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E-Book

Das Recht als Hort der Anarchie

Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat

AutorHermann Amborn
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl285 Seiten
ISBN9783957573100
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Dass sich gesellschaftliches Zusammenleben auch anders als in Form hierarchisch aufgebauter Staaten organisieren ließe, ist für viele Mitglieder westlicher Gesellschaften kaum vorstellbar. Doch auch abgesehen von den Träumereien romantischer Utopisten gibt es heute funktionierende Gesellschaften jenseits staatlicher Einflüsse, die auf Rechtsverfahren und Problemlösungsmechanismen ohne Herrschaft basieren. Anhand empirischer Untersuchungen in nicht-hierarchischen Gesellschaften am Horn von Afrika stellt diese Studie staatliche und herrschaftsfreie Gemeinschaftsordnungen einander gegenüber und analysiert die institutionellen Elemente eines anarchischen Miteinanders, die durch Konsensfindung und ethisch basierten Integrationsmechanismen zur Stabilisierung dieser Gesellschaftsform beitragen, was auch für die westliche Welt Anregungen bietet.

Hermann Amborn, geboren 1933 in Braubach, machte zunächst eine Ausbildung als technischer Zeichner und Ingenieur. Über Umwege und nach einer längeren Reise kam er zur Ethnologie und war Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Erkenntnistheorie, Diskursive Handlungsforschung, Agrarethnologie, Anthropologie der Arbeit, orale Tradition (und Geschichte) und Raum-Zeitkonzepte.

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Leseprobe

I. Herrschaft ist keine Universalie


I.1 Problemstellung und Zielsetzung


»Einmal war bei einer Prügelei zwischen zwei Brüdern der eine der beiden ums Leben gekommen. Der Überlegene wurde beim Klanoberhaupt des Mordes beschuldigt, woraufhin dieser seine Hinrichtung anordnete. Der Beschuldigte erfuhr von diesem Urteil in seinem Versteck. Er rief seine Freunde zusammen und schilderte ihnen den Tathergang: wie ihn sein Bruder zunächst betrogen und dann auch noch verprügelt habe. Während des Handgemenges sei der Bruder dann an seinen Verletzungen gestorben. Daraufhin beschlossen die Zuhörer, ein Gremium zu bilden, das sich jetzt und in Zukunft mit solchen Vorwürfen befassen sollte. Nach Prüfung des Tatbestandes sollte es in gemeinsamer Beratung eine Lösung finden. Sie setzten fest, dass von nun an der Klanälteste nicht mehr allein entscheiden könne, vielmehr solle er fortan sogar von den Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Erst nach der Urteilsfindung würde er informiert und müsse dann das Urteil sanktionieren. Das war vor langer, langer Zeit und ist unsere Tradition.«

Diese Geschichte, die sich einst südlich des Čamo-Sees (in Europa lange unter dem Namen Lake Ruspoli bekannt) in Gollango in Südäthiopien zugetragen haben soll, wurde mir während eines Forschungsaufenthaltes im Horn von Afrika erzählt. Ich unterhielt mich mit meinen Gesprächspartnern über unsere jeweiligen Vorstellungen von Recht und Unrecht und davon, wer zwischen beiden zu entscheiden habe. In nur wenigen Worten wird hier ein fundamentaler gesellschaftlicher Prozess geschildert: die Übertragung der Rechtshoheit von einer Zentralinstanz auf eine Vielzahl von Verantwortungsträgern. Dabei wird der im römischen Recht geltende Grundsatz für eine faire Verhandlung – audiatur et altera pars (von dem in Südäthiopien niemand Kenntnis haben konnte) – noch dahingehend erweitert, dass nicht nur alle Seiten gehört werden, sondern auch die Gemeinschaft der Anwesenden in den Entscheidungsprozess einbezogen sein soll. Die Erzählung enthält als Konzentrat all jene Konstellationen, denen sich die folgende Untersuchung annähern will: Macht und Gegenmacht, Herrschaft versus Herrschaftsvermeidung sowie Kommunikation und Rechtsvorstellungen. Schauplätze der untersuchten Prozesse sind Gemeinschaften, in denen Gegenseitigkeit als gesellschaftliches Prinzip dominiert. Dank ineinandergreifender sozialer Netzwerke und Institutionen bedürfen sie keiner Zentralgewalt. Sie bilden den Gegenpol zu Gesellschaften mit straffen hierarchischen Strukturen. Die Menschen, die diese Form des Zusammenlebens für sich geschaffen haben, sind aktiv handelnde Zeitgenossen.

Diese Form der Gemeinschaft, die sich in allen Erdteilen antreffen lässt, ist keine historische Vorstufe des Königtums oder des frühen Staates. Es ist ein Kontrastmodell zum Staat, das heute jedoch nur noch innerhalb von Staatsgrenzen anzufinden ist und sich deshalb mit staatlichen Organisationsstrukturen auseinandersetzen und bisweilen arrangieren muss. Manchmal sind diese Gemeinschaften kleine soziale Einheiten, nicht selten umfassen sie jedoch mehrere Millionen Menschen. Oft totgesagt oder als soziales Auslaufmodell abgetan, existieren sie gleichwohl auch heute noch, allerdings sind sie von innen und außen gefährdet.

Mit meiner Untersuchung möchte ich gesellschaftliche Ausdrucksformen, Emanationen, Ideen, Handlungen und Institutionen aufzeigen, die sich gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen richten oder diese zumindest problematisieren. Auf der Suche nach Gründen für die Stabilität und Stärke dieses herrschaftsfreien Zusammenlebens gilt mein besonderes Interesse der Frage, inwieweit die dort jeweils geltenden Wert- und Rechtsvorstellungen den Fortbestand so beschaffener Gesellschaften stützen, indem sie z. B. Tendenzen zur Machtakkumulation entgegenwirken.

Meine Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei kurzen grundlegenden Betrachtungen zu den verschiedenen menschlichen Gesellungsformen. Im Verlauf ihrer Geschichte haben die Menschen vielfältige Arten des Zusammenlebens entwickelt; der Staat ist nur eine der Möglichkeiten des sozialen Miteinanders. Den Staatsgebilden stelle ich herrschaftsfreie Gesellschaften gegenüber, wie sie gegenwärtig in vielen Teilen der Welt existieren, insbesondere gehe ich in diesem Zusammenhang auf nichthierarchische Gesellschaften im Osthorn Afrikas ein.

Seitdem britische Ethnologen in den Vierzigerjahren »geregelte anarchische« afrikanische Gesellschaften bekannt machten, wurde immer wieder versucht, die sozialen und politischen Leistungen dieser Gemeinschaften herabzusetzen. Das sei hier nur erwähnt, doch werde ich auf diese interne ethnologische Diskussion nicht eingehen. Allerdings mutet die sture Skepsis gegenüber der Herrschaftsfreiheit umso merkwürdiger an, als auch in westlichen Gesellschaften regelmäßig Kritik an hierarchischen Strukturen aufkommt und diesen bisweilen eine grundlegende Krise attestiert wird. Dies betrifft politische Strukturen (z. B. in Form von Protestbewegungen) wie auch das gesamtgesellschaftliche Miteinander (z. B. die geforderten »schlanken Hierarchien« und das 2012 in Kraft getretene Mediationsgesetz), weshalb hier auch Tendenzen zur Egalität beleuchtet werden sollen, die sich gegenwärtig in Industrienationen abzeichnen und die Relevanz der Problematik unterstreichen.

In einem nächsten Schritt untersuche ich, welcher Art jene Gemeinschaften sind, für die das Recht keine Erzwingungsgewalt hat und in denen keine Instanz ein Gewaltmonopol besitzt, wo jedoch von ihnen selbst entwickelte Regelwerke Anerkennung finden. Nur auf der Grundlage einer detaillierten Darstellung dieser Gesellschaften werden die komplexen historischen und soziopolitischen Beziehungen sichtbar, mit denen dieses speziell ausgeformte Recht in herrschaftsfreien Gesellschaften verknüpft ist. Da die Wirkmöglichkeit des Rechts auch hier bestimmten Machtverhältnissen unterliegt – die jedoch weder Herrschafts- noch Gewaltverhältnisse sind –, scheint es aussichtsreich, zur begrifflichen Klärung auf Untersuchungen von westlichen Wissenschaftlern und Philosophen zu diesem Thema zurückzugreifen. Sie können dazu zahlreiche Anregungen bieten, wenn sie sich auch nicht direkt übertragen lassen.

Machtbeziehungen sind für meine Betrachtungen in zwei Feldern von Bedeutung, zum einen allgemeiner als stützende oder störende Elemente innerhalb herrschaftsfreier Gesellschaften und zum anderen im Speziellen in Bezug auf die Rechtsordnung. Nach Betrachtungen der Rechtsauffassung als einem konstitutiven Bestandteil der umfassenden Lebenswirklichkeit behandle ich verschiedene konkrete Rechtsfälle und untersuche ausführlich, wie durch gemeinsames kommunikatives Handeln konsensuale Lösungen erreicht und Beschlüsse ohne Gewaltanwendung akzeptiert werden.

Mit meiner Analyse möchte ich klären, inwieweit sich herrschaftsfreie Gesinnung, das Streben nach autonomen Formen von Gesellung und die Ablehnung zentraler Autorität im Recht niederschlagen. Doch v. a. geht es mir darum zu verstehen, weshalb anarchische Gesellungsformen trotz massiver und mannigfaltiger äußerer Beeinflussung und Bedrohung existieren können. Wie sich am Osthorn von Afrika beobachten lässt, trägt die eigene Rechtshoheit, und mag sie auch nur in begrenzten Bereichen wirksam sein, entgegen der destruktiven Einflüsse von außen erstaunlicherweise zur Stabilität dieser Gesellungsformen bei, obwohl oder gerade weil das in der Gemeinschaft entwickelte und ausgeübte Recht eine Gegenmacht zur Herrschaftsgewalt darstellt.

I.2 Gesellung. Staat versus regulierte Anarchie


Der Mensch ist ein soziales Wesen, wobei Menschen nicht aus Tugend oder aufgrund von Interessen in der Gesellschaft leben, sondern weil es für sie keine andere mögliche Daseinsform gibt. Nur innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft vermag der Mensch seine Persönlichkeit zu entwickeln, dem kann selbst ein Robinson Crusoe nicht entgehen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass zwischen Ego und Gemeinschaftsbezogenheit ein Spannungsverhältnis besteht. Kooperation, Hilfeleistung und Anpassung sowie Egoismus, Dominanzstreben und Expansion stehen sich als Pole gesellschaftlicher Beziehungen gegenüber, und es gehört zu den Kulturleistungen des Menschen, im Lauf der Geschichte im Austesten der zwischen diesen Extremen liegenden Möglichkeiten unterschiedliche soziale Beziehungen und Ordnungen konstituiert und strukturiert zu haben.

Aus westlicher Sicht erfolgreich erwies sich eine mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung verbundene Hierarchisierung der Gesellschaft, deren Evolutionskette von der Neolithischen Revolution über Häuptlings- und Königtum zur Despotie und schließlich zum modernen Staatswesen führt. Westliche Denker konnten sich die Zeit vor dem Staat nur als Chaos vorstellen. Ganz in diesem Sinn sowie unter dem Eindruck des Englischen Bürgerkriegs zeichnete Thomas Hobbes, einer der Begründer der...

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