GEORG MARKUS
Meine zwei Begegnungen mit Mary Vetsera
Nach dem »Grabraub« die »Denkschrift«
Meine erste Begegnung mit Mary Vetsera liegt mehr als zwei Jahrzehnte zurück und hätte skurriler nicht sein können. Ein Möbelhändler aus Linz rief mich an und teilte mir mit, im Besitz der Gebeine von Kronprinz Rudolfs letzter Liebe zu sein. Was sich vorerst wie ein schlechter Witz anhörte, sollte sich bald als aufsehenerregendster »Grabraub« der österreichischen Geschichte erweisen. Die sterblichen Überreste der Mary Vetsera waren tatsächlich bei Nacht und Nebel aus ihrer Gruft im Stiftsfriedhof von Heiligenkreuz bei Wien gestohlen worden, und bald danach lag der Kopf der toten Baronesse auf meinem Schreibtisch – doch darauf komme ich später noch zu sprechen.
Meine zweite Begegnung mit Mary Vetsera erlebe ich durch die vorliegende »Denkschrift« ihrer Mutter, der Baronin Helene Vetsera. Und sie ist um nichts weniger aufregend, als es der Grabraub war. Die 148 handgeschriebenen Seiten sind der Aufschrei einer Frau, der das denkbar Schlimmste widerfahren war, was einer Mutter widerfahren kann: Ihre 17-jährige Tochter Mary war im Jagdschloss Mayerling bei Wien tot aufgefunden worden.
Als hätte das nicht genügt, wurde der verzweifelten Frau vom kaiserlichen Hof erklärt, dass Mary, ehe sie sich das Leben nahm, den Thronfolger ermordet hätte. Auch damit nicht genug, untersagte man Helene Vetsera, ihre tote Tochter noch einmal zu sehen und an ihrer Beisetzung teilzunehmen.
Wie man heute weiß, hat Mary Vetsera die Tat, derer man sie beschuldigte, nicht begangen. Sie war Opfer und nicht Täterin.
Es ist mehr als verständlich, dass Helene Vetsera, als sie nach Wochen des ersten Schocks wieder klar denken konnte, all die Lügen, Irreführungen und Heucheleien nicht auf sich und vor allem ihrer verstorbenen Tochter sitzen lassen wollte. Sie sah es als ihre Pflicht an, Mary wenigstens im Angesicht des Todes Gerechtigkeit zukommen zu lassen. In erster Linie, indem sie widerrief, dass ihre Tochter die Mörderin des Kronprinzen Rudolf sei.
Und das tat Helene Vetsera mit der hier vorliegenden »Denkschrift«. In klaren Worten, wie sie in den 125 Jahren, die seither ins Land gezogen sind, sonst nicht gefallen sind. Die gebrochene Mutter schildert aber auch, wie es zur Tragödie von Mayerling kam, wie man Mary, die noch ein halbes Kind war, aus ihrem Elternhaus »schmuggelte«, was an jenem 30. Jänner 1889 im Jagdschloss des Thronfolgers passierte und wie übel man ihrer Tochter auch nach ihrem Tod noch mitspielte.
Das kurze Leben der Mary Vetsera
Wer aber war das Mädchen, dem so viel angetan wurde? Marie Alexandrine Freiin von Vetsera war am 19. März 1871 in Wien als drittes von vier Kindern des aus Pressburg stammenden Diplomaten Albin Vetsera und der Helene geb. Baltazzi zur Welt gekommen. »Mary«, wie sie bald gerufen wurde, wohnte zunächst in der am Ufer des Donaukanals gelegenen elterlichen Villa Am Schüttel Nr. 11 in der Wiener Leopoldstadt, ehe die Familie in das elegantere Palais Vetsera in der Salesianergasse 11 übersiedelte. Mary Vetsera erhielt ihren Unterricht vorerst durch private Hauslehrer und besuchte später das »Erziehungsinstitut für adlige Mädchen« im Salesianerkloster, wo sie auf ein Leben in der »großen Welt« vorbereitet werden sollte.
Mary war das, was man eine »gute Kaisermischung« nannte. Die väterlichen Vorfahren waren Slawen und Deutsche, die Ahnen der Mutter Italiener, Griechen und Engländer gewesen. Marys Eltern hatten sich in Konstantinopel kennengelernt, wo Albin Vetsera damals als Legationssekretär an der österreichischen Botschaft tätig war. Marys Mutter, die bei ihrer Hochzeit erst 16-jährige Helene Baltazzi, entstammte einer reichen Bankiersfamilie, die im Orient ihre Geschäfte betrieb. Albin Vetsera, um 22 Jahre älter als seine Frau, war ursprünglich ein Freund ihrer Eltern gewesen und wurde nach deren frühem Tod zum Vormund aller zehn Baltazzi-Kinder bestellt. 1864 nahm er sein ältestes Mündel zur Frau.
Die kleine Mary war das, was man in Wien eine »gute Kaisermischung« nannte. Die väterlichen Vorfahren waren Slawen und Deutsche, die Ahnen der Mutter Italiener, Griechen und Engländer.
Es war alles andere als eine Liebesheirat, Helene galt vielmehr als »blendende Partie«. Die Ehe mit einem der reichsten Mädchen von Konstantinopel wirkte sich offenbar auch günstig auf Albins Karriere aus: Vetsera brachte es sehr rasch zum Gesandten und Bevollmächtigten Minister in St. Petersburg, Lissabon und am hessischen Hof.
Durch den Vater – der 1870 von Kaiser Franz Joseph in den Freiherrnstand erhoben wurde – dem erblichen Kleinadel angehörend und von der Familie der Mutter mit immensem Reichtum ausgestattet, verkehrte Mary bald in den ersten Kreisen der Haupt- und Residenzstadt. Während der Vater kränklich und durch seinen Beruf viel im Ausland war, gab die als lebenslustig bekannte Mutter in ihrem Salon zahlreiche Einladungen. Sie ließ – selbst eine blendende Campagnereiterin – auch kein Pferderennen aus und war gern gesehener Gast bei eleganten Diners, Soireen und Bällen. »Madame Vetsera will zu Hof gehen, sich und ihre Familie zur Geltung bringen«, notierte eine Hofdame der Kaiserin Elisabeth in ihrem Tagebuch. Das war just im Jahre 1877, in dem Helene eine stürmische Affäre mit dem Kronprinzen hatte. Somit also zwölf Jahre vor ihrer Tochter. Im Wiener Salonblatt ist nachzulesen, dass Helene Vetsera »großes Interesse für das öffentliche Leben der Residenz zeigt, so dass sie selten einem Feste fernbleibt«.
Marys Onkel Hector Baltazzi war ein erfolgreicher Jockey; Alexander und Aristides, zwei weitere Brüder der Helene Vetsera, traten mit Pferden aus dem eigenen Stall bei internationalen Rennen an. 1876 gewannen sie – gegen eine übermächtige englische Konkurrenz – das Derby von Epsom. Einen legendären Ruf hatten die Brüder aber auch als Politiker, Offiziere und vor allem als Lebemänner, die auf keiner der großen Gesellschaften in London, Paris, St. Petersburg und Wien fehlten. Heinrich Baltazzi, der jüngste der vier Brüder, galt als »elegantester Herr der Monarchie«. Er wurde von Arthur Schnitzler als »unerreichbares Idealbild« bezeichnet und zur Vorlage des Grafen im Reigen.
Schon als Zehnjährige hat Mary ihre erste Begegnung mit dem Tod. Am 8. Dezember 1881 kehrt ihr älterer Bruder Ladislaus, der eine Vorstellung von Hoffmanns Erzählungen besuchte, nicht mehr zurück ins elterliche Palais. Der 16-jährige Militärschüler zählte zu den Opfern des Ringtheaterbrandes, bei dem insgesamt 386 Menschen ums Leben kamen. 1887 – eineinhalb Jahre vor der Katastrophe von Mayerling – stirbt Marys Vater mit 62 Jahren in Kairo an den Folgen eines Schlaganfalls.
Marys Eltern, Albin Freiherr von Vetsera und Helene geb. Baltazzi. Der Vater war kränklich, 22 Jahre älter als seine Frau und durch seinen Beruf als Diplomat wenig bei der Familie.
Die 17-jährige Baronesse hatte laut Marie Nunziante, der Besitzerin eines Wiener Modesalons, »ein reizendes Figürl, aber so was Süßes wie ihr Köpferl kann man sich gar nicht vorstellen. Ihr Teint spielte ins Bräunliche, sie hatte wunderbar frische Backerln, mandelförmig geschnittene Augen und dunkles Haar. Man war glücklich, wenn man sie nur ansehen konnte.« In der Vetsera-Biografie des Familien-Nachlassverwalters Hermann Swistun wird sie als »körperlich etwas über ihre Jahre gereift« beschrieben, »mit vollendeter Figur, einer kleinen Stupsnase über einem kleinen roten Mund«, ihre Augen seien »tiefblau und unwahrscheinlich groß« gewesen. Ihre Bildung freilich war – durchaus der Erziehung »höherer Töchter« der Zeit entsprechend – mehr als mangelhaft, sie stellte keinerlei geistige Ansprüche und interessierte sich, außer für ihre Toilette, nur noch fürs Eislaufen und für den Rennplatz.
»So was Süßes wie ihr Köpferl kann man sich gar nicht vorstellen«: Mary Vetsera war nicht einmal 18 Jahre alt, als sie in Kronprinz Rudolfs Jagdschloss Mayerling bei Wien starb.
Mary und der Kronprinz
Eben dort, beim Pferderennen in der Freudenau, sah sie am 12. April 1888 den in der Hofloge weilenden Kronprinzen Rudolf zum ersten Mal aus relativ geringer Entfernung. Mary hinterließ in einer Kalendernotiz, dass an diesem Nachmittag »eine Leidenschaft geboren wurde«, und die Fürstin Nora Fugger vermerkte in ihren Memoiren, der Kronprinz »scheint auf Marys Augenspiel gleich eingegangen zu sein, was ihr ganz den Kopf verdrehte«.
Gabriel Dubray, Marys Französischlehrer, beschrieb kurz...