Nicht nur Menschen, die die Wahrheit sagen oder suchen, nehmen die Redefreiheit für sich in Anspruch, sondern auch solche mit schlechtem Gewissen und bösen Absichten. Bis heute bin ich erstaunt über den Verrat von Personen, denen ich vertraut habe und mit denen ich jahrelang durch gemeinsame Arbeit verbunden gewesen war. Das prägnanteste Beispiel dafür ist der Augustputsch5 des sogenannten Staatskomitees für den Ausnahmezustand von 1991 in Moskau, der den Weg für die Zerstörung unseres Landes ebnete.
Im August 1991 war nach sehr schweren Krisenmonaten ein Reformprogramm unter dem Namen Perestroika entwickelt und verabschiedet worden, an dem sich auch die baltischen Republiken beteiligten. Die Arbeit an dem neuen Unionsvertrag war vollendet, und am 20. August sollten ihn die Führer der Sowjetrepubliken unterzeichnen. Für den Herbst planten wir einen außerordentlichen Parteitag; die KPdSU hätte sich in Richtung Sozialdemokratie wandeln sollen, zu einer Reformpartei. Natürlich wäre auch weiterhin nicht alles einfacher geworden, aber ich bin überzeugt: Wäre es damals nicht zu dem Putsch gekommen, hätte sich der ganze folgende Irrsinn vermeiden lassen.
Der Weg in die Demokratie ist keine leichte Prüfung. Die Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten im Jahr 1989 hatten zu unerwarteten Ergebnissen geführt: Einerseits handelte es sich bei 84 Prozent der Gewählten um Mitglieder der Kommunistischen Partei. Andererseits wurden Dutzende von Partei-Apparatschiks nicht gewählt. Der reaktionäre Teil der Partei-Nomenklatura startete einen wütenden Widerstand gegen die Perestroika. Im offenen politischen Kampf schafften es meine Gegner jedoch nicht, ihre Ziele zu erreichen. Deshalb entschlossen sie sich im August 1991 zu einem Staatsstreich. Der Putsch scheiterte, aber er ebnete den Weg für Separatisten, für Radikale, für Extremisten.
Die Konsequenzen summieren sich zu einer langen Liste: der Zerfall der Sowjetunion, die Abkehr von der Demokratie in praktisch allen Teilrepubliken, das Chaos in der Wirtschaft, das geldgierige und prinzipienlose Menschen ausnutzten und das fast alle anderen in Armut stürzte, die internationalen Konflikte, das Blutvergießen in Russland und in den anderen Republiken und schließlich der Beschuss des Obersten Sowjets von Russland durch Panzer im Oktober 1993.
Ich werde oft gefragt, ob ich mich für all das verantwortlich fühle. Man sagt, dass ich nach dem Komplott von Belowesch entschlossener hätte handeln müssen. Am 8. Dezember 1991 hatten der Ministerpräsident von Russland, Boris Jelzin, der Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk, und Stanislaw Schuschkewitsch, der Vorsitzende des obersten Rates der Republik Belarus, in Belowesch ein Abkommen unterzeichnet, in dem die Auflösung der Sowjetunion und die Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) erklärt wurden.
Ich antworte auf die Frage nach meiner Verantwortung: »Ich habe bis zum Letzten für die Einheit des Staates gekämpft. Aber man konnte nicht zulassen, dass die Situation zu einer Spaltung der Gesellschaft führte oder möglicherweise gar zu einem Bürgerkrieg. Es war offensichtlich, was das in einem Land, das nicht nur über konventionelle Waffen verfügt, sondern auch über Nuklearwaffen, hätte bedeuten können.«
Nach gründlicher Überlegung traf ich deshalb die Entscheidung, die ich auch heute noch unter den damaligen Umständen für die einzig richtige halte. Am 25. Dezember 1991 trat ich als Präsident der Sowjetunion zurück und hielt eine Fernsehansprache:
Liebe Landsleute, Mitbürger,
aufgrund der Situation, die sich durch die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ergeben hat, lege ich mein Amt als Präsident der UdSSR nieder. Ich treffe diese Entscheidung aus prinzipiellen Beweggründen.
Ich habe mich immer entschieden für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Völker der Sowjetunion eingesetzt, für die Souveränität ihrer Republiken. Aber gleichzeitig war ich auch ein Befürworter der Bewahrung des Unionsstaates, der unversehrten Ganzheit des Landes.
Die Ereignisse schlugen einen anderen Weg ein. Oberhand gewann eine neue Marschrichtung, die zur Zerstückelung des Landes und der Aufspaltung des Staates führen wird. Ich kann damit nicht einverstanden sein. Auch nach dem Treffen von Alma-Ata6 und den dort getroffenen Vereinbarungen hat sich meine Position in dieser Hinsicht nicht geändert. Außerdem bin ich überzeugt, dass Entscheidungen von einer solchen Tragweite auf Grundlage einer Volksabstimmung erfolgen müssen.
Nichtsdestoweniger werde ich alles tun, was in meinen Kräften steht, damit die Vereinbarungen, die dort getroffen wurden, zu wirklichem Einvernehmen in der Gesellschaft führen, damit sie einen Ausweg aus der Krise ermöglichen und die Reformen erleichtern.
Ich wende mich hier und jetzt das letzte Mal in meiner Eigenschaft als Präsident der Sowjetunion an Sie und halte es für notwendig, meine Einschätzung des Weges abzugeben, den wir seit 1985 zurückgelegt haben. Umso mehr, als es dabei nicht wenige Widersprüche gibt, dazu oberflächliche Einschätzungen, denen es an Objektivität mangelt.
Das Schicksal hat es so gefügt, dass, als ich zum Staatsoberhaupt wurde, bereits offensichtlich war: Mit dem Land stimmte etwas nicht. Wir waren mit allem reich gesegnet: Land, Öl, Gas und anderen Rohstoffen. Ja, auch was Intelligenz und Talente angeht, hat Gott uns nicht benachteiligt. Dennoch leben wir schlechter als die Menschen in den anderen Industriestaaten und hinken ihnen immer weiter hinterher.
Die Ursache dafür war schon damals sichtbar: Die Gesellschaft erstickte im Würgegriff eines Systems, das auf Bürokratie und Befehlsgewalt ausgerichtet war. Dazu verdammt zu sein, einer Ideologie zu dienen und gleichzeitig die schreckliche Last eines Rüstungswettlaufs zu tragen – das geht an die Grenzen des Möglichen.
Alle Versuche von Teilreformen – und davon gab es nicht wenige – scheiterten einer nach dem anderen. Unser Land verlor seine Zukunftsaussichten. So konnten wir nicht mehr weiterleben. Alles musste sich grundlegend ändern.
Das ist der Grund, warum ich kein einziges Mal bereut habe, dass ich meine Stellung als Generalsekretär nicht genutzt habe, um einfach ein paar Jahre wie ein Zar zu regieren. Das wäre in meinen Augen verantwortungslos und unmoralisch gewesen.
Ich war mir bewusst, dass es sehr schwierig, ja, sogar riskant werden würde, in einer Gesellschaft wie der unseren Reformen von einer solchen Tragweite und Größenordnung in Angriff zu nehmen. Aber ich bin bis heute davon überzeugt, dass diese Reformen, die im Frühling 1985 begannen, historisch begründet und richtig waren.
Der Erneuerungsprozess in unserem Land und die grundlegenden Veränderungen in der internationalen Gemeinschaft gestalteten sich viel komplizierter, als man es hätte voraussagen können. Dennoch sollte das, was getan wurde, angemessen beurteilt werden.
Allem voran: Die Gesellschaft bekam ihre Freiheit und konnte sich aus ihren politischen und geistigen Fesseln lösen. Genau das ist die wichtigste Errungenschaft, deren Bedeutung uns noch gar nicht in allen Konsequenzen bewusst ist, weil wir bis jetzt nicht gelernt haben, diese Freiheit zu nutzen.
Nichtsdestoweniger haben wir Historisches geleistet:
- Wir haben das totalitäre System überwunden, das unser Land daran hinderte, Wohlstand und Blüte zu erreichen.
- Wir haben einen Durchbruch auf dem Weg zu demokratischen Reformen erzielt. Freie Wahlen, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, repräsentative Volksvertretungen, ein Mehr-Parteien-System – all das ist Realität geworden. Die Menschenrechte wurden als oberstes Prinzip anerkannt.
- Wir haben den Weg in Richtung einer vielschichtigen Wirtschaftsstruktur eingeschlagen und die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen anerkannt. Durch die Landreform kam es zu einer Wiedergeburt des Bauernstandes, es entstand die gesellschaftliche Gruppe der Landwirte. Millionen Hektar Land wurden an die Dorfbewohner verteilt, an die Bürger. Wir haben die wirtschaftliche Freiheit von Produzenten legalisiert, das Unternehmertum, die Umwandlung in Aktiengesellschaften und die Privatisierung schreiten voran.
- Beim Wandel unserer Ökonomie in eine Marktwirtschaft müssen wir daran denken, dass dabei der Mensch im Mittelpunkt steht. In dieser schwierigen Zeit muss alles unternommen werden, um seine sozialen Belange zu verteidigen, vor allem, was Rentner und Kinder betrifft.
- Wir leben in einer neuen Welt. Der Kalte Krieg ist zu Ende, der Rüstungswettlauf ist gestoppt, ebenso wie die irrsinnige Militarisierung unseres Landes, die unsere Wirtschaft, unser Bewusstsein und unsere Moral verunstaltet hat. Die Gefahr eines Weltkriegs ist gebannt.
- Ich möchte noch einmal betonen, dass ich in dieser Übergangsphase persönlich alles unternommen habe, um eine zuverlässige Kontrolle der Atomwaffen sicherzustellen.
- Wir haben uns gegenüber der Welt geöffnet, haben aufgehört, uns in die Belange anderer Länder einzumischen und unsere Streitkräfte im...