Vorwort
Dieses Buch hat eine lange, ja eine sehr lange Entstehungsgeschichte. Sie begann vor etwa 30 Jahren, als ich mir in Großbritannien der Dynamiken bewusst wurde, die auf diesen Seiten beschrieben werden. Damals stießen die Ideen, die ich in diesem Buch darlege, sowie die Warnungen, die ich aussprach, in meinem beruflichen, sozialen und persönlichen Umfeld auf heftigen Widerstand, wenn nicht sogar auf offene Aggression. Ich befand mich in der durchaus nicht beneidenswerten Lage, einer – um einen Ausdruck von P. L. Berger zu gebrauchen – »kognitiven Minderheit«1 anzugehören; es war, als sähe ich Gespenster oder kämpfte gegen Windmühlen. Ich war auf meine eigene Art ein Kulturdissident und musste dementsprechend vieles aushalten, das äußerst, manchmal sogar unsagbar schwer zu ertragen war. Aber: ex malo bonum. Auf bestem Wege, zu einem Johann Georg Elser (1903–1945) der Kulturpolitik zu werden, beschloss ich, England zu verlassen und nach Rom, in das antike Zentrum des Christentums, zu ziehen, um aus der Distanz über die Entsozialisierung zu schreiben (obwohl Italien, ebenso wie andere Länder der westlichen Welt, ebenfalls diese finsteren Tendenzen erlebte, in denen das Vereinigte Königreich ein wahrer Pionier war). Mein Ziel war es zu zeigen, dass in Großbritannien heute Mechanismen am Werk sind, die wie eine Brechstange wirken und die Menschen voneinander trennen, und dass dies geschieht, weil die spirituellen Grundpfeiler der Gemeinschaft ernsthaft geschwächt oder zerschlagen wurden. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele der über zwei Millionen Briten, die in den letzten 15 Jahren ausgewandert sind, dies aus einer ähnlichen Ablehnung der kulturellen Lage in ihrem eigenen Land heraus getan haben. Sie wären ein weiterer Indikator für die Krankheit unserer Nation.
Seit ich nach Italien gezogen bin, wurde ich von vielen Italienern sehr freundlich aufgenommen und auf meinem Weg, den ich – oft mit sehr unsicherem Schritt – ging, unterstützt. So fühle ich mich in meinem Wesen hingezogen zu dem, was P. B. Shelley (1792–1822) empfand, der sagte, Italien sei das »Paradies der Exile«2, und der Leser wird unschwer verstehen, warum ich dieses Werk all jenen Italienern gewidmet habe. Es sind zu viele, um sie hier namentlich aufzuführen: »Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen« (vgl. Mt 25,35). Auch Menschen anderer Nationalitäten haben mir sehr geholfen und werden mir stets in Erinnerung bleiben. Besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle meine verstorbene Tante Patricia Cooper, die mich vor einem sehr unliebsamen Schicksal bewahrt hat, mein Cousin William McEnchroe, ein Geist, wie man ihn selten trifft, sowie Clarisse Faugeron, die mir zeigte, dass ich nicht das Unmögliche wollte. Und schließlich erleuchteten zwei Christen, die nicht mehr auf dieser Erde weilen, beständig meinen Weg durch das, was sie geschrieben und gesagt haben, und ich habe ihnen enorm viel zu verdanken: Johannes Paul II. (1920–2005) und Alexander Solschenizyn (1918–2008).
Seit meiner in jungen Jahren getroffenen Entscheidung, mein Land zu verlassen, ist in Großbritannien (und in der westlichen Welt) die Erkenntnis, dass die Postmoderne für den heutigen Menschen einen immer stärkeren Bindungsverlust bedeutet, zunehmend gewachsen. Am 2. September 2007 war zum Beispiel auf der Titelseite des Sunday Times Magazine zu lesen: »Bis 2021 wird ein Drittel von uns allein leben. Wie viele werden auch allein sterben?«3 Und im Januar 2008 veröffentliche der Independent on Sunday einen Artikel mit dem Titel »Gemeinschaft? Wir kennen unsere Nachbarn nicht«, der folgende erschütternde Zeilen enthielt:
»Einem Bericht des Prince’s Trust zufolge prophezeit ein Drittel der Bevölkerung den Tod ihrer Gemeinschaften. Traditionelle soziale Netze gehören bald der Vergangenheit an … Die Krise wird noch verschlimmert durch ein Klima der Angst: Alte Menschen fürchten sich vor jungen Menschen, und Erwachsene mögen oft nicht eingreifen, wenn sie mit asozialem Verhalten konfrontiert werden.
Einer von drei der Befragten waren der Meinung, dass Margaret Thatchers bekannter Satz: ›Es gibt keine Gesellschaft‹, sich in naher Zukunft bewahrheiten wird.
Die meisten Leute glauben, dass die Tage, in denen Menschen persönlichen Umgang miteinander pflegten, gezählt sind. 65 Prozent meinen, dass die Menschen in Zukunft mehr Kontakt über das Internet als auf persönlicher Ebene haben werden. Mindestens einer von zehn Briten, neun Prozent, erklärt sich für nicht in der Lage, auf wöchentlicher Basis mit anderen Menschen soziale Kontakte zu pflegen. Und bei 15 Prozent vergeht eine Woche, ohne dass sie mit irgendeinem Nachbarn sprechen.«4
Im August 2014 berichtete der Daily Telegraph, dass einer vom Beziehungshilfswerk Relate sowie von Relationships Scotland in Auftrag gegebenen Untersuchung zufolge fast fünf Millionen Menschen in Großbritannien (zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung) angeben, keine engen Freunde zu haben; über ein Drittel der berufstätigen Eltern nicht jeden Tag mit ihren Kindern sprechen; nur ein Viertel der Befragten sagte, dass sie in täglichem Kontakt mit einem Elternteil stünden; und 42 Prozent gaben an, mit keinem ihrer Arbeitskollegen eng befreundet zu sein. Relate sagte: »Die Untersuchung zeigt ein erschreckendes Ausmaß von Einsamkeit bei jenen auf, die in ihrem Leben von anderen Menschen umgeben zu sein scheinen.« In dem Artikel, der eine starke Beziehung zwischen sozialen Bindungen und persönlicher Zufriedenheit aufzeigte, hieß es: »Die Ergebnisse zeigen, dass jene, die verheiratet sind oder mit einem Partner zusammenleben, mit 17-prozentiger Wahrscheinlichkeit glücklicher im Leben sind als alleinstehende Menschen. Sie zeigen auch, dass jene, die als Erwachsene ihren Eltern nahestehen, insgesamt glücklicher sind.« Er verwies außerdem auf einen zwei Monate zuvor im Daily Telegraph veröffentlichten Artikel mit dem Titel: »London, die europäische Hauptstadt der Einsamkeit«.5
Im Oktober 2014 veröffentlichte der Guardian einen Artikel mit dem Titel »Das Zeitalter der Einsamkeit tötet uns«. Die Leser wurden darin mit folgenden dramatischen Zeilen konfrontiert:
»Vor drei Monaten lasen wir, dass die Einsamkeit unter jungen Erwachsenen zu einer Epidemie geworden ist. Jetzt erfahren wir, dass sie ebenso ein Leiden älterer Menschen ist. Eine Untersuchung des Hilfswerks Independent Age zeigt, dass schwerwiegende Einsamkeit das Leben von 700.000 Männern und 1,1 Millionen Frauen über 50 in England belastet, und diese Zahlen steigen rasant an. Ebola wird wahrscheinlich niemals so viele Menschen töten wie diese Krankheit zugrunde richtet. Soziale Isolierung ist eine ebenso häufige Ursache für einen frühen Tod wie das Rauchen von 15 Zigaretten pro Tag; Einsamkeit ist der Untersuchung zufolge doppelt so tödlich wie starkes Übergewicht. Demenz, Bluthochdruck, Alkoholismus und Unfälle: All diese Dinge – ebenso wie Depression, Paranoia, Angststörungen und Suizid – treten dort häufiger auf, wo Bindungen zerstört sind. Wir können nicht allein zurechtkommen.«6
Heute, 30 Jahre nachdem mir dieses Problem zum ersten Mal bewusst wurde, gibt es eine wahrhafte Flut von Kommentaren und Statistiken über den Zusammenbruch der Gemeinschaft, und wie der Leser auf den folgenden Seiten sehen wird, habe ich versucht, die Situation so gut wie möglich weiterzuverfolgen (und die Daten zu interpretieren). Auch das Bewusstsein dafür, dass zahlreiche Entwicklungen ohne Bezug auf diesen Zusammenbruch nicht verständlich sind, wird immer größer. Zum Beispiel muss – wie in diesem Buch gezeigt wird – die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die von der Kreditverknappung und der Bankenschmelze ausgelöst wurde, auch vor dem Hintergrund der zersetzenden Auswirkungen der postmodernen Kultur verstanden werden. Dasselbe gilt in Bezug auf den katastrophalen Niedergang der Glaubwürdigkeit und Autorität der Politiker, der politischen Parteien und der politischen Institutionen.
Das Problem der Entsozialisierung in der westlichen Welt wurde auch vom Oberhaupt der katholischen Kirche aufgegriffen. Papst Franziskus folgte darin den Spuren seiner Vorgänger. In seiner Ansprache an das Europäische Parlament im November 2014 nahm er mit tiefer Einsicht nicht nur Bezug auf die Krankheit der Einsamkeit in Europa, sondern er brachte sie auch in Zusammenhang mit dem Verlust eines transzendenten Menschenbildes – und all seiner sozialisierenden Auswirkungen – sowie mit der Verbreitung eines Lebensstils des selbstbezogenen Individualismus und dem Fehler einer Überbetonung der Wirtschaft. Der Leser wird in diesem Buch oft auf einen Widerhall dieser Ideen stoßen, der deutlich macht, dass innerhalb des Christentums eine klare Kritik an dieser gigantischen Krankheit, unter der wir heute leiden, entsteht:
»Von der transzendenten Würde des Menschen zu sprechen, bedeutet also, sich auf seine Natur zu berufen, auf seine angeborene Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, auf jenen ›Kompass‹, der in unsere Herzen eingeschrieben ist und den Gott dem geschaffenen Universum eingeprägt hat. Vor allem bedeutet es, den Menschen nicht als ein Absolutes zu betrachten, sondern als ein relationales Wesen. Eine der Krankheiten, die ich heute in Europa am meisten verbreitet sehe, ist die besondere Einsamkeit dessen, der keine Bindungen hat. Das wird speziell sichtbar bei den alten Menschen, die oft ihrem Schicksal überlassen sind, wie auch bei...