2. Kapitel
Die Wahrheit des Ehesakraments: Barmherzigkeit und Treue begegnen sich
Die Stichworte Barmherzigkeit und Treue,1 die die Thematik unseres Buchs erhellen, finden sich in der Weisheitsliteratur als Wesensbestimmungen Gottes wieder. Beide Begriffe beziehen sich auf den Bund, der auch die Grundlage für ihre einzigartig starke Einheit bildet.2 Barmherzigkeit und Treue lassen sich nicht von der Idee eines Schöpfergottes ableiten. Vielmehr äußern sie sich in der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes, so wie er sich im menschlichen Leben zeigt und erkennen lässt. Innerhalb des Kontextes des Bundes haben Barmherzigkeit und Treue mit dem Willen Gottes für den Menschen zu tun, aber auch mit der menschlichen Antwort darauf, ohne die der Bund nicht entstehen kann.
2.1. Ein Ort der Offenbarung Gottes
Von ihrer Etymologie her sind die beiden Begriffe sehr verschieden. Es handelt sich hier deshalb keineswegs nur um eine semitische Wiederholung, sondern es wird etwas von dem Geheimnis Gottes ausgesagt. Die Barmherzigkeit (hesed) ist eher affektiv geprägt und hat mit dem Verbleiben im Bund als einer Bindung zu tun, die die innere Kraft schafft, Widerstände gegen den Bund zu überwinden;3 der Begriff der Treue (‘emet) ist in einem Umfeld von erfahrungsgemäßem Wissen eher kognitiv gekennzeichnet und bezieht sich auf die Beständigkeit des Gotteswortes, die dem Menschen eine einzigartige Sicherheit vermittelt. Beide besitzen somit eine zeitliche Kontinuität, die aus Gott selbst stammt. Die Anrufung „Denn seine Huld/Barmherzigkeit währt ewig (kî le’ôläm hasdô)”, die im Psalm 136 zur Litanei wird, ist also eine Bitte des Menschen der weiß, dass er mit seinem Gebet ein himmlisches Gut erlangt.
Wir verstehen den Inhalt der Begriffe „Barmherzigkeit” und „Treue” besser, wenn wir sie als Antwort Gottes auf die menschliche Schwäche sehen. Der Mensch kann dann an einer Eigenschaft des göttlichen Handelns teilhaben. Im biblischen Wortgebrauch werden sie fast ausschließlich auf Gottes Handeln bezogen, aber immer in Hinblick einer Wirkung auf den heilsbedürftigen Menschen.
Im Einzelnen hat „Treue” (‘emet) mit dem Glauben zu tun; daraus folgt die Zustimmung des Gläubigen zu eben dieser Treue Gottes und wird zum Ja des Amen.4 Die Festigkeit dieser Zustimmung ist eigentlich nicht menschenmöglich; durch den Glauben wird der Mensch zu einem Zeugen der Treue (‘emet) Gottes. Die Verbindung zur Barmherzigkeit zeigt, dass der eigentliche Gegenstand des christlichen Glaubens die Liebe ist und so besitzt die Barmherzigkeit eine Reihe von spezifischen Eigenschaften, die sie von einfachem Mitleid unterscheidet.
Die größte Einheit der beiden Haltungen findet sich in einer Person, in Christus, der „voll von Gnade und Wahrheit” (Joh 1,14) ist. Seine offensichtliche Fülle steht im Gegensatz zur vorangegangenen Heilsgeschichte: „Das Gesetz wurde durch Moses gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus” (Joh 1,17). Bei beiden Zitaten handelt es sich um eine interessante Interpretation: hesed wird mit cháris (Gnade) übersetzt, und ‘emet mit alétheia (Wahrheit).5 In der johanneischen Theologie bedeutet das eine Klärung der personalen Bedeutung der Begriffe in Christus als Offenbarung des Vaters.6 In ihm ist die Einheit der Barmherzigkeit Gottes (seine Heilstat des Lobes) und seine Treue als Mensch eine Einheit im Fleisch, die die gesamte Heilsgeschichte in ihrer größtmöglichen Konkretheit rekapituliert.
Wie Kasper richtig betont, sind in der biblischen Tradition Barmherzigkeit und Wahrheit untrennbar.7 Diese tiefe Einheit muss das Handeln der Kirche leiten. Der heilige Paulus lädt uns ein, „die Wahrheit in der Liebe” (Eph 4,15) zu tun.8 Dazu müssen wir aber wissen, dass es eine Wahrheit der Liebe gibt, die eine eigene Logik besitzt und die das kirchliche und gesellschaftliche Leben lenken muss. Sehr tiefgründig wurde dies von Papst Benedikt XVI. in Caritas in veritate gelehrt, wo er der Liebe eine gesellschaftliche Bedeutung zuteilt, die einen großen Unterschied macht.9 Damit sie eine wirkliche Einheit schafft, muss die Liebe sich im Leben eines Volkes verwirklichen, das die Barmherzigkeit lebt und bezeugt.10 Das ist keine private Dimension, sondern eine universale, die evangelisierend wirkt. So muss also die Pastoral der Kirche aussehen.
2.2. Ihre Leuchtkraft in der Geschichte einer bräutlichen Liebe
Das Aufeinandertreffen von Barmherzigkeit und Treue bedarf einer geschichtlichen Heilstat Gottes innerhalb eines Volkes, um für die Menschen bedeutsam zu werden. Deshalb hat es seinen Platz im Bund, dem zentralen und fundamentalen Ereignis der biblischen Tradition.
Der Bundesschluss bildet die Grundlage einer bräutlichen Analogie für die Verbindung zwischen Gott und seinem Volk, welche die Tiefe der Liebe Gottes sichtbar macht. Gott bindet sich an Israel wie ein Bräutigam an seine Braut. Gerade das polygame Umfeld Israels lässt uns die wahre Bedeutung dieser göttlichen Offenbarung verstehen.11 Dabei nimmt das Hohelied der Liebe einen besonderen Platz ein. Es sammelt und eint die Weisheitsliteratur, die von der göttlichen Perspektive her die menschliche Erfahrung der Liebe erleuchtet. Auch die prophetischen Zeugnisse werden aufgenommen, um die liebende Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes und in der konkreten Geschichte zu bezeugen. Die Liebe, die der Gläubige erfährt, ist radikal neu und stammt aus einer Unbedingtheit, die das menschliche Maß weit übersteigt.12 Benedikt XVI. hat das so ausgedrückt: „Dem monotheistischen Gottesbild entspricht die monogame Ehe. Die auf einer ausschließlichen und endgültigen Liebe beruhende Ehe wird zur Darstellung des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk und umgekehrt: Die Art, wie Gott liebt, wird zum Maßstab menschlicher Liebe. Diese feste Verknüpfung von Eros und Ehe in der Bibel findet kaum Parallelen in der außerbiblischen Literatur.”13
Die biblische Neuigkeit zeigt eine erstaunliche Ausschließlichkeit. Diese ist der Raum, in dem sich das personale Antlitz Gottes zeigt, der uns eine neue Weise zu lieben schenkt: nämlich zu lieben, wie er uns liebt. Das wird von der Enzyklika Lumen fidei von Papst Franziskus „ursprüngliche Liebe”14 genannt. Dieser Ausdruck verdeutlicht, wie diese erste göttliche Gabe alle Menschen in der Liebe, die sie geschaffen hat, umfängt und jedem Leben einen Sinn gibt.
Diese persönliche Liebesverbindung mit Gott strukturiert die gesamte Heilsgeschichte: In ihr finden sich die Hauptgründe unseres Glaubens. Auch die zentrale Stellung der Ehe innerhalb der Hierarchie der christlichen Wahrheiten15 und ihrer wesentlichen Eigenschaften, die zuallererst auf die göttliche Barmherzigkeit gründen, wird damit bestätigt.
Zwei Strukturelemente sind für das Leben des Volkes Israel und für die Kirche wesentlich. Das erste ist die Verheißung oder das Versprechen, das sowohl die Ehe wie auch den Bund begründet. In der Geschichte Israels ist die Verheißung die Quelle der Offenbarung Gottes, vor allem wenn in der Exilzeit der Inhalt der Verheißung nicht mehr länger das (nicht mehr vorhandene) Land, der Tempel oder der König ist, sondern ein Neuer Bund im Herzen des Volkes versprochen wird, das aus göttlichem Erbarmen heraus wieder treu sein kann. Der Inhalt der Verheißung wird somit durch die Umkehr eine verinnerlichte und universale Wahrheit.16
Das zweite Strukturelement bei der Grundlegung des Bundes stützt sich auf die Analogie zwischen Ehebruch und Götzendienst, um so die Kraft der Gegenwart Gottes in der Ehe anzudeuten. Der Parallelismus hat nichts mit einer bloßen Gesetzesübertretung zu tun, sondern zielt auf das Herz des Menschen. Für Israel war die Untreue des Götzendienstes schlimmer als eheliche Untreue. Der Vergleich mit dem Ehebruch hat daher nicht die Absicht, die offensichtliche Schwere der Abgötterei zu unterstreichen, sondern ihn vielmehr in einen neuen, nicht mehr nur gesetzlichen, sondern affektiven Sinnzusammenhang zu rücken. Nur so kann die überraschende Reaktion Gottes darauf richtig eingeordnet werden. Es handelt sich nicht mehr nur um das bloß kultische Problem der Anbetung des einen Gottes (Henotheismus); es geht vielmehr um den Kontext eines affektiven Liebesaustausches mit einem Gott, der sich selber schenkt. So muss also die Ausschließlichkeit angesichts eines auf sein Volk eifersüchtigen Gottes verstanden werden.17 Es ist mehr eine Angelegenheit des Herzens und der Gefühle als die eines äußerlichen Gesetzes. Wir erkennen an Gott eine Innerlichkeit, ein Gefühlsleben. Er will einen ausschließlichen Bund mit seinem Volk. Die Ehe als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau fügt sich ein in die geheimnisvolle...