Einleitung:
Die Verbrauchskraft
Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieses Buch ist kein weiterer Beitrag zur sogenannten Konsumtionsgeschichte, die seit etwa 30 Jahren die Güterkonsumtion aus ökonomischer, statistischer, soziologischer, psychologischer, ästhetischer, semiotischer, gendertheoretischer, kulturwissenschaftlicher und noch manch anderer Sicht darstellt. So vielfältig und komplex die Konsumtionsgeschichte ihren Gegenstand behandelt – sie ignoriert die Tatsache, dass Konsumtion letztlich das physische Zusammentreffen des konsumierten Objekts mit dem konsumierenden Subjekt bedeutet, mehr und genauer noch der Verzehr des einen durch den anderen. Nichts anderes besagt ja das lateinische consumere. Es bezeichnet den Verzehr des Brennstoffs durch das Feuer und der Nahrung durch den biologischen Organismus. Dass die klassische politische Ökonomie die Konsumtion als Vernichtung definiert, zeigt, dass sie anders als die neuere Konsumtionsgeschichte noch eine lebendige Vorstellung vom tatsächlichen Geschehen hat.1 Angesichts der digitalen Entwirklichung allen tatsächlichen Geschehens erscheint die Frage der konsumierenden Vernichtung gleichermaßen antiquiert wie aktuell. Antiquiert, weil in der virtuellen Welt die wirklichen Dinge eine immer geringere Rolle spielen. Aktuell, weil damit auch der Begriff und die Erfahrung der Konsumtionsvernichtung eine fundamental andere Bedeutung erhalten.
Dabei ist die ökonomische Bedeutung von Vernichtung naturgemäß enger und flacher als die existentielle, religiöse, philosophische und mythologische, obwohl alle diese in ihr mitschwingen. Am nächsten kommt der tief im kollektiven Unbewussten wurzelnden Vorstellung des Verbrauchs als Vernichtung noch der ökonomische Begriff des Gutes. Das Gut (the good, le bien, il bene) enthält die reine – geistige – Essenz der Dinge, die im Normalzustand hoffnungslos mit der unreinen niederen Materie vermischt ist. Sie aus dieser Mischung zu befreien ist die Aufgabe aller Vernichtung, die deshalb stets nur Vernichtung des Unrein-Niederen, nie des Rein-Geistigen ist. Im Gegenteil, ihr Ziel ist die Erlösung des Rein-Geistigen von seiner Verstrickung ins Unrein-Materielle, wie in der alttestamentarischen Apokalypse und den zahlreichen Versionen der Weltvernichtung im Weltbrand. In den Mythen der Kulturbildung und im Märchen vom Prinzen, der in eine Kröte verwandelt wird, bedeutet die Tötung des Ungeheuers das Ende der niederen Materie und den Aufbau der höheren geistigen Kultur aus dem zerstückelten oder zerschmetterten Urkörper. Der viehzüchtende Nomade Abel wird vom agrikulturellen Kain getötet. Die vom Pflug aufgerissene Erde, das vom Mühlstein zermalmte Korn, die in der Presse zerquetschte Traube und Olive sind Kulturleistungen ersten Ranges. Für die Klassiker der frühkindlichen Psychoanalyse (Melanie Klein, Winnicott) sind die Akte infantiler Objektzerstörung nichts anderes als erste Schritte der Ichwerdung gegen die fremde, feindliche Umwelt. Miltons Satan und Goethes Mephisto sind Vernichtungskräfte, die das Gute hervorbringen, indem sie das Böse anstreben.
Auf nichts anderes zielt die Vernichtung in der Konsumtion. Das Reine, das sie aus der Vermischung mit dem Unreinen zu befreien sucht, ist der Nutzen des Gutes. Dass das Gut als materieller Träger des Nutzens dabei verlorengeht, erinnert an bestimmte militärische Operationen, bei denen die Rettung einer strategisch wichtigen Position deren Vernichtung bedeutet. Aber was ist und, vor allem, wie vollzieht sich eigentlich der Verbrauch von Dingen durch den Menschen?
Bei der Konsumtion von Nahrung ist der Fall klar. Nahrung wird einverleibt, verdaut, assimiliert, in ihrer ursprünglichen Form vernichtet und umgewandelt in die Körpersubstanz des Konsumenten. Wie aber soll man sich die Konsumtion der nicht essbaren Dinge vorstellen? Ein Tisch, ein Stuhl, ein Rock, ein Schuh wird nicht wie ein Butterbrot verzehrt, sondern benutzt und gebraucht. Der Gebrauch tut diesen Dingen augenscheinlich nicht dasselbe an wie der Verbrauch der Nahrung. Die komische Ausnahme ist der von Charlie Chaplin in Goldrausch zum Verzehr gekochte Schuh. Warum lässt die Ökonomie, die so entschieden vom Gebrauch spricht (etwa in der Gegenüberstellung von Gebrauchswert und Tauschwert), diesen ihr offenbar zentralen Terminus im Begriff des Verbrauchs verschwinden?
Der Augenschein täuscht. Nur im Moment des Gebrauchs erscheint das Objekt physisch unverändert. Über einen längeren Zeitraum hin zeigen sich an ihm Spuren des Gebrauchs und der Abnutzung. Vielbenutzte Treppenstufen werden ausgetreten, Kleidungsstücke (wie der Mantel in Gogols Erzählung) abgetragen. Die Lippen der Gläubigen tragen im Lauf der Jahrhunderte einen sichtbaren Teil der Ikonen ab. Wo bleibt in allen diesen Fällen die verschwundene Materie?
Findet nach den Gesetzen der Aktion, der Reaktion und der mechanischen Friktion ein mikroskopischer Transfer vom benutzten Objekt auf den Benutzer statt, vergleichbar dem Sand im Stundenglas, der von der oberen in die untere Hälfte fließt, oder dem Gummi des Autoreifens, der sich als Bremsspur auf die Straßendecke überträgt? Küsst der Gläubige den Fuß des Michelangelo-Moses im Petersdom nicht in derselben Erwartung, mit der er im Brot und im Wein des Abendmahls das Blut und das Fleisch Christi in sich aufnimmt?
Es bedurfte nicht der Psychoanalyse, um den Anfang des menschlichen Verhältnisses zur Außenwelt mit der oralen Phase gleichzusetzen. Und seit es die Ökonomie als System der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen gibt, also seit Aristoteles, wird die Nahrung als Basis alles Ökonomischen angenommen. Auf ihr baut sich alles Weitere auf: Bekleidung, Behausung, Luxus. Dass der Gebrauch aller, auch der nicht essbaren Dinge, ökonomisch als ihr Verbrauch bezeichnet wird, erklärt sich also damit, dass die Ökonomie mit der Nahrungsbeschaffung begann und sich von diesem Ursprung so wenig lösen kann wie der Erwachsene von seiner Kindheit. Bevor wir sehen, wie auch die politische Ökonomie im 18. Jahrhundert bei der Neuerfindung des Ökonomischen zu den Quellen des Nahrungskomplexes zurückkehrte, wollen wir noch einmal einen Blick auf die Vorstellung vom Verbrauch als einer Art Transfer des Verbrauchten auf den Verbraucher werfen.
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Jeder kennt das Gefühl, dass Gegenstände durch ihren täglichen Gebrauch vertraut werden, dass sie scheinbar etwas von der eigenen Person annehmen. Das ist ein aus der Literatur bekanntes Motiv. Von einer der Figuren in Balzacs Comédie humaine heißt es: »Und welche Kommentare über sein Leben und seine Sitten standen nicht für jeden, der die Kleidung eines Menschen zu entziffern versteht, in dem geschrieben, was er anhatte …«2
Knut Hamsun lässt in seinem Roman Hunger den Ich-Erzähler eine Art unio mystica mit seinen Schuhen erleben. In einem Moment Bergson’scher Unwillkürlichkeit versetzt ihr Anblick ihn in eine »phantastische, fremdartige Stimmung«. Ihm ist, »als hätte ich einen guten Freund getroffen und einen losgerissenen Teil meines Selbst wiederbekommen; ein Wiedererkennungsgefühl durchzittert meine Sinne, Tränen treten mir in die Augen, und mir ist, als seien meine Schuhe ein leise rauschender Ton, der mit entgegenschlägt. …Wie wenn ich meine Schuhe nie zuvor gesehen hätte, fange ich an, ihr Aussehen zu studieren; ihre Mimik, wenn ich den Fuß bewege; ihre Form, das abgenützte Oberleder, und dabei entdecke ich, dass ihre Falten und weißen Nähte ihnen Ausdruck verleihen, ihnen Physiognomie geben. Etwas von meinem eigenen Wesen war in diese Schuhe übergegangen, sie wirkten auf mich wie ein Hauch gegen mein eigenes Ich, ein atmender Teil von mir selbst.«3
Schließlich ein nichtliterarischer Text Flauberts. In einem Brief an Louise Colet beschreibt er, wie »allein der Anblick eines alten Paar Stiefels etwas zutiefst Trauriges und bitterlich Melancholisches« (melancolie amère) habe. »Wenn man an all die Schritte denkt, die man darin gemacht hat, um wer weiß wohin zu laufen, an all das Gras, durch das man gestreift ist. An all den Dreck, den man sich aufgesammelt hat … das geplatzte Leder, das da auseinanderklafft, sieht aus, als wolle es einem sagen: ›… und nun, du Esel, kauf dir neue, gelackt, glänzend, krachend, die werden auch wie ich, wie du eines Tages, wenn du viele Stiefelschäfte verfleckt und viele Oberleder durchgeschwitzt haben wirst.‹«4
Van Goghs Gemälde Schuhe hat seit Heideggers Kunstwerk-Aufsatz vielleicht deshalb immer wieder die existentialphilosophische Aufmerksamkeit auf sich gezogen5, weil es den merkwürdigen Übergangszustand von Gebrauch in Verbrauch darstellt. Die unausgesprochene Botschaft lautet: Der Preis für den Gebrauch der Dinge ist ihr Verzehr. Da es sich offenkundig nicht um einen Verzehr im Sinne einer Einverleibung handelt, spricht der Volksmund instinktsicher vom Zahn der Zeit, der an den Dingen nagt – ohne sie zu verschlingen.
Georg Simmels Denkbild der Ruine weist in ebendiese Richtung. Seine Ruine ist nicht das durch künstliche menschliche Einwirkung (Bomben, Dynamit), sondern durch natürlichen Verfall (Witterung, Zahn der Zeit) teilzerstörte Bauwerk. Der natürliche Verfall menschengemachter Dinge ist nichts anderes als die von der Natur praktizierte Form des Verbrauchs. Für Simmel besteht die Faszination der Ruine darin, dass die vom Menschen vorübergehend in die Form eines künstlichen Produkts gezwungene Natur sich hier erneut und mit Macht regt. »Der Verfall (ist) die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde angetan hat.«6
Van Goghs...