Kapitel 1
Antisemitismus in der Weimarer Republik und der Aufstieg der NSDAP
Die Ursprünge und ideologischen Verzweigungen des Antisemitismus liegen in der Periode zwischen der Reichsgründung von 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zwar gehen die antisemitischen Strömungen bis in den Vormärz zurück, politische Virulenz erhielten sie jedoch nicht vor der Gründerzeit, die 1873 von einer Rezession abgelöst wurde. Mit der sogenannten Berliner Bewegung des protestantischen Hofpredigers Adolf Stoecker wurde zum erstenmal systematisch versucht, antisemitische Ressentiments politisch zu mobilisieren.1 Stoeckers Erwartung, durch die Karte des Antisemitismus die Masse der Industriearbeiterschaft dem Einfluss der Sozialdemokratie entwinden zu können, erfüllte sich jedoch nicht.
Im frühen Kaiserreich waren antisemitische Einstellungen in bürgerlichen Kreisen, vor allem aber in der Akademikerschaft weit verbreitet, und kein Geringerer als Heinrich von Treitschke hat diesen Stimmungen öffentlich Ausdruck verliehen, was eine scharfe publizistische Entgegnung seines Fachkollegen Theodor Mommsen zur Folge hatte.2 Insbesondere bei studentischen Korporationen, so dem Verein Deutscher Studenten (VDSt), gehörte der Ausschluss von Juden zur Selbstverständlichkeit, und das sollte sich in den Weimarer Jahren fortsetzen.
Demgegenüber waren die Versuche, den Antisemitismus im Parteiensystem heimisch zu machen, weitgehend erfolglos. Zwar bildete sich eine Reihe antisemitischer Parteien, darunter Stoeckers Christlichsoziale Partei, die Deutsch-Soziale Partei Otto Böckels und die Deutsche Reformpartei Max Liebermanns von Sonnenberg, aber sie blieben von marginalem Einfluss und lösten sich nach der Jahrhundertwende auf.3 Wichtiger war, dass sich in den konservativen Parteien antisemitische Einflüsse geltend machten. So wandte sich das Tivoli-Programm der Deutschkonservativen Partei von 1892 gegen die überproportionale Vertretung von Juden in bestimmten Professionen und verlangte die Schließung der Grenzen, um eine weitere Einwanderung von Juden aus Osteuropa zu unterbinden.4
Die auf konservativer Seite vertretene Variante des Antisemitismus richtete sich in erster Linie gegen die nicht assimilierten Juden und entzündete sich an der im Zuge der industriellen Revolution anwachsenden Zuwanderung von Ostjuden nach Deutschland. Die antisemitischen Einstellungen dieses Typus bildeten einen gleichsam unerlässlichen Bestandteil des deutschen Nationalgefühls und umfassten vor allem Gruppen, die gegen eine Modernisierung eingestellt waren. Man hat daher von einer Art »kulturellem Code« gesprochen, der die Funktion hatte, die bürgerliche Mittelklasse in das konservative Lager zu integrieren.5
Diese im Kaiserreich in den Vordergrund tretende Variante des Antisemitismus enthielt in der Regel keine rassistische Komponente, sondern pflegte das assimilierte einheimische Judentum davon auszunehmen. Sie war bei der gebildeten Oberschicht weit verbreitet, die den völkischen Radau-Antisemitismus vom Schlage Theodor Fritschs ablehnte. Parallel zu diesem vorherrschenden dissimilatorischen Typus stand der vor allem im katholischen Raum lebendige traditionelle Anti-Judaismus, der die Juden nach wie vor als Christus-Mörder betrachtete und vor allem den katholischen Klerus bis in die 30er Jahre beeinflusste.6
Demgegenüber war der völkisch-rassische Typus des Antisemitismus auf verhältnismäßig kleine Gruppierungen beschränkt. Er ging in erster Linie auf Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Eugen Dühring und Julius Langbehn zurück und fand weniger in den antisemitischen Parteien, die sich als instabil erwiesen, als in den Richard-Wagner-Vereinen, dem Alldeutschen Verband und verwandten imperialistischen Organisationen einen organisatorischen Rückhalt.7 Dieser Typus zeichnete sich dadurch aus, dass alle Personen jüdischer Abstammung, unabhängig davon, ob sie konvertiert waren oder nicht, verteufelt wurden. Die völkischen Antisemiten verlangten daher die Entfernung der Juden aus Deutschland, die sie für den Umstand verantwortlich machten, dass es den Deutschen nicht gelang, sich zu einer geschlossenen Nation zu entwickeln. Dahinter verbarg sich die Vorstellung vom inneren Zusammenhalt der Juden als Ethnie, der sie wiederum zum geheimen Vorbild für die deutsche Nationsbildung machte.
Während die antisemitische Unterströmung in den Vorkriegsjahren nur geringe Popularität besaß, änderte sich dies unter den innenpolitischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Vor allem bei der politischen Rechten entluden die sich zuspitzenden sozialen und politischen Spannungen einen regelrechten Ausbruch antisemitischer Emotionen, die insbesondere die Militärs erfassten. Der sogenannte Judenzensus, den das Preußische Kriegsministerium 1916 einführte, um die Teilnahme von Juden am Militärdienst zu überprüfen, spielte öffentlichen Ressentiments in die Hände, wonach sich die Juden als rücksichtslose kapitalistische Profiteure hervortaten und sich der Wehrpflicht zu entziehen suchten.8 Das war die erste offizielle Bekundung antisemitischer Vorurteile seitens des Preußischen Kriegsministeriums und der Obersten Heeresleitung. Sie spiegelte die vor allem im konservativen Lager verbreitete Bestrebung, Schuldige für die anwachsende öffentliche Missstimmung zu finden, die durch die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und die ungünstige Kriegslage ausgelöst war.
Die deutsche Revolution von 1918 war von einer Verstärkung nationalistischer und antisemitischer Gefühle auf Seiten der politischen Rechten begleitet, die sich mit dem eskalierenden Antibolschewismus und Antisozialismus verquickten, der sich des Vorwands bediente, dass Juden überproportional in der Sozialdemokratischen Partei und dem kleinen Spartakus-Bund vertreten waren, welcher zur Jahreswende zur Kommunistischen Partei umgegründet wurde. Die antisemitische Agitation war nicht zuletzt vom Alldeutschen Verband entfacht worden, in der extreme Judengegner, darunter der Justizrat Claß, eine führende Rolle spielten, obwohl der Verband selbst von jüdischen Honoratioren mitfinanziert wurde.
Die Revolution von 1918 konfrontierte den Alldeutschen Verband mit einer unerwarteten Konstellation. Um seine formell überparteiliche Stellung zu bewahren, hatte der Verband den Versuch unternommen, durch die Gründung extrem nationalistischer und antisemitischer Tarnorganisationen wie dem Reichshammerbund oder der Thule-Gesellschaft in München politischen Einfluss auszuüben. Diese ordensähnlich aufgebauten Geheimorganisationen, die überwiegend aus bürgerlichen Honoratioren bestanden, spielten in der aktivistischen antisemitischen Bewegung eine maßgebende Rolle, die sich vor allem in München am Ende des Krieges und nach dem Zusammenbruch vom November 1918 herausgebildet hatte. Der Alldeutsche Verband unterstützte zugleich die Deutsche Vaterlandspartei die von rechtsstehenden Politikern im Umkreis des Generallandschaftsdirektors Kapp 1916 ins Leben gerufen worden war, um die Fortführung des Krieges gegenüber den anwachsenden Protesten in der Arbeiterschaft und dem unteren Mittelstand propagandistisch durchzusetzen, und die ebenfalls dem Antisemitismus das Wort redete.9
Die Vaterlandspartei stellte einen neuen Typ der Massenorganisation dar, indem sie im Unterschied zu bürgerlichen Vereinen auf individuelle Mitgliedschaft verzichtete und stattdessen einen Zusammenschluss des Verbandswesens im rechtsbürgerlichen Spektrum anstrebte, zu dem die Christlichen Gewerkschaften, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und die Patriotischen und Kriegervereine gehörten. In dieser Hinsicht nahm die Vaterlandspartei Organisationsmuster der faschistischen Parteien vorweg, während ihre Führungsgruppe der Tradition des Wilhelminischen Kaiserreiches verhaftet blieb und insofern den Schritt zu offen populistischen Agitationstechniken verfehlte. Sie nahm eine defensive Position gegenüber dem vordringenden Einfluss der Sozialdemokraten ein, die für einen Frieden ohne Annexionen und die Reform des preußischen Wahlrechts eintraten, unterstützte aber gleichzeitig völkisch-antisemitische Bestrebungen.
In der begründeten Erwartung, dass die bevorstehenden Wahlen zur Nationalversammlung, die nun auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes erfolgten, die bisherige bürgerlich-konservative Majorität zerbrechen und die Konservative Partei dadurch ihren früheren Rückhalt in der öffentlichen Verwaltung einbüßen würde, reagierte der Alldeutsche Verband mit der Gründung einer neuen nationalistischen Organisation, dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, der die Aufgabe haben sollte, die Arbeiterschaft für das rechte Lager zu gewinnen. Als Mittel der Massenmobilisierung, die sich vor allem gegen die sozialistische Mehrheit richtete, sollten die verbreiteten antisemitischen Ressentiments im Nachkriegsdeutschland ausgespielt werden.10
Parallel zu der Initiative entschloss sich eine Reihe von alldeutsch gesinnten Honoratioren, die der Münchner Thule-Gesellschaft angehörten, unter ihnen der völkische Journalist...