V. Klinik
Der Vorteil klinischer Studien gegenüber epidemiologischen Studien besteht in der Möglichkeit einer direkten oder zumindest intensiveren Untersuchung der Betroffenen; z.B. können die Suizidenten während eines stationären Aufenthaltes zu ihrer Lebensgeschichte ausführlich befragt und körperliche Untersuchungsbefunde erhoben werden. Bei Personen nach vollendetem Suizid wird mit Hilfe unterschiedlicher Informationsquellen, wie z.B. Krankenakten von früheren stationären Aufenthalten, Befragung von Angehörigen, von behandelnden Ärzten und Psychotherapeuten, ein genaueres Bild des Suizidenten und der Entstehungsbedingungen des Suizides gezeichnet. Man nennt dieses Vorgehen in der Fachsprache der Suizidologie auch «psychologische Autopsie».
Psychologische Autopsie-Studien sind aus leicht nachvollziehbaren Gründen sehr aufwendig. Dennoch gibt es mittlerweile eine größere Anzahl von Studien – mit ähnlichen Ergebnissen, wie wir noch sehen werden.
Der Nachteil klinischer Studien gegenüber epidemiologischen Studien liegt in der ungesicherten Repräsentativität, d.h., es kann sich um eine Auswahl von Patienten handeln, die nicht mit dem Gesamtbild aller Personen mit Suizid oder Suizidversuch übereinstimmt.
In diesem Kapitel wird zunächst auf das präsuizidale Syndrom eingegangen, dann die Beziehung von Suizidalität zu Depression und Aggression sowie zu anderen psychiatrischen Störungen erörtert und schließlich Verläufe und Prädiktoren (Vorhersager) für suizidales Verhalten beschrieben. Zum Schluss dieses Kapitels werden dann mit dem uns jetzt zur Verfügung stehenden Wissen – noch einmal – Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Personen mit Suizid und Suizidversuch dargestellt.
1. Das präsuizidale Syndrom
Erwin Ringel untersuchte in den frühen 50er Jahren 745 Patienten nach einem Suizidversuch, wobei er den Schwerpunkt auf die direkt dem Suizidversuch vorangegangene Phase legte. Die Ergebnisse sind in dem Buch Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung (1953) festgehalten. Ringel fand Einengung, verstärkte und gleichzeitig gehemmte Aggression sowie Flucht in die Irrealität bei der Mehrzahl der untersuchten Patienten so auffällig, dass er diese Charakteristika zum «präsuizidalen Syndrom» zusammenfasste.
Die Einengung wird Ringel zufolge im Alter deutlicher. Sie zeigt sich im Verlust von expansiven Fähigkeiten. Aus Angst werden viele Dinge nicht angestrebt oder links liegengelassen. Einzelne Lebensbereiche, wie etwa Familie, Beruf, Freundeskreis, werden dann von dem Betreffenden aufgegeben. Der Patient bewegt sich im Kreis, er hat immer die gleichen Gedanken wie «ich bin nichts wert», begibt sich immer in die gleichen Situationen, wie z.B. in Abhängigkeitsverhältnisse, und strebt immer wieder Beziehungen an, die zum Scheitern verurteilt sind, wie z.B. das Eingehen von Liebesbeziehungen mit verheirateten Partnern. Es kommt so zu einer Stagnation, die schließlich in eine Regression mündet: Die Erinnerung dominiert, die Zukunft spielt keine Rolle mehr, auf sie wird nicht gesetzt. Wünsche nach Geborgenheit und Sicherheit überwiegen. Eine neue Partnerschaft wird aus Angst vor Enttäuschung nicht mehr angestrebt. Zwangsläufig führt dies zu einer zunehmenden Vereinsamung des Patienten.
Die Aggression des Patienten ist nach Ringel eine vorwiegend gehemmte, d.h. der Ausbruch der Aggression wird nicht gestattet, obwohl das Bedürfnis dazu sehr wohl vorhanden ist. Die Patienten können sich nicht Luft machen, fressen alles in sich hinein, halten eine quälende Situation, wie z.B. die Untreue des Lebenspartners, unerträglich lange aus. Die Entladung der Aggression erfolgt dann oft durch einen relativ geringfügigen Anlass.
Das präsuizidale Syndrom wird schließlich vervollständigt durch die Flucht des Patienten in die Irrealität. Das Phantasieleben überwiegt gegenüber der Orientierung an der Realität. Die Betreffenden bauen sich eine Scheinwelt auf. Diese Scheinwelt zeichnet sich einmal durch das Phantasieren des Gegenteils aus: Der Arme ist reich, der Kleine groß, der Entrechtete ein Herrscher, der Gefangene frei, der Erfolglose erfolgreich etc. Zum anderen wird die Phantasie immer bedeutsamer für das Erleben und bekommt immer mehr Wirklichkeitscharakter, d.h., der Betreffende glaubt sich in einer aussichtslosen Situation gefangen. Schließlich drängen die phantasierten Inhalte, z.B. Suizidgedanken, zur Verwirklichung, d.h. zum Suizidversuch oder Suizid.
Dabei phantasiert sich der Patient schon als tot, aber er kann sich im Tode noch beobachten, betrachten, zusehen, d.h., die Patienten erleben sich in ihrer Phantasie auch nach dem Tode im Stadium des Totseins als lebendig, und zwar als körperlich lebendig. Das ist, wie Ringel schreibt, der Gipfel der durch die Phantasie bewirkten Selbsttäuschung, eben die Flucht in die Irrealität: «So kann er dann – wobei das Verständnis dafür, dass dies nur in der Phantasie möglich ist, aufgehoben erscheint – erleben, wie er auf der Bahre liegt. So kann er sein eigenes Begräbnis beobachten. Er kann lesen, wie in allen Zeitungen sein Name steht. Er kann sehen und empfinden, wie heftige Reue die Angehörigen überfällt, wie sie sich wegen ihrer falschen Haltung ihm gegenüber selbst anklagen und Vorwürfe machen. Diese werden ihn um Verzeihung bitten, und er wird großzügig Verzeihung gewähren oder aber sich unbarmherzig an der Verzweiflung weiden und erst recht seine Argumente ihnen stumm an den Kopf werfen.»
Das präsuizidale Syndrom sollte allerdings durch weitere Charakteristika ergänzt werden.
Das präsuizidale Syndrom suggeriert in jedem Falle eine gewisse Abwägung, Entscheidung, Reflexion des Suizidenten. Die meisten Suizidhandlungen sind jedoch zuallererst Impulshandlungen, wobei der momentane seelische Schmerz nicht ausgehalten werden kann. Studien über Suizidversuche kamen zu dem Schluss, dass allein 4 % sorgfältig geplant, aber nur 7 % mehr oder weniger harmlos waren. Wie wir später sehen werden, wird der Impulscharakter noch verstärkt durch die Einnahme vor allem von Alkohol, aber auch von Medikamenten und Drogen, welche die Kontrollfunktionen des Ichs, d.h. Selbstreflexion, Kritikfähigkeit, Voraussicht, Abwägen von Entscheidungen, herabsetzen. Nicht selten wirkt selbst bei lange und sorgfältig geplanten Suizidarrangements die Suizidhandlung impulsiv und nicht gut geplant, z.B. wenn der Tod durch viele Messerstiche eingetreten ist, die einzeln für sich keine tödliche Wirkung zeigen würden.
Die meisten Suizidhandlungen sind von der Angst vor der Überschreitung der Schwelle hin zum Tode geprägt. Am deutlichsten wird dies bei Suizidversuchen, die den Ausgang offen lassen, bei denen also der Wunsch nach einem sogenannten Gottesurteil im Vordergrund steht. Zu diesem Verhalten gehört sicherlich auch ein Teil der Suizidversuche von Drogenabhängigen mit Dosierungen von Heroin, die nahe an oder knapp über der tödlichen Dosis liegen.
Suizidversuche als Impulshandlungen und als Gottesurteil zeigen somit auch die Ambivalenz des Suizidenten hinsichtlich seines Wunsches zu sterben. Nur in den allerseltensten Fällen ist die Suizidabsicht so eindeutig und endgültig, dass man nicht mehr von einer solchen Ambivalenz sprechen kann. Übereinstimmend wird berichtet, dass die Suizidabsicht bei 68–80 % der Patienten in weniger als zwei Tagen, bei 90–99 % in weniger als zehn Tagen in der Klinik korrigiert wurde.
2. Depression und Aggression
In der Beschreibung des präsuizidalen Syndroms von Ringel waren Depression und Aggression direkt und indirekt angeklungen. Beide Affekte sowie deren pathologische Ausprägungen im Sinne von Störung oder Krankheit sollen wegen ihrer zentralen Bedeutung zum Verständnis und zum Erkennen von suizidalem Verhalten hier gesondert betrachtet werden.
Depression Depression bzw. depressive Störung/Erkrankung lässt sich hierbei wesentlich leichter definieren als Aggression und pathologische Formen von Aggression.
Eine depressive Störung ist gekennzeichnet durch eine länger anhaltende (mindestens zwei Wochen) depressive Verstimmung oder Freudlosigkeit sowie eine Anzahl von Symptomen, die diese depressive Stimmung oder Freudlosigkeit begleiten. Solche Symptome können sein: Appetitmangel oder deutlicher Gewichtsverlust oder Gewichtsabnahme ohne Diät, Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf, psychomotorische Unruhe (z.B. unruhiges Umherlaufen) oder psychomotorische Hemmung (z.B. langsames Sichbewegen), Müdigkeit oder Energieverlust, Gefühl der Wertlosigkeit oder exzessive oder unangemessene Schuldgefühle, verminderte Denk- oder Konzentrationsfähigkeit oder Entscheidungsunfähigkeit sowie wiederkehrende Gedanken an den Tod, wiederkehrende Suizidideen ohne einen genauen Plan oder ein Suizidversuch oder ein genauer Plan für einen Suizidversuch. Die mittlerweile fragwürdig gewordene Unterteilung der depressiven Störungen in neurotisch-reaktiv und endogen kann hierbei außer Acht gelassen werden.
Die enge Verknüpfung von Depression und Suizidalität schlug sich auch in...