Mutterliebe bis zum Umfallen
Es war ein heißer Sommertag im Jahr 1996. Zur Abkühlung hatten meine Frau und ich im Garten ein Planschbecken unter einem schattigen Baum aufgestellt. Dort saß ich im Wasser mit meinen beiden Kindern, und wir aßen genüsslich saftige Schiffchen einer Wassermelone. Plötzlich nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Ein rostbraunes Etwas hoppelte auf uns zu, verharrte dabei zwischendurch immer wieder für kurze Momente. »Ein Eichhörnchen!«, riefen die Kinder begeistert. Meine Freude wich allerdings schnell einer tiefen Besorgnis, denn das Eichhörnchen kippte nach wenigen Schritten auf die Seite. Es war offensichtlich krank, und nach weiteren Schritten (in unsere Richtung!) erkannte ich eine dicke Geschwulst am Hals. Es handelte sich also allem Anschein nach um ein leidendes, vielleicht sogar hoch infektiöses Tier. Und es hielt langsam, aber sicher auf das Planschbecken zu. Ich war schon im Begriff, mit den Kindern den Rückzug anzutreten, da löste sich die Situation in eine rührende Szene auf: Das Geschwür entpuppte sich als Baby, das sich wie ein Pelzkragen um den Hals der Mutter klammerte. Diese bekam deshalb kaum Luft, und in Verbindung mit der flirrenden Hitze reichte die Puste immer nur für wenige Schritte, bevor das Eichhörnchen erschöpft auf die Seite fiel und nach Atem rang.
Eichhörnchenmütter kümmern sich aufopferungsvoll um ihren Nachwuchs. Bei Gefahr schleppen sie die Jungen in der beschriebenen Art und Weise in Sicherheit. Dabei verausgaben sich die Tiere ordentlich, denn es können je nach Wurf bis zu sechs Knirpse sein, die sich um den Hals geklammert nacheinander transportieren lassen. Trotz dieser Fürsorge ist die Überlebensrate der Kleinen nicht hoch, rund achtzig Prozent erleben ihren ersten Geburtstag nicht. Da wären etwa die Nächte: Während die roten Kobolde tagsüber den meisten Feinden entwischen können, kommt der Tod im Schlaf. Dann schleichen Baummarder durch die Äste der Bäume und überraschen die träumenden Tiere. Bei Sonnenschein sind es Habichte, die in tollkühnem Flug zwischen den Stämmen hindurchsausen und nach einer leckeren Mahlzeit Ausschau halten. Wird ein Eichhörnchen erspäht, so beginnt eine Spirale der Angst. Und das ist wörtlich gemeint. Denn das Eichhörnchen versucht, dem Vogel zu entkommen, indem es auf die andere Seite des Baumstamms verschwindet. Der Habicht fliegt eine enge Kurve und folgt seiner Beute. Das Eichhörnchen weicht in Windeseile weiter um den Stamm herum aus, der Vogel folgt, sodass eine rasend schnelle Spiralbewegung beider Tiere um den Stamm herum entsteht. Der Flinkere von beiden gewinnt, und meist ist dies der kleine Säuger.
Viel schlimmer als jeder tierische Feind ist jedoch der Winter. Um gut gerüstet in die kalte Jahreszeit zu gehen, bauen Eichhörnchen Kobel. Das sind kugelförmige Nester, die im Geäst von Baumkronen angelegt werden. Um vor unangenehmen Überraschungsgästen flüchten zu können, formen die Tiere mit ihren Pfoten zwei Ausgänge. Die Grundkonstruktion des Kobels besteht aus vielen kleinen Zweigen, innen wird die Wohnung mit weichem Moos ausgepolstert. Das dient der Wärmeisolierung und ist bequem. Bequem? Ja, auch Tiere legen Wert auf Komfort. Zweige, die beim Schlafen in den Rücken drücken, empfinden Eichhörnchen als genauso unangenehm wie wir. Eine weiche Moosmatratze garantiert dagegen einen wohligen Schlaf.
Aus meinem Bürofenster beobachte ich regelmäßig, wie das flauschige Grünzeug aus unserem Rasen gepult und hoch in die Bäume transportiert wird. Und noch etwas anderes kann ich beobachten: Sobald im Herbst die Eicheln und Bucheckern von den Bäumen fallen, sammeln die Tierchen die nahrhaften Samen und vergraben sie einige Meter weiter im Boden. Dort sollen sie im Winter als Reserve dienen. Eichhörnchen machen nämlich keinen richtigen Winterschlaf, sondern verbringen die Tage meist dösend in einer Winterruhe. Der Körper verbraucht dabei weniger Energie, wird aber nicht ganz heruntergedrosselt wie etwa beim Igel. Immer wieder wacht das Hörnchen auf und bekommt Hunger. Dann turnt es flott den Baum hinunter und sucht eines seiner zahlreichen Nahrungsverstecke. Und sucht und sucht und sucht. Im ersten Augenblick sieht es drollig aus, wenn man dabei zusieht, wie sich das Tierchen zu erinnern versucht. Da wird hier ein bisschen gebuddelt, dort ein wenig gegraben, und sich zwischendurch immer mal wieder aufgesetzt, wie um eine Denkpause einzulegen. Es ist aber auch zu schwer: Die Landschaft hat sich ja seit den Herbsttagen optisch ziemlich verändert. Bäume und Büsche haben ihr Laub verloren, das Gras ist verdorrt, und zu allem Überfluss hat der Schnee oft alles in tarnende weiße Watte gepackt. Und während das verzweifelte Eichhörnchen weitersucht, bekomme ich Mitleid. Denn nun siebt die Natur gnadenlos aus, und ein Großteil der vergesslichen Hörnchen, meist der diesjährige Nachwuchs, erlebt das nächste Frühjahr nicht, weil er verhungert. Dann finde ich manchmal in den alten Buchenreservaten kleine Büschel von austreibenden Buchen. Diese Buchenkinder sehen aus wie Schmetterlinge auf kleinen Stielen und sind normalerweise nur einzeln zu finden. Als Büschel treten sie nur da auf, wo das Eichhörnchen sie nicht mehr abgeholt hat – oft genug aus Vergesslichkeit mit den beschriebenen fatalen Folgen für das Tier.
Das Eichhörnchen ist für mich aber auch ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie wir die Tierwelt kategorisieren. Es ist mit seinen dunklen Knopfaugen sehr niedlich, hat ein weiches, ansprechend rötlich gefärbtes Fell (es gibt auch braun-schwarze Varianten) und ist für uns Menschen nicht bedrohlich. Aus den vergessenen Eicheldepots sprießen im Frühjahr junge Bäume, sodass es sogar als Begründer neuer Wälder gelten darf. Kurz, das Eichhörnchen ist ein echter Sympathieträger. Seine Lieblingsspeise blenden wir dabei gerne aus: Vogelkinder. Denn auch solche Beutezüge kann ich aus dem Bürofenster des Forsthauses beobachten. Wenn im Frühjahr ein Eichhörnchen stammaufwärts klettert, dann herrscht große Aufregung unter der kleinen Kolonie von Wacholderdrosseln, die in den alten Kiefern an der Einfahrt brütet. Sie schnattern und ratschen im Flatterflug rund um die Bäume und versuchen, den Eindringling zu vertreiben. Eichhörnchen sind ihre Todfeinde, denn sie greifen sich ungerührt einen flaumbedeckten Jungvogel nach dem andern. Selbst Nisthöhlen bieten den Kleinen nur begrenzt Schutz, denn mit ihren schlanken Pfoten, besetzt mit langen, scharfen Krallen, angeln die Eichhörnchen sich die vermeintlich gut geschützten Nestlinge auch aus hohlen Bäumen.
Sind Eichhörnchen nun doch eher böse als gut? Weder noch. Eine Laune der Natur hat dazu geführt, dass sie unseren Beschützerinstinkt ansprechen und damit positive Emotionen auslösen. Das hat mit gut oder nützlich nichts zu tun. Die andere Seite der Medaille, die Tötung der von uns ebenfalls geliebten Singvögel, ist aber auch nicht böse. Die Tiere haben Hunger und müssen ebenfalls Junge versorgen, die auf nahrhafte Muttermilch angewiesen sind. Würden Eichhörnchen ihren Proteinbedarf an Kohlweißlingsraupen stillen, so wären wir begeistert. Dann würde unsere emotionale Bilanz zu hundert Prozent positiv ausfallen, denn die Lästlinge stören uns in unseren Gemüsekulturen. Doch Kohlweißlingsraupen sind ebenfalls Jungtiere, in diesem Fall von Schmetterlingen. Und nur weil diese wiederum zufällig die gleichen Pflanzen lieben, die wir für unsere Ernährung vorgesehen haben, ist die Tötung von Schmetterlingsbabys noch lange keine Wohltat für die Natur.
Eichhörnchen interessiert unsere Kategorisierung nicht im Geringsten. Sie haben genug damit zu tun, sich und ihre Art in der Natur zu erhalten und dabei vor allem eins zu haben: Spaß am Leben. Doch zurück zur Mutterliebe des roten Kobolds: Kann er wirklich so etwas empfinden? Eine so starke Liebe, dass er sein eigenes Leben hinter das seines Nachwuchses zurückstellt? Ist es nicht nur ein Hormonschub, der durch seine Adern rauscht und zu vorprogrammierter Fürsorge führt? Die Wissenschaft neigt dazu, solche biologischen Abläufe zu zwangsläufigen Mechanismen zu degradieren. Und bevor wir das Eichhörnchen und andere Arten in eine solche doch etwas nüchterne Kiste packen, lassen Sie uns einen Blick auf menschliche Mutterliebe werfen. Was geht in den Körpern von Müttern vor, wenn sie einen Säugling in den Armen halten? Ist Mutterliebe angeboren? Die Antwort der Wissenschaft lautet: Jein. Angeboren ist diese Liebe nicht, sondern nur die Voraussetzungen, sie zu entwickeln. Kurz vor der Geburt wird ein Hormon, Oxytocin, ausgeschüttet, welches die starken Bindungen ermöglicht. Zusätzlich werden große Mengen an Endorphinen freigesetzt, die schmerzlindernd und angstlösend wirken. Dieser Hormoncocktail befindet sich auch nach der Geburt noch im Blut, und so wird das Baby von einer völlig gelösten, positiv gestimmten Mutter begrüßt. Das Stillen kurbelt die Produktion von Oxytocin weiter an, und die Mutter-Kind-Bindung kann sich verstärken. Ähnlich ergeht es vielen Tierarten, so auch den Ziegen, die meine Familie und ich bei unserem Forsthaus halten (und die übrigens auch Oxytocin produzieren). Bei ihnen beginnt das Kennenlernen der Lämmer mit dem Ablecken des Geburtsschleims. Diese Prozedur festigt die Bindung, zudem meckert die Mutter zärtlich und bekommt eine hohe, dünne Antwort von ihren Kindern zurück, sodass sich die Stimmen einprägen.
Doch wehe, wenn die Schleimprozedur nicht klappt! Zur Geburt kommen die jeweiligen Tiere unserer kleinen Herde in eine separate Box, um in Ruhe gebären zu können. Die Tür dieser Box hat einen kleinen Spalt über dem Boden, und durch diesen Spalt rutschte bei einer Geburt ein besonders kleines Lamm. Bis...