Es kommt nicht darauf an, wer zuerst den Satz geprägt hat: »Die Worte sind den Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.« Es wird gewöhnlich dem Talleyrand zugeschrieben, obschon auch andere mit gleichem Anspruch in Betracht kommen, Fouché, Voltaire, Young und lange zuvor Dionysius, Cato und Plutarch. Lassen wir ihn als Bekenntnis Talleyrands gelten, so hat er im sittlichen Sinne eine üble Bedeutung als grundsätzliche Rechtfertigung der Verlogenheit und der ränkevollen List. Entkleiden wir aber den Satz seiner Bosheit, so bleibt eine große Wahrheit bestehen: Denn die Worte verbergen allerdings unsere Gedanken, aus dem einfachen Grunde, weil sie gar nicht imstande sind, sie auszudrücken. Alle Schuld liegt bei den Worten, bei ihren Mängeln, ihrer Unzulänglichkeit, ihrer Minderzahl, bei Eigenschaften, die sie den Gedanken gegenüber gar keine andere Rolle spielen lassen als eine verhüllende, verfälschende, bestenfalls oberflächlich andeutende.
Von diesem Mißverhältnis der Sprache und Gedanken wissen nur die wenigsten Menschen. Aber für alle Fragen, die uns hier beschäftigen, vor allem für die Frage der Sprachreinheit, Sprachgüte und Sprachtauglichkeit, ist die Kenntnis jener Wahrheit unerläßlich. Um den Schluß vorwegzunehmen: Unsere heutigen Sprachreiniger sind, ohne es zu wissen und selbstverständlich ohne irgend welche diplomatische Bosheit, doch die Vollstrecker des Talleyrandschen Satzes. Sie leisten das Erdenkliche darin, den Wortschatz mit Waffen zur Verhüllung, ja zur Zerstörung der Gedanken auszurüsten; sie nehmen ihm alle Möglichkeiten, den Gedanken wenigstens in brauchbarer Annäherung gerecht zu werden. Denn in erster Linie: Sie vermindern die Zahl der Worte, sie dezimieren die Worttruppen, die ohnehin, selbst mit Einschluß der Fremd- und Weltworte spärlich genug sind, um im Aufmarsch gegen die Unendlichkeit der Gedanken dem Ausdrucksbedürfnis genügen zu können. Die hervorragendsten Denker aller Zeiten haben dieses Mißverhältnis gefühlt, einige von ihnen haben es ausgesprochen, so John Locke in seinem grundlegenden Werke über den menschlichen Verstand:
»Es würde nutzlos sein, alle die besonderen einfachen Ideen (Gedanken) aufzuzählen, die jedem Sinne angehören. In der Tat würde es aber auch, wenn wir es wollten, nicht möglich sein, weil den meisten Sinnen sehr viel mehr angehören, als wofür wir Namen (Worte) besitzen. Den mannigfaltigen Gerüchen z. B., deren es fast ebensoviele, wenn nicht mehr, als Arten von Körpern in der Welt gibt, fehlen fast durchweg die Namen, – die Worte. Duftig und stinkend genügen uns gewöhnlich zur Bezeichnung dieser Ideen, womit effektiv wenig mehr gesagt ist, als wenn man sie angenehm oder unangenehm nennt, obschon der Geruch einer Rose und eines Veilchens, die beide duften, wohl unterscheidbare Ideen sind. Kaum besser mit Namen versehen sind die verschiedenen Arten des Geschmacks, der uns durch unseren Gaumen Ideen zuführt. Süß, bitter, sauer, herb und salzig sind fast der ganze Vorrat an Eigenschaftsworten, die wir besitzen, um die zahllose Mannigfaltigkeit der Geschmacksempfindungen zu bezeichnen, die nicht nur aus so vielen Arten, sondern aus den verschiedenen Teilen derselben Pflanze, des nämlichen Tieres gewonnen werden. – Im Vergleich mit der endlosen Mannigfaltigkeit der Gedanken ist der Wörtervorrat so dürftig, daß Menschen, die für ihre Begriffe genau passende Ausdrücke nötig haben, selbst bei Anwendung der größten Vorsicht oft gezwungen sein werden, dasselbe Wort in etwas verschiedenem Sinn zu gebrauchen.«
Das wurde im siebzehnten Jahrhundert geschrieben; zu einer Zeit, in der die Sprachkritik noch in den Windeln lag; und in einem Lande, dessen Sprachentfaltung in keiner Weise bedroht war. John Locke hatte sich nicht zu wehren. Aber es klingt wie eine Ansage an die bedrohte Zukunft eines anderen Volkes, wenn er in einem besonderen Kapitel schon durch die Überschrift die »Unübersetzbarkeit der Wörter« feststellt und damit auf den Verrat hinweist, den die Übersetzer um jeden Preis am Worte verüben: »Wenn wir verschiedene Sprachen genau vergleichen, so werden wir finden, daß, wenn sie auch Wörter haben, die den Wörterbüchern zufolge einander entsprechen sollen, doch unter dem Namen komplexer Ideen kaum einer von zehnen genau dieselbe Idee vertritt wie das Wort, womit er in den Wörterbüchern übersetzt wird.« Kaum einer von zehnen, sagt Locke, – und er denkt dabei an die wirklichen, an die notwendigen Bücher, welche die Brücke von Sprache zu Sprache schlagen; kaum einer von hundert, würde er geschrieben haben, hätte er die Künste eines neuzeitlichen Fremdwörterbuches vorausahnen können. Des Weiteren betont Locke die »Unvollkommenheit der Wörter«, die »Zweifelhaftigkeit ihrer Bedeutung«, immer unter dem Gesichtspunkte, daß die Erfordernisse der Ideen durch keine Sprache, am wenigsten durch eine Einzelsprache zu befriedigen sind. Auf die einfachste Grundform gebracht, besagt seine Lehre: Der Worte sind viel zu wenig; selbst dann zu wenig, wenn man alle Sprachen vereinigt in den Dienst der Ideen stellen könnte.
Freilich nur für den, der sich mit den Schwierigkeiten des Ausdrucks herumzuschlagen hat. Der Kampf mit der Sprache ist das Los des Schriftstellers, sein Fluch und seine Wonne, und dieser Kampf beansprucht um so weiteres Feld, je weiter der Schriftsteller seine Gedanken zu spannen vermag. Der Landarbeiter, der niedere Handwerker, das Hausgesinde kämpft nicht mit der Sprache, sie kommen vollkommen aus, ja sie verbrauchen noch nicht einmal den zehnten Teil der Ausdrücke, die uns als Gemeingut gelten.
Hier nur ein Beispiel, für dessen Richtigkeit ich mich auf eine Fußnote in der »Analyse der Empfindungen« von Ernst Mach berufe: Die Bauern im Marchfelde sagen, daß das Kochsalz »sauer« sei, weil ihnen der Ausdruck »salzig« nicht geläufig ist. Eines Tages – so stellen wir uns vor – tritt es dem besonders feinfühligen Bauer A. ins Bewußtsein, daß der Unterschied beim Schmecken von Salz und von Essig doch zu stark sei, um mit einunddemselben Wort überdeckt zu werden. Zudem ist er in der großen Stadt gewesen und hat dort gehört, daß die Leute einen Pökelhering als salzig bezeichnen. Da ihm dies einleuchtet, so bringt er den neugewonnenen Ausdruck in das Marchfeld zurück und verpflanzt ihn in seine mündlichen Äußerungen.
Dies wird ihm vom Bauer B. nachdrücklich verwiesen. Die Reinheit der Sprache leide, wenn solche Fremdworte wie »salzig« aus der fernen Großstadt – dem Auslande – eingeschleppt würden. Auf den kleinen Unterschied in der Sinneswahrnehmung – (»die Nüankße«) – käme es nicht an, man solle sich rein: »völkisch« ausdrücken und das gute, alte, Marchfelder Wort sauer auch mit Bezug auf das Salz für vollkommen ausreichend erklären.
Damit stellt sich der Bauer B. durchaus auf den Standpunkt der Puristen im weiteren Sinne. Er verwischt Unterschiede, vermindert die Zahl der möglichen Worte, und er kann in seiner Abwehr des Fremdländischen der Anhängerschaft sicher sein; nämlich in seinem Kreise, dem Kochsalz sauer schmeckt, und dessen Denkschärfe wahrscheinlich ebenso entwickelt ist wie seine Empfindungsfeinheit.
Wo liegt die Grenze der Vereinfachung? Nahe genug am Nullpunkt. Und dies gilt nicht nur von den Einzelworten, sondern von der Grammatik, von der Sprache überhaupt. Man kann ausschalten, soviel man will, und es bleibt immer noch ein Rest übrig, der für die platte Verständigung ausreicht. Der substantivisch empfindende Malaie entbehrt nichts, wenn er auf das Zeitwort verzichtet. Er sagt nicht: »Der Mann wirft den Stein«, sondern: Der Wurf des Mannes ist ein Stein. Auf anderem primitiven Boden finden wir: »Mann-Wurf-Stein«, was ebensogut ausdrücken kann: der Mann will einen Stein werfen, als er hat ihn geworfen. Es kann sogar bedeuten: Sieh dich vor, suche Deckung, daß du nicht von dem Stein getroffen wirst, den der Mann dort drüben, der Feind, werfen wird.
Wir besitzen Studien und Bücher über die Affensprache, deren Untersucher, Garner und Waterhouse, mit überflüssiger Umständlichkeit selbstverständliche Dinge ermitteln. Mit ein und derselben Lautäußerung bezeichnet der Gibbon und das Kapuzineräffchen: »Futter«, »Fressen«, die »Nuß«, den »Zucker«, »gib mir die Nuß«, »gib mir den Zucker«, »ich bin darauf begierig«, »es wird mir gut schmecken«. Ihr Wortvorrat ist nicht groß, aber ausgiebig, ein erheblicher Zweifel über das Gemeinte kann nicht aufkommen. In seinem Sinne äußert sich jedenfalls das Äffchen eindeutig und bestimmt, und es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß eine verfeinerte Beobachtung dereinst Unterschiede in der Affenbezeichnung für Nuß und Zucker aufdecken wird. Aber höchstwahrscheinlich befindet sich im Wörterbuch des Äffchens keine Stelle für »Maus« und für »Fisch«; diese Worte mögen im Sprachschatz der Eule, der Katze und des Pelikans vorkommen; das geht den Affen nichts an; er hätte im gewöhnlichen Laufe seines täglichen Lebens alle Ursache, irgendwelchen Ausdruck für Maus oder Fisch zu den entbehrlichen Fremdworten zu rechnen.
Auch die Menschen und sogar wir gebildete Menschen vereinfachen unter Umständen sehr stark, nämlich dann, wenn es darauf ankommt, möglichst kurz, schnell und billig Nachricht zu geben. Mit einem einzigen Kurzwort wird unter tausenden möglicher Empfänger ein einzelner ganz bestimmt als Adresse bezeichnet, und wenn dieser, etwa der Leiter einer Bank, wiederum nur das einzige Wort »Russenfläue« als Telegramm empfängt, so...