II
Ordnungen des Raumes: Nationalstaat und Modernisierung
Vom Ort zum Territorium
Als der Maler und Kartograph Melchior Lorichs am 3. Dezember 1567 in Lübeck vor den kaiserlichen Gerichtskommissaren als Zeuge erschien, präsentierte er zur Überraschung der dort Anwesenden eine insgesamt zwölf Meter lange Karte, mit der er ganz im Sinne seines Auftraggebers – dem »radt der stadt hamburgk« – den genauen Verlauf der von der Handelsschifffahrt stark frequentierten Elbe nachzuweisen suchte. Die damals hoch verschuldete Stadt Hamburg führte zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren einen langwierigen Rechtsstreit vor dem Reichskammergericht in Speyer, um ihr althergebrachtes Privileg des Stapelrechtes gegen die von den Herzögen Heinrich und Wilhelm zu Braunschweig-Lüneburg, dem Herzog Otto von Harburg sowie den Städten Lüneburg, Buxtehude und Stade erhobenen Ansprüche bestätigt zu bekommen.1 Entgegen der Widerklage durch die benachbarten Elbanlieger bestand Hamburg auf sein alleiniges Recht, dass jeder, der die Elbe befuhr, in der Hansestadt anlegen, Zoll zahlen und seine Waren auf dem Markt anbieten müsse. Aber auf welche Teile der Elbe bezog sich dieses Privileg? War es auch für den südlichen Elblauf sowie für andere Nebenarme uneingeschränkt gültig?
Dass die Hansestadt seit jeher viel Geld in die Sicherung und Instandhaltung ihrer Elbe investierte, war unbestritten. Für Markierungstonnen, Fahrrinnenvertiefungen und Deichbau sowie für den Kampf gegen Piraterie mussten erhebliche Mittel aufgebracht werden, von denen die Elbnachbarn zwar profitierten, an denen sie sich aber nicht beteiligten. Ganz im Gegenteil: Sie reklamierten den südlichen Elbarm als eigenständigen Schifffahrtsweg und lotsten Frachtschiffe auf dieser Route an der Hansestadt vorbei. Als Hamburg diese Vorbeifuhr mit bewaffneten Fregatten zu unterbinden begann, eskalierte der Konflikt. Vor dem Reichskammergericht klagte der Hamburger Rat die volle Zoll- und Stapelgerechtigkeit auf der Elbe ein. Nach umfangreicher Beweisaufnahme und Zeugenvernehmung sollte Lorichs Elbkarte 1567 den entscheidenden Durchbruch erwirken und kartographisch beglaubigen, dass die Süderelbe kein »eigen stromb sey und iren eigen ufer und alveum habe«.2 Der Hamburger Vertreter vor Gericht, der Ratsherr Nicolaus Vogeler, bekräftigte mit Verweis auf Lorichs kartographische Arbeit, »das nur ein Elbe sey und das solche Elbe oder Elbstrom durch etzliche Insulen in der Elb, an mehr orteren belegen, in etzliche arme oder strangen sive brachia ausgetheilet werde, welchere arme oder streng alle, keinen ausgenommen, widerumb zusammen kommen und in einander lauffen in die wilde Sehe und das offene Meer«.3
Lorichs entwarf seine Elbkarte als Panorama.
Vom Sachsenwald im Osten bis Scharhörn an der Nordseemündung zeigt sie den Verlauf der Elbe mit ihren verästelten Nebenarmen. Doch nicht allein der häufige Zusatz »Hamborgisch« sollte die Stapelrechtsansprüche der Hansestadt unterstreichen, Lorichs Elbansicht setzte kartographisch genau das um, was seine Auftraggeber gerichtlich durchzusetzen versuchten: Das Kartenbild zeigt zwar ein Stromspaltungsgebiet, aber trotz der detailliert ausgearbeiteten Verzweigungen und Gabelungen des Flusses kann selbst der skeptische Betrachter nicht umhin festzustellen, dass am Ende alles wieder zusammenfließt und daher »nur ein Elb und ein Elbstrom und nicht zwen sein«.4 Die »sonderliche herrliche mappa« verfehlte ihre Wirkung nicht. 1569 erlangte Hamburg ein kaiserliches Mandat, das den Prozessgegnern die Behinderung der Elbschifffahrt »auffm freyen Elbstrom« erneut untersagte. Zwar wurden Hamburgs Stapelrechtsansprüche auf der Süderelbe 1618 vom Reichskammergericht nicht in vollem Umfang bestätigt, der Stadt war es aber insgesamt gelungen, ihre Hoheitsrechte auf der Elbe zu behaupten.5
Lorichs Elbkarte ist ein visuelles Meisterwerk der Renaissance, sie ist aber auch ein Dokument, das über das zeitgenössische Territorialverständnis dezidiert Auskunft gibt. Im 16. Jahrhundert wurden Karten bereits als Beweismittel genutzt, um Rechtsansprüche gerichtlich durchzusetzen. Auch die Konkurrenten aus Braunschweig und Lüneburg hatten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und bereits 1555 eine Karte vorgelegt, auf der die Süderelbe und nicht der zu Hamburg gehörende nördliche Arm als Hauptschifffahrtsweg ausgewiesen war. Solche Beweisführungen gingen oft mit gewissen geographischen Verzerrungen einher, die mal mehr und mal weniger ins Auge sprangen. Die von den Elbanliegern eingebrachte Karte beispielsweise war nach Süden ausgerichtet und karikierte den nördlichen Elbarm – im Unterschied zur überdimensional breiten Niederelbe – als kleines Rinnsal und brachte damit bereits gestalterisch die Intentionen ihrer Auftraggeber zum Ausdruck. Auch Lorichs’ kartographische Gegendarstellung ist in ihren Proportionen zu breit geraten, allerdings schlägt bei ihr der professionelle Anspruch stärker zu Buche, das »was auf der Carten stehe, das sei dem rechten eigentlichen situi gemeeß, wie er anders nicht wisse oder gesehen habe«.6 Die Elbkarte beruhte nicht auf Messdaten im heutigen Sinne, sondern Lorichs bereiste das Elbegebiet per Wagen und Schiff. Von Kirchtürmen aus nahm er Maß, visierte markante Punkte mit Kompass und Meßscheibe und machte sich Skizzen zur Landschaft, zu den angrenzenden Städten und Dörfern sowie zum gesamten Elbverlauf. Darüber hinaus befragte er Anwohner vor Ort und nutzte ihr geographisches Wissen für die Kartengestaltung. Lorichs enge Freundschaft mit dem berühmten Kartographen Abraham Ortelius in Antwerpen und seine langen Aufenthalte in Italien und Konstantinopel lassen den Schluss zu, dass er mit den damaligen Techniken kartographischer Arbeit bestens vertraut war. Doch die Kartographie begann sich seit dem 16. Jahrhundert erst allmählich zu verändern, und von der modernen Vorstellung eines wirklichkeitsgetreuen Bezugs zwischen geographischem Ort und kartographischer Projektion war Lorichs Elbansicht noch weit entfernt.
In mancherlei Hinsicht veranschaulicht die Elbkarte den Übergang von der spätmittelalterlichen Kartenherstellung hin zur modernen, an wissenschaftlichen Standards orientierten Kartographie, wie sie sich im Zuge des frühneuzeitlichen Territorialisierungsschubes entwickelte. Zweifellos war es Lorichs Bestreben, das Gebiet zwischen Geesthacht und Neuwerk so wirklichkeitsgetreu wie nur möglich abzubilden, schon allein um der Gegenseite vor Gericht keine Angriffsfläche zu bieten. Doch ist dieser Wirklichkeitsbezug nicht gleichzusetzen mit einem modernen Verständnis von Maßstabstreue und Raumprojektion. Die Kartengestaltung orientierte sich vielmehr an den zeitgenössischen Voraussetzungen der Datenerhebung sowie an den üblichen Herstellungsverfahren, darüber hinaus aber auch an den spezifischen Gebrauchsanforderungen eines gerichtlichen Beweismittels.7 Sinn und Zweck der Elbkarte war es, gewohnheitsrechtliche Ansprüche aufseiten Hamburgs gegen die wirtschaftlichen Interessen der Prozessgegner durchzusetzen. Lorichs wählte dafür einen Kartenausschnitt, der mit Verweis auf die natürlichen Gegebenheiten des Elbverlaufs das entscheidende Argument zur Darstellung brachte: Die Elbe verzweigt sich zwar in zahlreiche Nebenarme, sie ist aber trotzdem ein zusammenhängender Fluss, und dieser Tatsache kommt auch im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Nutzung rechtliche Bedeutung zu. Der Verweis auf die natürlichen Gegebenheiten diente also als entscheidende Begründung für die eigene Rechtsauffassung. Verstärkt wurde diese Argumentation durch die detailgenaue Präsentation des hamburgischen Engagements auf der Elbe. Kein anderer Elbanlieger hatte sich bisher in dieser Weise für die Sicherung und Unterhaltung der Elbschifffahrt eingesetzt. Neben den als natürlich ausgewiesenen Gegebenheiten, die als gottgewollt gedeutet wurden, war es die bisherige Rechtspraxis, die Lorichs kartographisch herausarbeitete, um Hamburgs Stapelrechtsansprüche zu unterstreichen. Daher wird er es auch als legitim erachtet haben, die für seine Argumentation unerheblichen topographischen Objekte allenfalls anzudeuten oder ganz zu vernachlässigen.
Die Notwendigkeit, ein bestimmtes Gebiet kartographisch darzustellen, es zu untergliedern, abzustecken und zu repräsentieren, war in diesem Falle primär durch das Interesse geleitet, bestimmte Hoheitsrechte, die nicht mehr widerspruchsfrei akzeptiert wurden, zu regeln, in anderen Fällen konnte es auch um umstrittene Besitzansprüche oder Kontributionen gehen. Vereinbarungen, die festzulegen versuchten, wo ein Gebiet anfing oder endete, richteten sich nach ihren zweckgebundenen Kontexten. Um unzugängliche oder abgelegene Regionen, die ökonomisch uninteressant waren oder zur Klärung der aktuellen Streitfrage nichts beizutragen hatten, kümmerte man sich daher auch nicht. Hier reichte es vollkommen aus, ungefähr zu wissen, wo das eine Gebiet endete und das andere begann. Die Auffassung, dass Rechtsfragen durch die territoriale Zugehörigkeit eines Gebietes zu...