Kapitel eins Jenseits der Oder: oder Abschied und Wiederkehr
Bitterer Abschied
Im bitterkalten Januar des Jahres 1945 verlässt eine Kutsche in großer Eile Schlesien. In ihr sitzt, in warme Decken gehüllt, der dreizehnjährige Sigismund Freiherr von Zedlitz zusammen mit seinen jüngeren Neffen und Nichten sowie einem Kindermädchen. Das hölzerne Gefährt schaukelt, seine Fenster sind vom Atem der Reisenden mit einer blumigen Eisschicht besetzt. Man ist Richtung Westen unterwegs, flieht vor der aus dem Osten heranrückenden Front. Sigismund von Zedlitz ist Spross eines der ältesten Adelsgeschlechter Schlesiens. Seit 1275 ist das Leben seiner weitverzweigten Familie urkundlich belegt, im Hirschberger Tal unterhalb des Riesengebirges haben die Zedlitz im Laufe der Jahrhunderte mehrere große und prächtige Schlösser besessen. Der junge Sigismund weiß davon, sein Vater hat ihm diese lange Geschichte erzählt. Er soll künftig die Verantwortung für seine Familie und ihre Geschichte übernehmen. Dazu wurde er erzogen, seine ganze Kindheit lang. Und zu mehr noch: zu der Überzeugung, dass Besitz immer nur geliehen ist, auf eine Lebenszeit. Dann ist er an die nächste Generation zu übergeben und als Lebensgrundlage einer Gemeinschaft zu bewahren.
Dem heranwachsenden Sigismund sind Schloss und Gut Neukirch an der Katzbach als Erbe zugedacht. Er soll den schuldenfreien Besitz bewahren und in die Zukunft führen. Doch jetzt ist Krieg, die Front wird in absehbarer Zeit Neukirch erreichen. Darum die Flucht nach Westen. Darum verlässt der Erbe des Zedlitzer Besitzes die preußische Provinz. Sigismunds Vater dagegen fühlt sich persönlich für die Organisation der Evakuierung des Dorfes zuständig, er will es als Letzter verlassen. Darum sind die Kinder ohne die Eltern unterwegs.
Dass der künftige Schlossherr auf seiner Flucht Goethes Weg aus dem Jahr 1790 kreuzt, ahnt er nicht. Er weiß aber schon, dass Schlesien ein begehrtes und umkämpftes Land ist. Der legendäre Feldherr Gebhard Leberecht von Blücher entreißt es 1813 als Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Schlesien Napoleons Armee, was eben an der Katzbach geschah, einem kleinen Nebenfluss der Oder. Es ist die Landschaft dieser legendären Schlacht, in der der junge Sigismund aufwächst. «Der geht ja ran wie Blücher» – diesen Ausspruch kennt er. Womöglich stellt sich der junge Sigismund vor, dass sich das Schicksal des Krieges im Jahr 1945 genau wie bereits 1813 an der Katzbach entscheiden könnte. Keine Gedanken verschwenden die von Zedlitz an die Vorstellung, dass sie alles, was sie in diesem kalten Kriegswinter in Schlesien zurücklassen, verlieren könnten: ihren Besitz und ihre Tradition. Erst im Sommer fünfundvierzig findet die Familie in Süddeutschland wieder zueinander. Die neue Lebenswelt wird von ihnen klar benannt, mit dem Wort Exil. Ihre Nachkriegsjahrzehnte in der Bundesrepublik sind geprägt von der Erinnerung an das, was einmal das Deutsche Reich war, und von der Sehnsucht nach Rückkehr. Sollte das Leben in der schlesischen Heimat für immer vorbei sein? Die ehemaligen Einwohner von Neukirch melden sich bei ihren ehemaligen Arbeitgebern. Auch sie wollen nach Hause. Dieses Lebensgefühl teilen sie mit vier Millionen vertriebenen Schlesiern in der Bundesrepublik und der DDR. Die Vorstellungen von der Art und Weise einer Heimkehr sind diffus. Manche formulieren daraus ein umstrittenes politisches Programm – «Schlesien bleibt unser!» In der Bundesrepublik hat man dazu eine zwiespältige Haltung. Jene, die aus Schlesien in der «neuen Heimat» ankommen, spüren bei den neuen Nachbarn Desinteresse an ihrem Schicksal. Die Vertriebenen und die Flüchtlinge sind die ersten Fremden im Nachkriegsdeutschland. Sie werden behandelt wie Einwanderer und sehen sich mit dem Vorurteil konfrontiert, eigentlich mehr Polen als Deutsche zu sein. Ihre Eingliederung fordert die Regierungen ähnlich heraus wie später die Integration der «Gastarbeiter» aus Europas Süden.
In der DDR wird die Trauer um die verlorene Heimat unterbunden. Wer dagegen verstößt, erlebt politische Repressalien. Die Vertriebenen erhalten einen irreführenden Namen, Umsiedler werden sie genannt. Als ob sie es sich ausgesucht und nun die Folgen eigenverantwortlich zu tragen hätten. An dieser offiziellen Haltung ändert sich bis zum Fall der Mauer nur wenig. Die Schlesier können froh sein, in ihren Dokumenten die deutschen statt der polnischen Namen ihrer Geburtsorte führen zu dürfen, Breslau statt Wrocław, Hirschberg statt Jelenia Góra oder Ratibor statt Racibórz. Aber das war eine jämmerliche politische Geste, sie rührte aus der offensichtlichen Unkenntnis der zuständigen DDR-Behörden, dass zwischen 1936 und 1941 auf Weisung Hitlers eine Welle der Germanisierung über die östliche Provinz gerollt war. Alle slawisch klingenden Orts- und Personennamen in Schlesien wurden der angeblich rein deutschen Kulturgeschichte des Landes angepasst. Aus der Ortschaft «Borutin» musste «Streitkirch» werden, selbst das kleine Dorf «Lanietz» wird in «Hirschgraben» verwandelt. Wer den Namen «Wilk» führt, muss ihn zu «Wolf» umschreiben lassen.
Aber lange dürfen die Ostdeutschen ihre verlorene Heimat nicht bereisen. Als ihnen in den 1960er Jahren die ersten Visa erteilt werden, müssen die Antragsteller peinlichst genau die polnischen Ortsbezeichnungen als Reiseziel eintragen. Hirschberg oder Breslau gibt es in der DDR nicht mehr. Mitgefühl erleben die Schlesier auch im Arbeiter-und-Bauern-Staat wenig. Auch hier haben ihre neuen Nachbarn kein Interesse, sich mit den Vertriebenen zu solidarisieren. So liegt über ihrem Schicksal tiefes Schweigen.
Seit Beginn der 1970er Jahre sucht Sigismund Freiherr von Zedlitz von Westberlin aus verzweifelt nach einer Chance, nach Neukirch zurückzukehren. Den dortigen Besitz der Familie, der nun auf polnischem Staatsgebiet liegt, will er bewahren und pflegen. Alle Regelungen der polnischen Regierung über das Eigentum der Deutschen in Polen tragen aus seiner Perspektive provisorischen Charakter. Die Vertreibung der Schlesier sieht er im Widerspruch zu geltendem internationalen Recht, denn noch existiert der im Potsdamer Abkommen angekündigte, abschließende Friedensvertrag nicht. Der Freiherr beschließt, künftig regelmäßig als Tourist durch die DDR nach Polen zu reisen. Er fühlt sich für die Fortführung von siebenhundert Jahren Geschichte seiner Familie verantwortlich und überwindet dazu, gegen den Rat von Freunden und Verwandten, unermüdlich zwei Eiserne Vorhänge. Die deutsch-deutsche Grenze aus Stacheldraht und Beton vergleicht er mit einem Festungswall. An der Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen fehlt zwar der Stacheldraht, aber auch hier herrscht ein eisiges, abweisendes Klima. Als ob schon die Grenze jedes Bedürfnis ersticken soll, sie zu überschreiten. Sigismund von Zedlitz ist klar, dass die in der Propaganda beschworene brüderliche Freundschaft zwischen den Regierungen in Warschau und Ostberlin nur die Fassade einer Politik der Abschottung ist. Die Bürger der DDR sind für die Funktionäre der polnischen Volksrepublik nur offiziell Freunde. Die Regierung in Ostberlin unternimmt wenig, um daran etwas zu ändern. An einer wirklichen Annäherung an Polen ist den Strategen der SED nicht gelegen.
Wer aus der Bundesrepublik durch die DDR nach Polen einreist, ist den Regierungen in Ostberlin wie in Warschau gleichermaßen suspekt. An den Kontrollpunkten ist der Freiherr bald als «Revanchist» bekannt, als einer, der das Rad der Geschichte zurückdrehen möchte. Warum wäre er sonst so aktiv in der Bundesgruppe der aus Liegnitz Vertriebenen? Warum veröffentlicht er regelmäßig in den «Heimatblättern» der Vertriebenen? Warum verwendet er Formulierungen wie das «polnisch gewordene Stammland» für die Beschreibung der hinter der Oder-Neiße-Grenze vorgefundenen Realität? Der Adlige wird ein Fall für die Geheimdienste.
Dem Freiherrn schlägt auf seinen Reisen aber nicht nur Misstrauen entgegen. Manche der polnischen Bürger von Neukirch haben Verständnis für sein Anliegen. Auch sie haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Besitz und ihre Heimat verloren, wurden vertrieben. Sie leiden unter der durch die Sowjetunion erzwungenen Westverschiebung Polens und sind durchaus bereit, in Sigismund von Zedlitz den rechtmäßigen Erben seines Familienbesitzes zu sehen. Doch bietet sich diesem bei keiner seiner Reisen eine wirkliche Chance, den Lebensfaden seiner Vorfahren wieder aufzugreifen. Da fällt 1989 die Mauer. In Polen ist das Ende der Volksrepublik gekommen, alle Verhältnisse wandeln sich. Dürfen die vertriebenen Deutschen nun zurückkehren? Ist das für sie, fast fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges, überhaupt noch eine Option?
Den Zusammenbruch des Ostblocks nimmt man im tiefen deutschen Westen, kurz vor der französischen Grenze, unaufgeregter hin als hinter der Elbe. Man lebt und fühlt linksrheinisch. Mit diesem Selbstverständnis fährt der in Breslau geborene Arzt Hagen Hartmann jeden Morgen zur Arbeit. Anders als den Freiherrn Zedlitz interessiert ihn die ehemalige preußische Provinz nicht mehr. Er teilt nicht den Schmerz seines Vaters, der in der Hauptstadt Schlesiens einst als anerkannter Jurist lebte. Er hat zu wenige Erinnerungen an das damalige Leben und die Gemeinschaft in der Familie. Hagen Hartmann hört seinen Vater zwar klagen, er vernimmt aber auch immer wieder das Wort...