, auf inhaltlicher wie formaler Ebene konsequent vollzogen. Mit dem Traum als ‚Welt in der Welt‘[15] findet Beer-Hofmann außerdem ein hervor-ragend geeignetes Konzept, um die Wirkungsweisen des Ästhetizismus aufzuzeigen. Diese Verschmelzung erfolgt dadurch, dass sich der ‚Modus‘ des Traums stilistisch, erzähltechnisch oder bezüglich des Realitätsgehalts (Zeitlichkeit, Räumlichkeit) nicht vom Wachzustand unterscheidet. Beide Zustände werden aus der Innenperspektive Pauls erzählt, weshalb auch in beiden eine Art Gleichzeitigkeit aus gedanklicher Kohärenz und Inkohärenz freier Assoziationen dominiert und weshalb man über Formulierungen nicht stolpert, die andernorts eventuell als Traumindikatoren zu verstehen wären („Turmuhr holte stöhnend zum Schlag aus“, 11). Die äußere Handlung beschränkt sich jeweils auf ein Minimum. Auch im Traum finden sich Reflexionen und Erinnerungen, die wie Tagträumereien wirken (und somit eigentlich Träume im Traum sind). Bis auf die alptraumartige Bewegungs- und Artikulations-unfähigkeit Pauls am Ende seines Traums (vgl. 52) erfüllt dieser alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die auch die Wirklichkeit charakterisieren.
Interessant ist in dieser Hinsicht der Übergang zwischen dem ersten und zweiten Kapitel, also die Schnittstelle zwischen Wach- und Traumzustand. Dort sind Satzteile und semantische Elemente zu erkennen, die sich wiederholen und hierdurch eine Verzahnung der beiden Zustände erzeugen[16]. Die Einbindung dieser ‚rezenten Gedanken‘ erinnert an Freud (vgl. Freud 1964: 145-164). Überhaupt ist das ‚Traum-material‘, also der Inhalt des Traums, wesentlich von Pauls Erlebnissen am Vortag geprägt. Je länger der Traum aber andauert, umso seltener finden sich ‚rezente‘ Bilder, Gedanken und Ereignisse‘ (vgl. Tempelorgie, 19-33). Dort spielen Erinnerungen und Gefühle aus früheren Zeiten eine größerwerdende Rolle (vgl. ‚das Infantile als Traumquelle‘ bei Freud 1964: 164-188)[17]. Das Besondere an der Schnittstelle (10 f.) ist die Tatsache, dass sich die wiederholenden Elemente auf engstem Raum semantisch spiegeln. Beim Einschlafen liegt Paul in einer kühlen Nacht im „mondhell[en]“ (10) Zimmer und wacht im Traum zu einer „stechenden Nachmittagssonne“ (11) wieder auf. Das „offene Fenster“ (10) lässt mit dem Wind einen Duft herein beim Einschlafen. Im Traum ist ein Fenster mit vorgezogenen Vorhängen verschlossen, bei zwei weiteren Fenstern, sind sogar „die Läden geschlossen“ (11). Der Traum also als Spiegel der Wirklichkeit, selbstverständlich gefiltert durch die Subjektivität Pauls. Denn klar wird, dass alles im Traum „einen gemeinsamen Ort [und eine gemeinsame Herkunft hat], das Bewußtsein Pauls“ (Scheible 2009: 127; Hervorh. im Orig.)[18]. Die geträumten Episoden genauso wie die Figuren, sie alle sind Analogien, Spiegelscherben seiner Persönlichkeit.
Er stand schweratmend da; seine geballte Faust fühlte er voll schneidender Glassplitter [...]. Der Oberkörper der Kranken war aufgerichtet; [...][sie starb]. Paul schrie auf, aber er hörte seine Stimme nicht, sie erstickte in ihm; und nochmals schrie er , und nun fühlte er, daß etwas riß. Seine eigene Stimme stieg gellend auf - - - und er war wach. Schwer atmend saß er in seinem Bett aufrecht. (52; meine Hervorh.)
Bei der ersten Lektüre lässt sich der Leser aus den genannten Gründen sofort darauf ein, zu glauben, dass zwischen dem ersten und zweiten Kapitel ein Zeitsprung von sieben Jahren stattfindet und dass Paul die Frau, die ihn im ersten Kapitel streift, geheiratet hat und dass diese jetzt im Sterben liegt („Ich hatte ein Mädchen, das ich liebte, zur Frau genommen; nach sieben Jahren ward sie krank und starb“, 14)[19]. Eine erste Funktion des Traums im Tod Georgs ist somit zweifellos, den Leser zu verunsichern und zu zeigen, wie nah Traum und Wirklichkeit beieinanderliegen, indem er ihn in die Lage Pauls versetzt, der mit dem Aufwachen plötzlich in eine gänzlich neue Situation gerissen wird, wo sich eine ganze Lebensgeschichte mit einem Mal in Luft auflöst:
Aber nein - - das war ja Wahnsinn; sie lebte ja; noch vor kaum drei Stunden war er ja da unten am Wasser ihr begegnet! Ja - - die lebte; aber die war ihm ja gleichgiltig. Nur ihre Züge hatte er der andern geliehen, die gestorben war. [...] Die, die gestorben war – die liebte er.
[...] Aber wenn er nur geträumt hatte, warum war dann noch jetzt, da er wach war, dieser Schmerz in ihm? [...]
[...] Es schien ihm, als wäre der kurze Schlaf mit unendlich vielem erfüllt gewesen; nichts Gleichgiltiges hatte es da in seinem Leben gegeben. (53 f.)
Bis zum Zeitpunkt des Aufwachens ist der Wissenshorizont des Lesers mit dem Pauls identisch. Danach vergisst Paul den Traum jedoch zunächst. Der Leser weiß damit faktisch mehr als Paul. Außerdem ermöglicht uns das Wissen um den Trauminhalt, Rückschlüsse über Pauls Charakter zu ziehen und seine Wahrnehm-ungs- und Handlungsweise in der Wirklichkeit zu interpretieren. Wir erkennen,
daß es sich bei diesem Geschehen eigentlich nur um eine maßlos aufgeblähte Wiederholung des bereits im ersten Kapitel vollzogenen psychischen Ablaufs handelt. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die tödliche Konsequenz von Pauls Phantasietätigkeit, die im Wachtraum zwar deutlich, aber nicht explizit geworden war, sich nun ohne jede Verschleierung zu erkennen gibt. (Scheible 2009: 132 f.)
Auch hierin liegt eine Funktion des Traums: Die Entlarvung seines Narzissmus auf der Rezeptionsebene, welche im ersten Kapitel bereits einsetzte, schreitet fort. Im Zuge des dritten und vierten Kapitels und der dort dargestellten ‚Besinnung‘ Pauls geschieht wieder eine Annäherung seines Erkenntnishorizonts an den des Lesers. Die Spannung, die hierbei entsteht, hält bis zum Schluss an und geht aufgrund der verbleibenden Ungereimtheiten bis über ihn hinaus. Was Edgar Marsch über den Traum in Grillparzers Der Traum ein Leben (1834) schreibt, gilt insofern auch für den Tod Georgs:
Der Traum ist einerseits ein thematisches Element, andererseits aber auch ein wichtiger Baustein dramatischer Handlungsvorbereitung, Handlungsdetermination und Handlungsentfaltung. Und er ist darüberhinaus noch in Bezug auf den Träumer enthüllend und damit Mittel dramatischer Analyse.“ (Marsch 1996: 33)
Der Traum vom Tod ‚seiner‘ Frau „erfüllt [...] Pauls Wunsch nach der allmächtigen Position innerhalb seines Lebens“ (Heuser 2010: 69). Damit ist der Traum jene ‚Welt in der Welt‘, wo sich das ästhetizistische, narzisstische Subjekt austoben kann. Paul selbst erkennt das unmittelbar nach dem Aufwachen:
Es schien ihm, als wäre der kurze Schlaf mit unendlich vielem gefüllt gewesen; nichts Gleichgiltiges hatte es da in seinem Leben gegeben. Keine leeren Stunden, die nur die Brücken zu erhofften reicheren waren; und nichts, das wertlos am Wege stand und an dem man fremd vorüberging. Ihm hatten alle Dinge ihr Antlitz zugewandt – er konnte nicht an ihnen vorüber; um seinetwillen waren sie da, und ihr Schicksal vermochte er nicht von dem seinen zu lösen. (54)
Obwohl „die Unruhe und Überfülle des Traumes“ (55) Paul ängstigt, „[j]ener Gedanke, durch den er sich seiner omnipotenten Stellung versichern kann, beruhigt ihn zunehmend und ermöglicht es ihm erneut entspannt einzuschlafen“ (Heuser 2010: 71). Wochen später, als Paul sich während seines Spaziergangs im vierten Kapitel an seinen Traum erinnert, wiederholt er zunächst wortgetreu seine Reflexionen zum Wesen des Traums (vgl. 97 f.). Dann bekräftigt er den Vorzug des Traums über die Wirklichkeit und lässt uns damit wissen, welchen enormen Reiz dieser als Ort der Gottgleichheit auf ihn ausübt:
Fremd und nie erfassend, war er in eine Welt geworfen, in der er im Wachen lebte; wovon er nicht wußte, rührte an ihn, und was er tat, wirkte ins Unbekannte. Aber aus ihm geboren war die Welt, in der er träumte; von ihm gesteckt waren die Grenzen ihrer Himmel und ihrer Erden. Allwissend war er in ihr, und alles wußte von ihm. (98)
Als Paul an anderer Stelle über das Spiel der Kinder nachdenkt, klingt das so:
[R]einer und unvermischter als das Leben es zu geben vermochte, gab das Spiel es ihnen [...] und an ihnen [den Puppen] übten sie die Macht, wohl und wehe zu tun [...] und sie lernten fremdes Leben töten, um sich daran zu sättigen. (77 f.)
Kein Verirrtsein gab es, in Zeit und Raum schien man zu sinken und – sich darin verlierend – fühlte man sich ein...