Vorwort
»Und wer bist du?«
»Ausländerin natürlich!«
Das antwortete mir meine Tochter Olga mit elf Ende 2000. Ich hatte sie gefragt, wer sie ist, als was sie sich fühlt – von der »Nationalität« her. Im Sommer des Jahres waren wir nach Berlin gezogen, sie hatte davor noch nie in Deutschland gelebt. Sie wurde 1989 in St. Petersburg, damals noch Leningrad, geboren, ich kam ins Bild, als sie vier war, und wurde erst der Freund, dann der Mann ihrer Mutter. Wir zogen 1995 zum Studium nach Berkeley in Nordkalifornien, wo sie eingeschult wurde. Von Berkeley ging es 1999 für ein Jahr nach Moskau. Dort fiel der Entschluss, nach Berlin zu ziehen. Am Anfang war noch Russisch unsere Familiensprache, und Olga benutzte das Wort »Ausländerin« als deutsches Fremdwort in einem russischen Satz: Ауслендерин, конечно!
Ich war über den Begriff schockiert – in Amerika hatte sie sich nach einem halben Jahr als Amerikanerin bezeichnet, und das, obwohl sie nur einen russischen Pass hatte. In Berlin besaß sie längst die deutsche Staatsbürgerschaft, bezeichnete sich aber als Ausländerin.
Vielleicht lag es daran, dass die deutsche ja ihre dritte Identität nach der russischen und amerikanischen war. Oder dass wir in Amerika vor 9/11 und lange vor Donald Trump lebten, als Zugewanderte noch nicht unter Generalverdacht standen.
Trotzdem. Etwas stimmte nicht. Olga ging in eine normale Grundschule in Berlin-Charlottenburg, und fast alle ihrer Freunde hatten zumindest einen Elternteil, der aus einem anderen Land kam, und sprachen zu Hause eine zweite Sprache neben Deutsch: Zhaabiz Persisch, Onur Türkisch, Ibrahim und Karim Arabisch, Amalia Griechisch, Yeon-hee Koreanisch.[1] Wie Olga besaßen Zhaabiz, Onur, Ibrahim, Karim, Amalia und Yeon-hee die deutsche Staatsbürgerschaft. Und doch nannten sie sich alle »Ausländer«. In den USA hätte sich etwa Onur als Turkish American bezeichnet: die Staatsbürgerschaft American als Substantiv, die Herkunftskultur der Eltern, Turkish, als Adjektiv. In erster Linie also Amerikaner, nachgeordnet türkisch, und die beiden Identitäten wären bestens miteinander ausgekommen.
Es war, wie gesagt, das Jahr 2000. Seit über einem Jahr waren die Themen Migration und Staatsangehörigkeit in aller Munde. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder hatte das Staatsangehörigkeitsrecht entstaubt – das alte ging noch auf ein Gesetz von 1913 zurück. Ab dem 1. Januar 2000 waren die Hürden für die Einbürgerung niedriger, und es bestand die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft bis zum Alter von 23 Jahren.
Aber es gab Widerstand. In Hessen war 1999 Landtagswahlkampf; der CDU-Spitzenkandidat Roland Koch gewann die Wahl mit einer Unterschriftenaktion gegen den Doppelpass. Im Frühjahr 2000 folgten die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen; der CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers sagte im Wahlkampf mit Blick auf die von Rot-Grün eingeführte Greencard: »Statt Inder an die Computer müssen unsere Kinder an die Computer.«[2] Sein Spruch ging als »Kinder statt Inder«-Wahlkampfkampagne in die Geschichte ein. Ab Oktober 2000 tobte eine Debatte über »Leitkultur«, die bis heute immer wieder durch die Medien geistert. Der CDU-Politiker Friedrich Merz hatte sie angestoßen: Er forderte, dass sich Zuwanderer der »freiheitlichen deutschen Leitkultur« anpassen sollten.[3]
Was war so anders in Berkeley? In Berkeley gab es zunächst einmal nicht Forderungen, sondern Angebote – sich einzuklinken, sich als zugehörig zum Land zu fühlen, überhaupt dazuzugehören. Und es wurden die Mittel an die Hand gegeben, die dazu nötig sind. So wurde Olga kurz nach unserer Ankunft im Spätsommer 1995 in eine intensive »English as a Second Language« (ESL)-Klasse eingeteilt, mit vielen Stunden Unterricht pro Woche. In Berlin schlug man ihr vor, 45 Minuten Deutschförderunterricht pro Woche zu besuchen, zusammen mit Kindern mit Lern- oder Rechtschreibschwächen, insgesamt ein gutes Dutzend.
In Deutschland gab es eindeutig zu wenig Angebote: Weder solche, um die Schlüsseltechniken des guten Funktionierens in der Gesellschaft zu erlernen, vor allem die deutsche Sprache. Noch solche, um sich mit Deutschland emotional zu identifizieren. Dafür gab es Ausgrenzung, auf vielen Ebenen: In Olgas Schulbüchern waren fast alle dargestellten Personen weiß und blond, die Geschichten darin stammten aus einer längst untergegangenen Welt der Familienbauernhöfe und Fischkutter. Und im Alltag wurden nichtweiße Deutsche gefragt, wo sie so gut Deutsch gelernt hätten und wann sie wieder »nach Hause« gehen würden, oder jüdische Deutsche, was ihr Präsident denn wieder für einen Blödsinn verzapft habe. Damit war dann meistens der israelische Premierminister gemeint, nicht der deutsche Bundespräsident. Und alle, die »anders« aussahen, das heißt alle »sichtbaren Minderheiten« (visible minorities), wie sie die Migrationsforschung nennt, wurden als Ausländer bezeichnet.
Das war die Situation im Jahr 2000 – einerseits in der Politik: Werft ab, was ihr oder eure Eltern an Gepäck aus anderen Kulturen mitbringt, ordnet euch der Leitkultur unter! Andererseits im echten Leben: 45 Minuten Förderdeutsch für Kinder, die ganz unterschiedliche Probleme mit der deutschen Sprache hatten. Und jede Menge Ausgrenzung.
Seitdem sind fast 20 Jahre vergangen, und vieles ist anders. Meine zweite Tochter, Lisa, die 2002 geboren wurde, hat sich nie »Ausländerin« genannt. Sie wurde schon bei der Einschulung in der Statistik als Kind mit »Migrationshintergrund« geführt.[4] Im Jahr 2017 war sie eine von 19,3 Millionen Menschen, knapp ein Viertel der Bevölkerung, mit Migrationshintergrund.[5] Der Begriff hat wenig Freunde – aus guten Gründen, zu denen wir gleich kommen –, aber er erlaubt es zumindest, nehmen wir ihn wörtlich, im Vordergrund einen deutschen Pass zu besitzen und im Hintergrund eine Migrationserfahrung. Anders ist heute im Vergleich zum Jahr 2000 auch der Stellenwert des »Megathemas« Migration. Seit der Flüchtlingskrise 2015 redet – streitet – ganz Deutschland über Asyl, Zuwanderung, Integration. Dem ging eine anderthalb Jahrzehnte währende Entwicklung voraus – hier schlagwortartig nur einige Wegstationen: Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), Fußball-WM 2006 und die »Internationalelf«, Sarrazin-Debatte 2010, Islamischer Staat (IS), Terroranschläge in Paris, Brüssel und Berlin, Pegida und AfD. Während Deutschland sich einerseits von dem Mythos verabschiedete, »kein Einwanderungsland« zu sein, und Diversität selbstverständlicher wurde, breiteten sich andererseits auch Rassismus, Xenophobie, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus weiter aus, fanden ihren Weg auf die Straße und in die Parlamente. Eines ist über all die Jahre hinweg aber gleich geblieben: »Das Deutsche« ist immer noch eine Leerstelle, es fehlt immer noch an Elementarem – an neuen Begriffen, Konzepten und Geschichten.
Dieses Buch kreist um die Themen Migration, Nation und Identität. Es schreibt Migrantengruppen in die deutsche Geschichte hinein, die nur selten in ihr vorkommen. Es erzählt Geschichte anhand von Menschen, die seit 1945 nach Deutschland West und Ost migriert sind und die es wirklich gab oder gibt. Die Summe ihrer Geschichten ist die Geschichte der Deutschen. Zusammen sind sie, sind wir das neue Wir.
»Das neue Wir« bezeichnet für mich aber auch noch etwas anderes, das hinausgeht über die Summe aller Deutschen, einschließlich der zugewanderten, die in der traditionellen Geschichtsschreibung vernachlässigt werden und daher historisch unsichtbar sind. Das neue Wir ist ein Plädoyer für eine kollektive Identität.
Ich gehe von der grundlegenden Annahme aus, dass wir alle unzählig viele Identitäten leben und dass sich diese Identitäten und ihr Verhältnis zueinander ständig wandeln, je nachdem, mit wem und wo wir kommunizieren und handeln – deshalb sage ich auch: Identitäten leben und nicht Identitäten besitzen oder haben.[6] Rheinländerin, Leipzigerin, Ostdeutscher, Märkisches Viertel Berlin, Goth, HSV-Fan, Queer, Katholik, Transfrau, Alevit, Alawit, und das oft gleichzeitig und in schnellem Wechsel, abhängig davon, ob wir am Arbeitsplatz mit Chefin oder Kollegin, in der Freizeit mit Mutter oder Sohn, in der Sauna oder der Synagoge interagieren. Hypervielfalt (Super-Diversity) oder Interkultur – so haben die Migrationsforscher Steven Vertovec beziehungsweise Mark Terkessidis diesen hochkomplexen, nie stillstehenden, sich immerfort verändernden Zustand der vielen Zugehörigkeiten bezeichnet.[7]
Eine dieser Zugehörigkeiten ist die zur Nation. Wir besitzen (fast) alle eine Staatsbürgerschaft, manche von uns auch mehr als eine. Deutschland ist eines der Länder, das die Zugehörigkeit zur Nation nicht nur über Staatsbürgerschaft definiert. Vor allem im Alltag – daher die Selbstbezeichnung meiner Tochter und ihrer...