Wach bleiben und einschlafen nach Plan
Wer wünschte sich nicht, ein Mittel in Händen zu halten, das uns beliebig schlafen und wachen lässt? Wer sehnte sich nicht nach unbegrenzter Leistungsfähigkeit, nach der Kraft, tagelang rund um die Uhr arbeiten zu können oder auf den schönsten Partys immer bis zum Schluss zu bleiben – ohne pausenloses Gähnen, ohne bleiernes Müdigkeitsgefühl in den Beinen? Und umgekehrt: Wer träumte nicht davon, im richtigen Augenblick – egal, an welchem Ort – auf der Stelle einschlafen zu können, sei es, um irgendeinen quälenden Gedanken zu vergessen, einer ganz besonders entsetzlichen Langeweile durch gezieltes Ausschalten des Wachbewusstseins zu entfliehen – oder schlicht den schönen, erholsamen Zustand Schlaf in vollen Zügen und ohne Gewissensbisse genießen zu können?
Es ist ein uralter Menschheitstraum, endlich Herrscher über Schlaf und Wachheit zu werden. Für diesen Traum experimentieren wir seit Menschengedenken mit den verschiedensten Substanzen. Und wir verdanken ihm so fürchterliche Dinge wie Coca-Cola, die erfunden wurde, um Menschen länger wach zu halten, oder «Schlummer-CDs», die seltsam schwebende, unhörbare Töne erzeugen und unser Gehirn angeblich in den Deltawellenschlaf wiegen. Kräuterkundler und Pharmaindustrie entdecken und entwickeln immer neue, mehr oder weniger gute Rezepte zum Einschlafen oder Aufputschen. Weltweit gesehen, sind Schlafmittel und Wachmacher nach Schmerzdämpfern die populärste Medikamentengruppe überhaupt. Perfekt und völlig nebenwirkungsfrei ist keines.
Noch gleicht die Suche nach dem idealen Wachhalter oder dem perfekten Schlafmittel einem frustrierenden Stochern im Ungewissen mit äußerst mäßigen Resultaten. Kein Wunder, dass der Traum vom gezielten Wachbleiben und Einschlafen auch eine der kraftvollsten Antriebsfedern der Schlafforschung ist. Am Anfang der Rätselsuche steht dabei die Frage, wie unser Gehirn das Schlafen und das Wachen überhaupt steuert. Die Wissenschaftler fahnden deshalb schon ewig nach einem alles überwachenden und regelnden Schlafzentrum, das irgendwo im Denkorgan sitzen soll und wie eine Relaisstation die verschiedensten Signale des Körpers integriert, um im richtigen Moment einen Schlafschalter umzulegen.
Hätte man dieses Zentrum erst entdeckt, wüsste man sicher binnen kürzester Zeit, welche biologischen Moleküle es erregen oder hemmen, welche Nervenbahnen es mit anderen Hirnzentren verbinden und welche Botenstoffe es aussendet, um den Körper schläfrig oder wach zu machen. Dann wäre es vermutlich kein großes Problem, sein Wirken gezielt zu beeinflussen. Es gäbe unzählige Angriffspunkte – im Pharmakologen-Neudeutsch «Targets» genannt –, an denen eine neue Generation perfekter Schlaf- und Aufputschmittel ansetzen könnte. Wir wären nicht mehr Opfer unseres unberechenbaren Schlafbedürfnisses, sondern könnten jederzeit frei wählen zwischen den beiden möglichen Bewusstseinszuständen.
So weit die Theorie. Heute, etwa 90 Jahre nach den ersten Hinweisen auf eine Schlafzentrale im Gehirn, sind die Experten ernüchtert: «Ein einzelnes Schlafzentrum, das man einfach aus dem Gehirn herausschneiden kann, gibt es nicht», sagt der Berliner Schlafmediziner Dieter Kunz, «alle bisherigen Resultate deuten auf ein Netzwerk vieler beteiligter Hirnareale hin.» Wie die Forscher dieses Netzwerk Stück für Stück entdeckten, ist ein ganz besonderes Kapitel der Hirnforschung. Es liefert spannende Geschichten mit kuriosen Geisteskrankheiten und akribisch experimentierenden Forschern in den Hauptrollen.
Die Suche nach dem Schlafzentrum
Im Jahr 1990 begeistern die Schauspieler Robert De Niro und Robin Williams in dem Hollywoodfilm «Zeit des Erwachens» ein Millionenpublikum. Williams spielt den Psychiater Oliver Sacks, der die zugrunde liegende Geschichte in den späten 1960er Jahren wirklich erlebte und in seinem faszinierenden Buch «Awakenings» beschrieb: Der Psychiater betreut im New Yorker Mount-Carmel-Krankenhaus eine seltsame Gruppe von 80 gealterten Patienten, die allesamt seit mehr als vier Jahrzehnten an einer eigenartigen Krankheit leiden und zum größten Teil seit vielen Jahren in einem Zustand vor sich hin dämmern, der an Autismus oder die Parkinson’sche Krankheit erinnert.
Die Patienten sind zumindest zeitweilig gefangen in einem unbrauchbaren Körper und beherrscht von einem fremden Geist. Sie erleben Anfälle, während deren sie mit verstellten Stimmen sprechen, eigenartige Schmerzen empfinden, schwere Depressionen erleiden oder für lange Zeit regelrecht «einfrieren». Manche folgen zwanghaften Verhaltensmustern. Ein Mann spinnt sich in eine seltsame, genial witzige und von ihm selbst als «Gedankenstörung» bezeichnete irreale Welt. Ein anderer fasst sich pausenlos, in unglaublichem Tempo und immer in der gleichen Reihenfolge an Ohren, Nase und Brille. Eine Frau zählt den Buchstaben E in Klappentexten und liest ganze Sätze rückwärts. Die Patienten können teilweise nicht mehr sprechen und haben insgesamt große Probleme, mit ihrer Umwelt Kontakt aufzunehmen. Fast alle haben ein weit überdurchschnittliches Schlafbedürfnis. Manche schlafen eigentlich die ganze Zeit.
Williams, alias Sacks, holt die Patienten durch die Gabe des gerade neu entwickelten Medikaments Levadopa in die wahre Welt zurück. Sie können sich kaum an die zurückliegenden Jahrzehnte erinnern, dafür aber noch gut an die Zeit vor dem Ausbruch ihrer Krankheit. Ein Patient zeichnet plötzlich Autos wie vor 40 Jahren, als sei die Zeit für ihn einfach stehen geblieben. Alle erleben eine kurze, herrliche Periode eines funktionierenden, wachen Bewusstseins. «Ich kann nicht ohne große innere Bewegung an diese Zeit zurückdenken – sie war die bedeutsamste und aufwühlendste in meinem und im Leben der Patienten. Wir alle in Mount Carmel waren überwältigt von Emotionen, Erregung, Verzückung, ja fast von Ehrfurcht», schreibt Sacks.
Doch leider wirkt das Medikament, eine Vorstufe des Botenstoffes Dopamin, das eigentlich zur Behandlung der Parkinson’-schen Krankheit dient, nur kurz, und seine Nebenwirkungen werden immer unberechenbarer. Schließlich muss der Psychiater das Mittel absetzen. Die «Zeit des Erwachens» für das bedauernswerte Häuflein Kranker geht viel zu schnell vorbei.
Sacks’ Patienten waren einige der letzten noch lebenden Opfer einer rätselhaften Epidemie, die im Winter 1916/17 plötzlich in Europa ausbrach, sich schließlich über die ganze Welt ausbreitete und in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gut fünf Millionen Menschenleben kostete, bevor sie 1927 schlagartig verschwand. Betroffene wurden rasch apathisch, hatten hohes Fieber, Sehstörungen und Halluzinationen. Schließlich entwickelten sie ein chronisches Krankheitsbild, das so verschieden sein konnte, dass die Ärzte sich mit der Diagnose schwertaten: Sie sprachen von Delirium, Kinderlähmung, Schizophrenie, Multipler Sklerose, Morbus Parkinson, atypischer Tollwut – alle diese Leiden sollte es nun in einer neuen, ansteckenden Variante geben.
Der Wiener Nervenarzt Baron Constantin von Economo mochte an ein gleichzeitiges Auftreten so vieler neuer Erreger nicht glauben. Er verfasste als Erster eine zusammenfassende Krankheitsbeschreibung und entdeckte dabei das entscheidende Bindeglied zwischen allen Infizierten: Sie litten an gravierenden Schlafstörungen. Fast alle schliefen viel zu viel. Etwa ein Drittel der Patienten wachte wochen-, monate-, in Ausnahmefällen sogar jahrelang nur noch kurz zum Essen und Trinken auf. Viele starben, ohne zuvor je wieder wach geworden zu sein. Ein kleiner Teil der Kranken konnte dagegen fast gar nicht schlafen. Diese Menschen waren extrem müde, nickten aber immer nur für kurze Zeit ein, wachten rasch wieder auf und dämmerten den Rest des Tages nicht mehr weg.
Von Economo gab der Krankheit den Namen Encephalitis lethargica, was so viel bedeutet wie schläfrig machende Gehirnentzündung. Sie heißt auch Economo-Krankheit oder Europäische Schlafkrankheit. Der Krankheitserreger, vermutlich ein Virus, wurde nie entdeckt. Was von Economo aber entdeckte, ist für die Schlafforschung bis heute interessant. Der Mediziner untersuchte die Gehirne verstorbener Schlafkranker und stieß auf eine verbindende anatomische Besonderheit: In einem bestimmten Teil des Zwischenhirns waren haufenweise Nervenzellen abgestorben.
Dieser Hirnteil heißt Hypothalamus, weil er unter dem so genannten Thalamus liegt. Wir könnten ihn tasten, würden wir unseren Zeigefinger auf Höhe der Nasenwurzel mitten in den Kopf stecken. Er ist eines der wichtigsten Steuerzentren des unbewussten, vegetativen Nervensystems und regelt zum Beispiel Körpertemperatur, Blutdruck, Appetit, Sexualtrieb und Durst. Das alles wusste von Economo natürlich nicht. Er vermutete dennoch, hier müsse ein Zentrum für die Steuerung des Schlafes liegen, was heute, mit Blick auf die anderen Funktionen dieser Hirnregion, nahe liegend erscheint.
Und von Economo ging noch weiter: Er fand, dass bei jenen Schlafkranken, die Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen hatten, nur Zellen im vorderen Hypothalamus betroffen waren. Diese Zellen müssten irgendetwas tun, was uns einschlafen lässt, folgerte er und war damit einer der ersten Forscher überhaupt, die den Schlaf als aktiven, vom Gehirn gesteuerten Prozess begriffen. Die große Mehrheit der Patienten, die zu...