Eine Einführung
Ach, ich bin gelaufen, gelaufen
und hingefallen, wieder aufgestanden,
umgeworfen, wieder aufgesammelt,
bis ich da angekommen bin, wo
mein Ziel anfängt.
Franziska zu Reventlow
Wo stehe ich, und wo will ich eigentlich hin? Was ist es, das mein Leben ausmacht oder irgendwann einmal ausmachen soll?
Bei all den Antworten, die es auf diese scheinbar so einfachen Fragen gibt, lässt sich kaum ein gemeinsames Ziel finden, und doch, eins wollen wir eigentlich irgendwie alle – glücklich sein. Aber ebendieses Ziel scheint eher der Anfang von neuen Fragen zu sein als ihr Ende. Wo steckt das Glück, und warum suchen wir es so sehr, dass wir kaum noch wissen, wo uns der Kopf steht? Bei all der Hektik bieten sich derzeit jede Menge neue Angebote, um sich auf die Suche nach dem Glück zu machen. Ankommen scheint das Gebot der Stunde, dort, wo ich immer schon hinwollte, bei mir selbst. Die innere Mitte finden, wissen und bleiben, wer ich bin, und endlich einmal in Ruhe Zeit genießen, die mir ganz allein gehört – das scheint gegenwärtig die höchste Form eines geglückten Lebens zu versprechen. Wie dieses Ziel so ganz genau aussieht, weiß ich nicht, also arbeite ich entweder umso zielstrebiger die gesellschaftlich relevanten To-dos für ein vermeintlich glückliches Leben ab, oder ich tue einfach mal nichts, bin ganz bei mir, häkle Mützen, baue Bienenkästen für den Balkon mitten in der Stadt oder male ein wenig in meinem neuen Achtsamkeitsmalbuch gegen den Stress der modernen Zeit an. Ein Zustand, in dem ich mit mir und der Welt Frieden geschlossen habe – alles wunderbar. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Denn komme ich wirklich irgendwo an, und woher weiß ich, dass ich da ganz bei mir bin und nicht bei jemand anderem?
Trotz aller Begeisterung für das Hier und Jetzt ist alles und jeder bis zur Unkenntlichkeit mobil und flexibel, verändert sich und macht irgendwie »sein Ding«, also müssen wir offenbar ein paar Kompromisse schließen, was das Ankommen im Gegenwärtigen angeht. Da helfen oft ein paar Weisheitszitate oder die eine oder andere Yogaübung: Ein herabschauender Hund in der Mittagspause und ein bisschen »Muße-to-go« zwischen zwei Meetings, alles kein Problem, und es geht nun mal nicht anders. Aber was tun wir da eigentlich? Sind die Ziele, die wir auf diese Weise verfolgen, eigentlich wirkliche Ziele – ist es das, was wir wollen? Nehmen wir uns die Zeit, den Unterschied herauszufinden, und wie suchen wir nach dem, was wir wollen? Aber Moment mal – genau das tun wir doch ständig. Die ewige Sucherei ist es doch, die uns vom Ankommen abhält, wir tun doch kaum etwas anderes, als auf der Suche nach dem zu sein, was das Leben ausmacht: nach dem Sinn, der großen Liebe, den eigenen Möglichkeiten – oder aber auch nur nach dem günstigsten Smartphone-Tarif, dem besten Parkplatz oder der perfekten Dreizimmerwohnung. Und schließlich suchen wir, um am Ende etwas zu finden, um irgendwo ankommen zu können – oder etwa nicht? Und das Glück sollte ebendieses Ende unserer Suche sein, das, was uns ein gutes Leben ermöglicht – Ende gut, alles gut.
Aber ist das, was wir da vor uns hertragen, wirklich ein Ziel oder nicht eher so etwas wie eine Sehnsucht, ein Ideal, etwas, das wir anhimmeln, aber nicht wirklich anstreben können? Gerade in einer Welt, die Innovation und globalen Wandel zum Wesen moderner Gesellschaften erklärt, kann eine Kultur des »Ankommens« nicht gleichzeitig als ultimative Glücksformel hochgehalten werden – der Widerspruch liegt auf der Hand: Wir können nicht gleichzeitig aufs Gas treten und auf der Bremse stehen, die Kraft, die diese eigenartige Gleichzeitigkeit kostet, brauchen wir für das Abwägen eines gelingenden Nacheinanders, eines Gleichgewichts aus Wandel und Beständigkeit. Das, was wir brauchen, sind Menschen, die sich in dem, was sich verändert, bewegen können – wissen, wann sie sich anpassen müssen und wann es Zeit ist, neue Ziele in Angriff zu nehmen, die Nachdenken nicht mit Zeitverschwendung und das Maximum nicht mit dem Optimum verwechseln. Das ist zugegebenermaßen eine ziemlich anspruchsvolle Angelegenheit, die uns derzeit vielfach mit dem Gefühl der Überforderung und Verwirrung belohnt. Aber dieses Empfinden liegt nicht allein an einer schnelllebigen und komplexen Zeit, sondern vielfach eher daran, welche Erwartungen wir an das haben, was wir glauben, erreichen zu können – und auf welche Weise. Jede Frage bedeutet eine Suche; Neugier und Verwunderung sind Antriebskräfte, die uns nicht nur ausbrennen, sondern vielmehr beflügeln können. Etwas zu suchen bedeutet eben kein kopfloses Herumirren in einer entgrenzten Welt voller Optionen, die den Einzelnen in die Überforderung der Freiheit wirft, sondern den ernsthaften Versuch, sich in genau dieser Welt zu orientieren. Damit unterscheidet es sich vom Jammern oder Beleidigtsein, von der Ablenkung oder Zerstreuung. Ein Suchender ist kein Spielball der Unberechenbarkeiten, sondern jemand, der versucht, dieser Unberechenbarkeit etwas entgegenzusetzen, indem er den Rahmen des »Möglichen« für sich absteckt.
Bei aller berechtigten Kritik am Zuviel des Möglichen in dieser Welt, am Zugroß und Zuschnell, bleibt diese Kritik oft einem Dualismus verbunden, der die »Last der Möglichkeiten« als reine Zumutung beschreibt und daraus den Schluss zieht, dass jedes Weniger für den modernen Menschen der westlichen Welt automatisch ein Mehr sein muss. Damit schaffen wir allerdings auch keinen Ausweg aus der eigenen Grübelfalle. Denn aus dieser Annahme folgen zum einen die erneute Überforderung auf der Suche nach dem Weniger und zum anderen das Problem, dass es nicht nur in materiellen, sondern auch in geistigen Belangen ein eindeutiges Zuwenig gibt, mit dem wir uns gerade nicht zufriedengeben dürfen. Da reicht ein kurzer Blick in die Kommentarkultur der sozialen Netzwerke.
Wie aber finden wir die Maßstäbe für das, was wir an Rüstzeug brauchen, um herauszufinden, worauf es ankommt? Die ständige Orientierung an äußeren Zwecken, der Wunsch, beständig Kompetenzen auszuprägen, um dies oder jenes zu erreichen, verstellt uns den Blick für die Dinge, die um ihrer selbst willen eine Bereicherung, ein Baustein für ein geglücktes Leben sein können. Dinge, die nicht darauf angewiesen sind, dass wir sie beeinflussen. Dafür müssen wir aber weniger unser Handeln verändern, sondern vielmehr unseren Blick, unsere Art, hinzuschauen und zuzuhören, um zu lernen, das Wesentliche vom weniger Wesentlichen zu unterscheiden. Moderne Praktiken aus unterschiedlichsten Weisheitslehren, Achtsamkeit und Gelassenheit sind wichtige Methoden und Tugenden, um diesen Blick zu öffnen, aber nur dann, wenn wir sie nicht erneut anderen Interessen und Zweckmäßigkeiten unterordnen. Gerade, wenn es um diese inneren Weichenstellungen geht, reicht es nicht, unsere Buntstifte zu zücken, um sich in das Entspannungsausmalbuch zu flüchten, oder »Corporate Meditation« in Großkonzernen zum Gebot der Stunde zu erklären, um danach munter weiterzuhetzen – denn in der Hetze und Unaufmerksamkeit liegt das Gegenteil jeder gelingenden Suche. Es geht also darum, sich gegen das eine und für das andere entscheiden zu wollen.
Vor diesem Hintergrund will dieses Buch eine vielleicht ungewohnte Frage stellen und beantworten: nicht die, wie wir das vermeintlich leidige Suchen beenden können – um endlich ans Ziel oder auch mal wieder zur Ruhe zu kommen –, sondern die, wie wir lernen können, auf eine andere Weise zu suchen: nämlich in Ruhe, damit wir da ankommen können, wo wir auch wirklich hinwollen, auch wenn wir es vorher noch nicht wussten, um von dort aufs Neue aufzubrechen.
Im ersten Kapitel geht es vor diesem Hintergrund um die Suche als eine ganz eigene Art des Tuns – einer besonderen Form der Praxis, die auf das zurückgeht, was die antiken griechischen Philosophen als »tätiges Leben« beschrieben haben. Ich möchte zeigen, dass die »Suche« kein modernes Phänomen digitaler Netzwerkwelten in einem globalen Kontext darstellt, sondern ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, das uns zumindest philosophisch seit über zweitausend Jahren begleitet – wenn wir in der europäischen Suche bis zur griechischen Antike zurückgehen. Eine Suche, die nach einem »glückseligen« Leben strebt, gerade indem sie in Bewegung bleibt, sich nicht zufriedengibt und trotzdem in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen und verantwortlich mit der eigenen Freiheit umzugehen: Das ist das Anliegen der aristotelischen Ethik, die vor über zweitausend Jahren geschrieben wurde.
Um diesen Anspruch auch in unserer heutigen Lebenswelt umsetzen zu können, brauchen wir die Möglichkeit, uns zu orientieren, Strukturen zu schaffen, um uns selbst in der Suche nicht verloren zu gehen: Wie wählen wir aus, was wir suchen wollen, wie treffen wir Entscheidungen, kommen also vom Suchen zum Aussuchen? Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt, um den es im zweiten Kapitel gehen wird. Denn sofern wir uns als Suchende ernst nehmen, kann es sehr wohl gelingen, im Rahmen dieser Suche auch anzukommen – Etappenziele zu erreichen –, um von dort aus zu überprüfen, ob wir bleiben wollen oder nicht. Hier sollen Hintergründe aus der Komplexitäts- und Entscheidungstheorie helfen, unseren Wunsch nach eindeutigen Ergebnissen und exakt voraussagbaren Zielsetzungen als Illusion zu enttarnen – mit dem Ergebnis, dass sich auch damit der Begriff des Scheiterns beziehungsweise der Fehlentscheidung anders denken lässt.
Das dritte Kapitel widmet sich den momentan weit verbreiteten Gedanken zur Achtsamkeit, Gelassenheit und Entschleunigung sowie...