I. Aufklärung – ein neues Zeitalter
1. Aufklärung als Antwort
Aufklärung zielt auf Wahrheit durch Klarheit, aber auch auf Freiheit und Selbständigkeit. Der Ausdruck Aufklärung bezeichnet ursprünglich eine rationale Operation, die – als „Aufklärung des Verstandes“ – zur Klärung von Begriffen, Behebung von Unwissenheit und Unvernunft usw. führen soll (rationalistischer Aufklärungsbegriff); dann aber bezeichnet Aufklärung auch eine emanzipative Aktion, die – z.B. als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ – zur Befreiung von Fesseln aller Art führen soll (emanzipatorischer Aufklärungsbegriff). Entsprechend heißt auch die geschichtliche Bewegung, die mehr oder weniger programmatisch auf solche Aufklärung im systematischen Sinne des Wortes abzielte, Aufklärung im historischen Sinne des Wortes; und da sie wesentlich ins 18. Jahrhundert fällt, heißt dieses (mit einer gewissen zeitlichen Unschärfe) das „Zeitalter der Aufklärung“. Diesem Selbstverständnis der Aufklärung entsprechen auch eine Reihe anderer Selbstbezeichnungen, die alle spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert wurden. Da die Aufklärung in erster Linie auf den Verstand bzw. die Vernunft vertraut, heißt die von ihr dominierte Epoche auch „Zeitalter der Vernunft“, und weil sie wesentlich als Kritik (Kritik des Aberglaubens und der Vorurteile, des Fanatismus und der Schwärmerei) auftritt, heißt sie auch „Zeitalter der Kritik“. Außerdem wird das 18. Jahrhundert, weil es sich im allgemeinen der Führung durch die Philosophie anvertraute, das „philosophische Jahrhundert“ genannt. Bis heute treten viele betont kritische oder betont Vernunft- und freiheitsorientierte Aktivitäten bzw. Forderungen nach solchen Aktivitäten (quasi metahistorisch) im Namen der Aufklärung auf; sie beziehen sich insofern, wenn auch meist nur indirekt und sehr selektiv, immer noch auf das „Zeitalter der Aufklärung“.
Geschichtlich gesehen war die Aufklärung zunächst eine Antwort auf eine bestimmte Situation. Mit der Ausbildung erster zentral regierter und dann mehr und mehr national bestimmter Großstaaten wie England und Frankreich und der gleichzeitigen Spaltung der Kirche durch die Reformation war in Europa seit dem 16. Jahrhundert eine völlig neue geistige und gesellschaftliche Problemlage entstanden, die durch das gleichzeitige Aufkommen einer tendenziell theologie- und philosophiefreien Wissenschaft noch verschärft wurde. Die sogenannte Neuzeit begann als Kampf um eine Neuordnung auf allen Gebieten des geistigen und gesellschaftlichen Lebens, insbesondere als intellektueller und politischer Streit über die wahre Religion und die richtige Staatenordnung. Ideologische und militärische Kriege in und zwischen den Staaten, von denen der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) nur der bekannteste ist, prägen das 17. Jahrhundert und damit die Ausgangslage der Aufklärung am Ende dieses Jahrhunderts.
Das Religionsproblem, wie es sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stellt, ist vor allem durch die konfessionelle Spaltung charakterisiert. Die Reformationsbestrebungen des 16. Jahrhunderts hatten nicht zu einer allgemein anerkannten Lösung, sondern nur zur Bildung rivalisierender Kirchen und Schulen geführt, damit zu einem neuen theologischen und letztlich politischen Streit. Auch der Westfälische Friede (1648) hatte nur in Deutschland eine gewisse Beruhigung der Lage bewirkt, in England und Frankreich gingen die blutigen Streitigkeiten noch jahrzehntelang weiter. Angesichts dieser traumatischen Erfahrung permanenter Religions- und Bürgerkriege entstanden zwei eng miteinander verknüpfte Forderungen: das Postulat einer vernünftigen Religion bzw. natürlichen Theologie und das Postulat der Religionsfreiheit, das sich dann zur Forderung nach einer allgemeinen Denk- und Redefreiheit, später auch nach Pressefreiheit, erweitern konnte. Vor allem aber suchte die Aufklärung die wahre Religion nicht mehr in kirchlichen Dogmen, sondern in der praktischen Moral; angesichts der Verunsicherung über die Wahrheiten der Religion wird die Tugend zur diesseitigen Ersatzreligion. So entwickelten sich die emphatischen Forderungen der Aufklärung nach Vernunft, Freiheit und Tugend.
Die Politik, so wie die Aufklärung sie sah, war ebenfalls durch Unvernunft, Unfreiheit und Unmoral charakterisiert. Die Monarchie, die seit Menschengedenken politischer Normalzustand war und auch von der Aufklärung nur ausnahmsweise und erst spät in Frage gestellt wurde, tendierte angesichts der neuen Macht- und Ordnungsprobleme überall zum Absolutismus, der zunächst den alten Kriegsadel mit Hilfe des Bürgertums, dann aber auch das erstarkte Bürgertum selbst mit Hilfe des neuen Militärs zu unterdrücken suchte. Daraus ergaben sich für die Aufklärung zwei mögliche Konsequenzen (falls sie nicht wie in England eine alte konstitutionelle Monarchie bereits vorfinden konnte): entweder zu versuchen, den Absolutismus im Sinne ihrer eigenen Ziele, nämlich der Verbreitung von Tugend und Verstand, zu instrumentalisieren und gegebenenfalls auf Freiheit durch Reformen zu hoffen; oder die absolute Monarchie als Haupthindernis aller Weltverbesserung, als Despotismus oder Tyrannei, direkt zu bekämpfen und in der einen oder anderen Form eine Revolution zu propagieren. Die weitaus meisten Aufklärer haben die zunächst aussichtsreichere erste Möglichkeit verfolgt und, soweit sie nicht für eine liberalisierte konstitutionelle Monarchie plädierten, eine Verbindung zwischen Aufklärung und Absolutismus in einem aufgeklärten Reformabsolutismus angestrebt. Erst nach der Französischen Revolution haben sich eine Reihe von Aufklärern, jedoch längst nicht alle, für irgendeine Form von demokratischer Republik ausgesprochen. Die Sorge der Aufklärer um Vernunft und Moral war offensichtlich größer als ihr Interesse an einer Freiheit für alle.
Ein erster exemplarischer Fall von selbständigem Vernunftoder Verstandesgebrauch lag für die Zeitgenossen in der Naturwissenschaft vor, die sich seit dem 16. Jahrhundert mehr und mehr als eine eigene geistige Macht etabliert hatte; um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sie schon die meisten klerikalen Bevormundungen abgeschüttelt, so daß sie nun als Modell eines theologieunabhängigen Denkens gelten konnte. Damit entstanden auch erste Hoffnungen auf eine freiere, mit der Wissenschaft eng verknüpfte Philosophie; die tendenziell theologiefreie Welterkenntnis ließ eine vernünftige Gottes- und bessere Menschenerkenntnis als möglich erscheinen und damit auch Fortschritte in praktischen, technischen wie moralischen Fragen. Das Faktum der Naturwissenschaft evozierte die Idee einer neuen Politik- und Moralwissenschaft (Naturrecht) und bestärkte die Hoffnungen auf Vernunft und Freiheit. Kurz, die Philosophie und damit die Aufklärung konnte die freie Wissenschaft als ihren Hauptverbündeten und sich selbst als Wissenschaft betrachten.
Der Blick auf Religion, Politik und Wissenschaft macht die Aufklärung von ihrem Anfang her als Reaktion auf eine geschichtliche Situation verständlich. Angesichts der Erfahrung der Unvernunft in Religion und Politik und der Erfolge von Verstand oder Vernunft in den neuen Wissenschaften setzen die Aufklärer auf Verstand und Vernunft, und zwar auf die Aktivität des eigenen Denkens (Selbstdenkens), für das folglich mehr und mehr auch Freiheit (Mündigkeit) gefordert werden muß. Die Vernunft ist Mittel und Instanz, um die wahren Sachverhalte gegen die reale Unvernunft und damit gegen Schein und „Verblendung“ zu verteidigen. Als erstes müssen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus bekämpft werden – die Stoßrichtung dieser Begriffe zielt offensichtlich auf Erscheinungsformen der Religion, die als Entartungen kritisiert werden. Zugleich drängt sich angesichts der Mängel des Glaubens, aber auch der Gesellschaft, an die Stelle der geschichtlichen Offenbarung die durch Vernunft erkennbare Natur als Norm und Wahrheitskriterium, also ein normativer Naturbegriff, der teils wissenschaftlich, teils metaphysisch konzipiert ist und vermutlich gerade wegen dieser Ambivalenz in neuartiger, emphatischer Weise zur Berufungsinstanz von Argumentationen werden kann. Da jedoch die Mächte der Politik und Religion sich der unmittelbaren Einwirkung der Aufklärung im allgemeinen entziehen, wird die Vermehrung des Lichts der Erkenntnis („Verbesserung des Verstandes“) und die dadurch erhoffte Ausbreitung der Moral („Verbesserung des Willens“) zum ersten Ziel der Aufklärung. Auf diesem Hintergrund lassen sich die meisten Forderungen bzw. Hoffnungen der Aufklärung (Fortschritt und Freiheit, Toleranz und Menschenrechte usw.) als Folgerungen aus ihrer Hoffnung auf Vernunft und ihrem Willen zur Vernunft verstehen.
Ganz allgemein gesprochen war die Aufklärung des 18. Jahrhunderts also eine geistige und gesellschaftliche Reformbewegung, die sich von der Klarheit des Denkens nicht nur geistige Fortschritte, sondern auch Besserung aller Verhältnisse versprach. Offensichtlich gibt es nun nach Jahrhunderten primär theologischen Denkens ein deutlich verstärktes anthropologisches Interesse,...