Meine Erinnerungen reichen sehr weit zurück; mir sind winzige Einzelheiten im Gedächtnis verblieben, schattenhaft und doch unverwischbar, die an der Grenze des dritten und zweiten Lebensjahrs liegen müssen. Aber auf meine Urheimat vermag ich mich nicht zu besinnen. Die ist für mich paläontologisches Gebiet, irgendwo im damaligen Russisch-Polen, wo ich in einem abseitigen Nest namens Pilica – in klassischer Aussprache »Pilitza«, in vulgärer Abkürzung bloß »Pilz« – am 15. Januar 1851 mit der besten aller Welten erste Bekanntschaft machte. Ich war fünfzehn Monate alt, als meine Eltern den Wohnsitz nach Breslau verlegten; eine kostspielige und schwierige Angelegenheit, denn die Auswanderungsgebühr verschlang fünfzehnhundert Rubel, der Umzug und die Einbürgerung in Preußen fraß weitere Löcher in das schmächtige Portemonnaie meines Vaters. Eigentlich hätte sich in unserer Familie Geld befinden müssen, denn mein Großvater mütterlicherseits hatte einmal das große Los gewonnen, aber der ganze Reichtum war blöde verjuxt worden, man schaffte eine vierspännige Equipage an, fuhr mit Kind und Kegel zu luxuriösem Leben nach Karlsbad und fand weitere sinnige Methoden zur Vergeudung des Restes. Als mein Vater heiratete, stiftete man ihm eine Mitgift von 1100 Gulden damaliger polnischer Währung, was sich in 183 Taler umrechnen ließ. Dieser Größenordnung entsprechend hielten sich auch die Lebensanschauungen meiner Eltern in den allerengsten Grenzen. Eine Bildung in westeuropäischem Sinne war kaum andeutungsweise vorhanden. Allein in diesem engen Horizont befand sich ein Konzentrationspunkt für Sehnsüchte nach einer ultrapolnischen Kultur, die etwa in Myslowitz begann und sich in schlesisches Land erstreckte bis zum Kulminationspunkt Breslau. Darüber hinaus dachte man nicht, da sonstige Städte wie Berlin, Leipzig oder Wien für diese Vorstellung in anderen Planetensystemen lagen.
Nach heutigen Begriffen trug Breslau mit seinen 100 000 Einwohnern die Ausmaße einer unbeträchtlichen Provinzstadt, noch lange nicht an gewisse Vororte Berlins heranreichend, die es um die Jahrhundertwende bis zur dreifachen Seelenzahl brachten. Aber für den polnischen Kleinbürger besaß es Londoner Dimensionen und dazu einen Geistesglanz wie Athen im Altertum, zu Perikles' Zeiten, wo ja ganz Attika nicht mehr Bewohner zählte als das heutige Görlitz. Die Bildung, so schwebte es meinem Vater vor, konnte sich nicht in dem einfachen Drill der Gebetschule erschöpfen, und auf den Breslauer Anstalten, überragt von der Universität Viadrina, gab es sicherlich viele Lehrmeister, die noch mehr und besseres wußten als die Talmudisten der dunklen Heimat. Blieb ihm selbst das Wissensparadies verschlossen, so sollte es sich doch einmal dem kleinen Alex öffnen.
Über die Bestandteile solches Wissens dämmerten ganz nebelhafte Ahnungen. Sprachenkunde, das war wohl das wichtigste, irgendwelche Bücherweisheit, worin Hochdeutsch, Lateinisch und Griechisch – im Jargon hieß das »Greckisch« – vorkommen mochten. Hiermit verflochten sich ganz verworren die Namen einiger Berühmtheiten, die zufällig in jenen engen Ideenkreis eingedrungen waren. Homer, Dante, Shakespeare fehlten auf der Liste, Goethe war ein Klang, von Schiller kannte man einige Szenen und Verse, von Lessing den Nathan, und als der Hauptvertreter der Gelehrtenwelt galt Alexander von Humboldt, der ein ungeheures Buch »Kosmos« geschrieben haben sollte. Da sah man in weitester Ferne, mit verschwimmenden Umrissen ein Ziel: vielleicht war es möglich, den kleinen Sprößling der Familie auf eine Fährte zu setzen, damit er dereinst so eine Sache wie den Kosmos studieren und verstehen konnte. –
Die erste Station zur Humboldt-Höhe war eine Kleinkinder-Bewahranstalt im Dorotheengäßchen, wenige Schritte von unserer Behausung. Ich war drei Jahr alt, als man mich dort hineintat, und mein erstes Debüt lief übel ab. Natürlich gab es dort noch kein schulmäßiges Lernen; die ältliche Vorsteherin erzählte den Knirpsen allerlei, die Kleinchen waren auf Bänken aufgereiht, damit sie sich an manierliches Sitzen gewöhnten. Allein ich war sogar den Anfangsgründen des Benehmens unzugänglich und produzierte mich mitten in der Stube mit einem hydraulischen Akt, der bei gesitteten Kindern sonst nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorkommt. Man hatte mich offenbar überschätzt, als man mir die moralische Reife für die Kleinkinder-Bewahranstalt zutraute, und hielt zur Vermeidung fortgesetzten Ärgernisses einen vorläufigen Besserungskursus im Hause für angezeigt; und nachdem man mir die ärgsten Springbrunnen-Phänomene ausgetrieben hatte, wurde ich zur weiteren Übertünchung mit europäischer Kultur einer Spielschule überliefert. Das war nun eine ganz lustige Angelegenheit. Die Kinder wurden von überallher früh morgens in besonderem Omnibus abgeholt, gegen Mittag ebenso heimgebracht, und mit fröhlichem Gelärm wie diese Spazierfahrt im klingelnden Wagen verlief auch der ganze spielerisch angelegte Unterricht. Es gab da nicht nur Haschemann, Kämmerchenvermieten, Seilspringen und Kreiseltreiben, sondern auch Ansätze zu Handfertigkeitsübungen und Spuren von Sprachkultur. Die Namen etlicher Pfleger sind mir noch gegenwärtig: Roedelius, der als Turnwart den Hauptbetrieb leitete, und ein schweizer Fräulein l'Ami, mit der wir ein bißchen auf französisch kauderwelschten. Man gab uns auch, ohne jede methodische Anleitung, Bilderfibeln mit Knittelversen und Prosatexten, deren Sinn den Geweckteren schnell genug aufging. Das vollzog sich wesentlich instinktiv und automatisch. Ich habe nicht die leiseste Erinnerung an ein Lesenlernen, besinne mich aber genau, daß ich rund zwei Jahre vor dem schulpflichtigen Alter mit deutscher Fraktur und mit Antiquaschrift ganz ausreichend Bescheid wußte; denn als man mich als noch nicht Sechsjährigen aufs Gymnasium gab, fand ich sogleich Unterkunft in der Oktava, mit Überspringung der untersten ABC-Klasse. Ein Jahr später, immer noch in der Vorschulabteilung, bekam ich bereits eine Menge lateinischer Vokabeln eingetrichtert, nach einem längst überwundenem vorsintflutlichen Lehrplan. Viele Begriffe gelangten an mich in Lateinworten, bevor sich der deutsche Ausdruck in meinem kleinen Schädel eingebürgert hatte. Und diese Einpaukerei wurde nicht etwa einem Bakelschwinger der Klippschule überlassen; nein, der Rektor selbst, der seinerzeit sehr berühmte Professor Fickert, der sonst nur in Prima dozierte; erschien täglich in der Septima, um die Jungchen mit ciceronianischen Mitteln zu bearbeiten, indem er lateinisch fragte und lateinische Antworten verlangte. Das mag zu allererst ganz absurd klingen, es ist und war aber durchaus nicht unmöglich: erzählt uns doch auch Montaigne in seinem Kapitel von der Kinderzucht, daß er sich mit sieben Jahren ein ganz brauchbares Gesprächslatein angeeignet habe, bevor er noch von seiner französischen Muttersprache eine rechte Ahnung besaß. Es gibt eben Verständigungswege, die in keiner Grammatik vorgezeichnet stehen, und wer für humanistische Erziehung sehr viel übrig hat, der wird am Ende auch jene prämaturierte Gymnasialmethode nicht gar so schrecklich finden.
Mit dem Deutschen freilich haperte es. Ich befand mich eingekeilt in Fickert'schem Latein, häuslichem polnisch-orientalischem Jargon und schlesischem Gassendialekt, mit seinem Gewimmel mundartlicher Brocken, von denen heut manche kaum noch in versteckten gebirgsschlesischen Winkeln in Umlauf sind. Und meine Kinderbücher waren auch nicht geeignet, mich zur wahren Germanistik zu führen, zumal ich stark zu privaten Deutungen neigte, weitab von jeder deutsch-sprachlichen Möglichkeit. So begann eine gedruckte Fabel: »Die Nachtigall ging einst auf Reisen und zur Gesellschaft nahm sie eine Lerche mit.« Der Zufall hatte das Mittelwort »Gesellschaft« an den Zeilenschluß gesetzt und durch Abteilungsstrichel in Gesellschaft zerlegt. Das kleine »schaft« bedeutete mir eine gleichgültige Partikel, während der Anfang nunmehr hieß: »Die Nachtigall ging einst auf Reisen und zur Gésell...« Folglich war die Gésell – mit dem Ton auf der ersten Silbe – ein Vogel, den die Nachtigall besuchen wollte. Und diese Deutung setzte sich in mir so fest, daß ich noch nach Jahren das gedruckte Wort Gesellschaft nicht ansehen konnte, ohne daß mir aus den ersten Silben ein ganz bestimmter Vogel, nämlich ein bunter Fink, entgegenpiepte. Dies mochte damit zusammenhängen, daß meine ganze Vorstellungswelt von gefiederten Wesen bevölkert war. Sie hießen in der Familie »Wedden« oder »Weddeles«, zärtlich verdorben aus »Vögelchen«, wir hatten stets solche Kreaturen in Käfigen, in Hecke-Vorrichtungen, Kanarienvögel, Stieglitze, Bengalisten, die wir einzeln mit hätschelnden Bezeichnungen belegten: Prinkel, Hoppenprinkel, Jeïschle, Kitschkischi, Worte, deren, Bedeutung sich viel später ins Persönliche ausdehnten, um dann sinngemäß übertragen meine Braut und Ehehälfte zu kosen. Aber der Generaltitel für das liebe Getier blieb erhalten, und als ich nach reichlichen Jahrzehnten für Harden's »Zukunft« arbeitete, erschien dort von mir eine ganz lehrreiche ornithologische Studie mit der Überschrift »Weddele«. Meine Leidenschaft für die beschwingten Kreaturen wurde von den Eltern und von meinem jüngeren Bruder Moritz – der sich später als Tonkünstler einen bedeutenden Namen gemacht hat – vollauf geteilt, ja, dieser übertraf mich sogar noch in der praktischen Auswirkung, da seine Liebe von den lebendigen Objekten offensichtlich erwidert wurde. Er verstand sich auf zärtliche Lockrufe, und es ereignete sich gar nicht selten, daß ihm im Wald und auf der Wiese Vögel auf die Hand flogen. Einen Teil seiner späteren Menagerie hat er sich...