2 Das methodische Vorgehen
In diesem Kapitel sollen in groben Ausschnitten der wissenschaftstheoretische Hintergrund und die einzelnen Schritte in der methodischen Vorgehensweise der Datengewinnung sowie –auswertung dieser Untersuchung dargestellt werden. Die in der Einleitung beschriebenen Fragestellungen dieser Arbeit eignen sich besonders für eine qualitative Vorgehensweise und vor allem für die Methode der Grounded Theory. Die Untersuchung wird daher an die Grundprinzipien der Grounded Theory angelehnt. Hier sollen für diese Untersuchung relevante Prinzipien der Methode kurz beschrieben werden. Zur Vertiefung wird auf weiterführende Literatur verwiesen.
2.1 Die Methode der Grounded Theory
Die Grounded Theory ist eine Methode der qualitativen Forschung. Sie ist eine induktiv vorgehende Methode zur Entdeckung von Theorie bezüglich relevanter Phänomene (Hildenbrand, 2003; Strauss und Corbin, 1996; Chenitz und Swanson, 1986). Sie beinhaltet alle notwendigen Elemente einer Forschungsstrategie (Schäfer und Boldt, 1995).
Entwickelt wurde die Grounded Theory ursprünglich von den beiden Soziologen Glaser und Strauss. Sie wurde aber über die Jahrzehnte hinweg von verschiedenen Disziplinen, wie z.B. den Gesundheits- und Pflegewissenschaften oder der Psychologie, weiter entwickelt (Strauss und Corbin, 1996; Corbin und Hildenbrand, 2000; Liehr/Marcus, 1996).
Grounded Theory ist eine gegenstandsverankerte bzw. aus empirischen Daten generierte Theorie, die aus der Untersuchung eines Phänomens abgeleitet wurde. Dabei wird nicht von theoretischen Vorannahmen bezüglich der Untersuchung des Phänomens ausgegangen (Strauss und Corbin, 1996; Hildenbrand, 2003). Glaser und Strauss (1998) sehen daher die Möglichkeit der Generierung einer Grounded Theory bezüglich eines Phänomens als eine Grundannahme an. Ihrer Ansicht nach heißt die Generierung einer Theorie auf der Grundlage von Daten nicht allein, dass die Hypothesen und Konzepte zur Theorie aus Daten stammen, sondern im Forschungsprozess systematisch im Bezug zu den Daten entwickelt werden. Deswegen sehen sie Theoriegenerierung grundsätzlich als Prozess an. Weiterhin gehen sie davon aus, dass die Angemessenheit einer Theorie nicht von dem Prozess, in dem sie generiert wird, getrennt werden kann. Dies erfordert eine induktive Entwicklung von Theorie.
Eine Grounded Theory entwickelt sich aus Daten. Die Daten werden aus so genannten Konzepten indiziert, die zu Kategorien und Eigenschaften zusammengefügt werden. Ein Konzept ist eine Bezeichnung, eine Kategorie ist ein konzeptuelles Theorieelement und eine Eigenschaft ist ein konzeptueller Aspekt einer Kategorie (Glaser und Strauss, 1998; Strauss und Corbin, 1996). Theorien werden mittels komparativer Analyse generiert, indem konzeptuelle Kategorien, die aus den Daten gewonnen wurden, miteinander verglichen werden. Somit besitzen sie ständigen Bezug zu den empirischen Daten. Dabei können materiale oder formale Theorien mittlerer Reichweite gewonnen werden. Materiale Theorien befassen sich mit Sachgebieten oder empirischen Feldern der Sozialforschung. Als formal werden Theorien bezeichnet, die für konzeptuelle Bereiche der Sozialforschung entwickelt werden. Beide Typen von Theorie können im Rahmen einer Untersuchung in einander überführt werden (Glaser und Strauss, 1998).
Grounded Theory ist eine Kunstlehre, weshalb es keine Rezepte für das Entwickeln von Theorien gibt. Ein Forschungsprozess wird jeweils von anderen Bedingungen und Strukturen beeinflusst. Daher kann keine Theoriegenerierung bzw. Phänomenuntersuchung der anderen gleichen (Böhm, 2003; Corbin, 2002). Der Forscher muss unter den gegebenen Bedingungen individuell im Forschungsprozesses entscheiden, welches die angemessenen Vorgehensweisen sind, um die Forschungsfrage adäquat zu beantworten.
2.1.1 Die Forschungsfrage
Die Forschungsfrage ergibt sich aus einem Dilemma. Das Dilemma entwickelt sich aus eigener persönlicher oder beruflicher Erfahrung wie auch aus der Literaturrecherche, wenn sich eine entstandene Frage bzw. ein Problem nicht oder nicht befriedigend beantworten bzw. lösen lässt. Daraus kann ein Forschungsthema hervorgehen, das eine angemessene Forschungsfrage beinhaltet (Strauss und Corbin, 1996; Chenitz, 1986a; Morse und Field, 1995).
Die Fragestellung einer Untersuchung bestimmt die Forschungsmethode. Forschungsfragen, die die Methode der Grounded Theory rechtfertigen, sollten nach Strauss und Corbin (1996) relativ offen und weit gefasst sein. Damit soll die Möglichkeit bestehen, neue Entdeckungen und Erkenntnisse zu zulassen und sie nicht schon im Vorfeld aus zuschließen. Die Forschungsfrage in der Grounded Theory legt das Phänomen fest, welches untersucht werden soll. Weiterhin wird formuliert, welches Erkenntnisinteresse zu diesem Phänomen besteht.
Fragestellungen in der Grounded Theory sind handlungs- und prozessorientiert, werden im Laufe der Untersuchung immer stärker eingeengt und fokussieren sich zunehmend auf bestimmte Konzepte sowie ihre Beziehungen. Eine solche Einengung der Fragestellungen kann sich auf die Interaktion von Beteiligten, auf organisatorische Abläufe oder biografische Entwicklungen ausrichten. Es werden keine Aussagen zu Beziehungen einzelner Variablen in der Fragestellung getroffen (Strauss und Corbin, 1996).
2.1.2 Die Datenerhebung
Die Datenerhebung in der Grounded Theory ist auf den ständigen Vergleich der gesammelten Daten ausgerichtet. Sie wird als zirkulärer Prozess der parallelen Datensammlung und –analyse betrachtet (Strauss und Corbin, 1996; Schäfer und Baring, 1995a). Glaser und Strauss (1998) bezeichnen diesen Prozess als Theoretisches Sampling (Theoretical Sampling). Im Laufe des Theoretischen Samplings können sich aus der Datenauswertung unterschiedliche Erkenntnisse ergeben, die im Vorfeld noch nicht bekannt waren. Daher ermöglicht ein kontinuierlicher und parallel verlaufender Vergleich der Daten neue Blickwinkel, andere Ansätze der Datenerhebung und Einengungen der Fragestellungen (Glaser und Strauss, 1998; Chenitz und Swanson, 1986).
Aufgrund des parallel verlaufenden Prozesses der Datenerhebung und –analyse ergibt sich die Möglichkeit viele verschiedene Kategorien zum Phänomen zu entwickeln und diese sowie die Daten auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus zu synthetisieren. Damit ist eine enge Verknüpfung der Konzeptionalisierung und Theoriegeneralisierung mit dem Phänomen gewährleistet (Glaser und Strauss, 1998; Corbin, 1986a).
Die Daten können sich aus diversen sozialen Phänomenen ergeben und auf unterschiedliche Weise erhoben werden. Zur Erhebung der Daten stehen der Grounded Theory vor allem die Beobachtung und die Befragung von Menschen, die mit dem zu beleuchtenden Phänomen in Verbindung stehen, zur Verfügung. Dabei wird auf übliche qualitative Methoden zurückgegriffen. Die Befragungsmöglichkeiten z.B. bestehen daher aus verschiedenen Formen des wissenschaftlichen Interviews (Glaser und Strauss, 1998; Strauss und Corbin, 1996). Das Datenmaterial ist Text im weitesten Sinne, wie z.B. verschriftete Interviews, Feldnotizen, Beobachtungsprotokolle (Böhm, 2003).
Als sekundäre Datenquellen stehen Fachliteratur, Studien, Dokumente und nichtfachliche Literatur zur Verfügung. Sie können eine Idee zur Untersuchung hervorbringen, weiter entwickeln helfen oder im Laufe des Theoretischen Samplings Informationen liefern und Daten stützen. Im Zusammenhang zur Literaturrecherche ist der Begriff der Theoretischen Sensibilität (Bewusstsein zur Bedeutung von Daten) in der Grounded Theory von wesentlicher Relevanz (Glaser, 1978; Glaser und Strauss, 1998). Diese Theoretische Sensibilität beeinflusst einerseits den Forschungsprozess aufgrund von Erkenntnissen und Fragen, die sich aus der Literatur ergeben und andererseits prägt der Forschungsprozess die Theoretische Sensibilität aufgrund neuer Fragen, die sich aus Kategorien und deren Eigenschaften entwickeln (Strauss und Corbin, 1996). Diesbezüglich ist aber zu reflektieren, dass die Kategorien sich nicht aufgrund von Literaturanalyse ergeben, sondern allein aus den Daten entwickelt und später durch Literatur gestützt werden (Glaser und Strauss, 1998).
Damit das Phänomen umfassend beleuchtet wird, sind nicht einzelne Fallverläufe sondern die kollektive Geschichte aller in der Studie betrachteten Fälle von Interesse. Daraus ergeben sich allgemein gültige Kategorien zur Theoriebildung (Charmaz, 2002).
2.1.3 Die Kodierung
Der Prozess der Datenanalyse bzw. das Konzeptionalisieren von Daten in der Grounded Theory ist die Theoretische Kodierung (Strauss und Corbin, 1996; Strauss, 1998, Schäfer und Baring, 1995b). Die Kodierung bezieht sich auf das Verschlüsseln der Daten (z.B. der Interviews) durch so genannte Codes als technische Begriffe des Auswertungsverfahrens und umfasst das Benennen von Konzepten und Kategorien. Codes sind dabei umgangssprachliche Begriffe, die sich direkt aus der Sprache des Textmaterials ergeben (Böhm, 2003) und sind nach Glaser (1978) die essentielle Relation zwischen Daten und Theorie. Ein...