Etwas Anatomie: Das macht den Psoas so besonders
Der Musculus iliopsoas, wie ihn die Mediziner auf Latein bezeichnen, wird auf Deutsch etwas sperrig Lenden-Darmbein-Muskel genannt, was Ihnen aber schon sagt, wo er sich befindet, nämlich mitten im Körper. Obwohl wir hier laufend vom Psoas im Singular sprechen, meinen wir damit eigentlich immer zwei Muskelgruppen, denn wir haben einen linken und einen rechten Psoas.
Die Muskelgruppe besteht jeweils aus drei Teilen: dem großen und dem kleinen Lendenmuskel (Musculus psoas maior und minor) sowie dem Darmbeinmuskel (Musculus iliacus). Diese drei Teile finden Sie in der Illustration rechts rötlich gefärbt.
Dort sehen Sie auf den ersten Blick, wie eng der Muskel mit den Knochen der Wirbelsäule, des Beckens und der Beine (beige) sowie mit den zugehörigen Sehnen und Knorpeln (weißlich) verbunden ist.
Der große Lendenmuskel (Musculus psoas maior) entspringt mit mehreren kräftigen Muskelfasern seitlich an der Lendenwirbelsäule, und zwar an den Querfortsätzen des ersten bis fünften Lendenwirbels, bei manchen Menschen sogar bereits am zwölften Brustwirbel. Er verläuft vorne durch das Becken und am Oberschenkelhalsknochen vorbei und setzt erst unterhalb des Oberschenkelhalses am sogenannten Trochanter minor an, dem kleinen Rollhügel am Beginn des Oberschenkelknochens. Die langen Muskelfasern des Psoas verlaufen nahezu senkrecht. Deswegen verfügt dieser Muskel über eine ausgesprochen gute Hebelwirkung und wird damit zum wichtigsten und kräftigsten Beweger zwischen Ober- und Unterkörper. Wenn wir im Folgenden vom Lendenmuskel sprechen, ist damit ausschließlich dieser große Lendenmuskel gemeint.
Der kleine Lendenmuskel (Musculus psoas minor) hat im Gegensatz zu seinem großen Bruder keinen Einfluss auf die Bewegung der Beine, weil er nur die Lendenwirbelsäule mit Teilen des Beckens verbindet. Man geht davon aus, dass dieser Muskel funktionell wichtig war, als sich unsere Vorfahren noch auf allen vieren fortbewegten. Für den menschlichen Gang und andere Bewegungen spielt er heutzutage keine Rolle mehr. Bei manchen Menschen ist er deshalb schon jetzt nur noch auf einer Seite ausgebildet oder sogar überhaupt nicht mehr vorhanden.
Der Darmbeinmuskel (Musculus iliacus) hat im Gegensatz zum Lendenmuskel keine direkte Wirkung auf die Lendenwirbelsäule, weil er erst in der Grube (Fossa iliaca) der beiden Darmbeinschaufeln entspringt, die er nahezu vollständig auskleidet. Im weiteren Verlauf zieht er sich wie der große Lendenmuskel zu dessen Ansatzpunkt, dem kleinen Rollhügel am Beginn des Oberschenkelknochens. Auf der Grafik können Sie das gut erkennen: Die untere Partie beider Muskeln umgibt eine gemeinsame Hülle aus Bindegewebe, eine sogenannte Faszie (siehe hier). Daher werden sie unter dem Namen Musculus iliopsoas beziehungsweise Lenden-Darmbein-Muskel als zusammenarbeitende Muskelgruppe zusammengefasst. Wir nennen sie im Folgenden nur kurz Psoas.
Der Musculus iliopsoas, bestehend aus großem und kleinem Lendenmuskel sowie Darmbeinmuskel
Finden Sie Ihren Psoas
Den Psoas oder genauer den großen Lendenmuskel mit der Hand zu erfühlen ist prinzipiell ziemlich schwer, weil er sich in der Tiefe des Körpers unter anderen Muskeln befindet. Versuchen Sie es trotzdem einmal: Legen Sie sich auf den Rücken und wandern Sie mit den Fingern sieben bis acht Zentimeter seitlich unter dem Bauchnabel schräg nach unten. Dort liegt der Lendenmuskel eingebettet zwischen Arterien und Venen seitlich neben den Bauchorganen. Sie müssen ein wenig »graben«, um ihn zu ertasten.
Am vorderen Becken befinden sich an der Seite zwei Punkte, die ein wenig nach vorne herausragen und mit etwas Übung gut zu erfühlen sind. Von dort aus laufen die Leistenbänder jeweils links und rechts in der Mitte am Schambeinhöcker (Tuberculum pubicum) zusammen, wobei der Psoas hinter diesen Bändern verläuft.
Eine gute Chance, ihn zu ertasten, haben Sie auch, wenn Sie den Leistenpuls der großen Beinarterie innen am Oberschenkel als Ausgangspunkt nehmen und von dort mit den Fingern seitlich etwa fünf bis sieben Zentimeter nach außen wandern.
Ein Team für Stabilisation und Bewegung
Aus der Lage des Psoas ergeben sich seine Funktionen, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Als Verbindung zwischen Ober- und Unterkörper sorgt er zum einen dafür, dass beide Abschnitte stabil in ihrer Position zueinander bleiben. Zum anderen gewährleistet er aber auch deren Beweglichkeit. Verglichen mit den weiteren drei Hüftbeugern, dem Musculus rectus femoris, Musculus tensor fasciae latae (TFL) und Musculus sartorius, ist der Psoas der einzige Beinbeuger, der den Oberschenkel im Hüftgelenk um mehr als 90 Grad anheben kann! Das liegt an seinem fast senkrechten Verlauf.
Die beiden aktiven Anteile des Psoas kommen bei allen Bewegungen zum Einsatz, bei denen sich die Beckenstellung nach vorne verändert. Machen Sie zum Beispiel einen Schritt vorwärts, wird das Becken automatisch in der Hüfte gekippt. Wird diese Beugung der Hüfte im Becken allerdings isoliert und fixiert gehalten wie bei der Übung auf dem Foto, gewährleistet maßgeblich der Lendenmuskel (mithilfe anderer kleiner Muskeln) die aufrechte Stellung der Lendenwirbelsäule.
Die Forschung untersucht immer noch das komplexe Zusammenspiel von Lenden- und Darmbeinmuskel, um herauszufinden, welcher der beiden Muskeln genau wozu dient. Nach dem aktuellen Stand der Forschung Anfang 2017 ist der Darmbeinmuskel dafür zuständig, das Becken und damit auch den Oberkörper nach vorne zu kippen. Das tut der Musculus iliacus im Verbund mit weiteren Muskeln wie dem geraden Oberschenkelmuskel und verstärkt die Bewegung ins Hohlkreuz, in die sogenannte lumbale Lordose. Der andere Anteil des Psoas, also der Lendenmuskel, wirkt dem entgegen – vorausgesetzt, er ist kräftig und zugleich elastisch genug. Nur dann kann er uns vor einer zu starken dauerhaften Lendenlordose (Hohlkreuzbildung) bewahren. Daran sehen Sie schon, wie wichtig ein gut ausgebildeter Lendenmuskel ist, denn ein ständiges Hohlkreuz gehört zu den häufigsten Fehlhaltungen überhaupt und führt bei untrainierter Rückenmuskulatur meist früher oder später zu Kreuzschmerzen!
Der Lendenmuskel gewährleistet die aufrechte Stellung der Wirbelsäule.
Vor allem Fachleute dürfte dies interessieren: Ob und inwieweit der Lendenmuskel auch an der Beugung der Lendenwirbelsäule beteiligt ist, wird gelegentlich kontrovers diskutiert. Die Mehrheit der Wissenschaftler geht momentan davon aus, dass zumindest Anteile des großen Lendenmuskels an der Beugung mitwirken. Würde man jedoch die Beine komplett ruhigstellen, sodass sich der Oberkörper nur ab dem Becken bewegen könnte, dann würde vor allem der Darmbeinmuskel den Körper im Becken beugen. Der Lendenmuskel arbeitet in diesem Fall eher als Strecker der Lendenwirbelsäule. Es ist schon kompliziert, aber sinnvoll, dass der Psoas so variabel agieren kann.
Beuger und Strecker
Muskeln arbeiten immer paarweise als Gegenspieler zusammen. Während sich der eine aktiv zusammenzieht, wird der andere passiv gedehnt. Am einfachsten sehen Sie das an Ihrem Arm: Wenn Sie ihn anwinkeln, wird der Bizeps dick und der Trizeps, der Strecker auf der Rückseite des Oberarms, wird gedehnt. Wenn Sie den Arm strecken, ist es genau umgekehrt. Fachleute nennen die Muskeln und ihre Gegenspieler Agonisten und Antagonisten.
Einig ist man sich heute in Bezug auf die Stabilisierungsfunktion des Lendenmuskels. Vor allem stützt er die Lendenwirbelsäule, und zwar sowohl bei der Beugung als auch bei der Streckung. Das heißt, er sorgt mit dafür, dass die Lendenwirbelkörper mit ihren Gelenken und die Bandscheiben dazwischen bei Bewegungen an ihrem Platz bleiben und sich nicht verschieben oder verkanten. Neuere Studien scheinen allerdings zu belegen, dass im unteren Teil der Lendenwirbelsäule die Aufrichtungsfunktion überwiegt, weil der Psoas maior sich in dieser Region zusätzlich mit den tiefen, schräg verlaufenden Rumpfmuskeln – dem sogenannten transversospinalen System – zu einem Bündel vereinigt.
Die transversospinale Muskelgruppe verläuft auf der Rückseite der Wirbelsäule und besteht aus den Halbdornmuskeln (Musculi semispinales), dem viel gespaltenen Rückenmuskel (Musculus multifidus) und den Drehmuskeln der Lendenwirbelsäule (Musculi rotatores lumborum). Außer den Musculi semispinales umschlingen diese Muskeln zusammen mit dem Lendenmuskel die gesamte Lendenwirbelsäule und dienen damit zu ihrer Aufrichtung und Streckung.
Dies widerspricht aber der Beugefunktion des Lendenmuskels, weshalb sich die Wissenschaft nach wie vor fragt, ob verschiedene Fasern des Lendenmuskels einander entgegengesetzte Funktionen erfüllen können wie etwa das Beugen mit den...