»Wenn die Information selbst zum größten Geschäft der Welt wird, wissen Datenbanken mehr über den einzelnen Menschen als dieser selbst. Je mehr die Datenbanken über jeden von uns speichern, desto weniger existieren wir.« 1
Marshall McLuhan
1949 trat mein Vater, damals ein junger Mann von 23 Jahren, eine Stelle als Lehrer in Ostdeutschland an. In der neuen Stadt eingetroffen, musste er jemand finden, mit dem er sich ein Zimmer teilen konnte. Im Bahnhof lernte er einen Mann kennen, der ebenfalls nach einer Bleibe suchte. »Heute ist mein Glückstag«, dachte mein Vater. Doch ein paar Tage nach ihrem Einzug in ihr neues Zuhause war sein Mitbewohner verschwunden. Mein Vater war ratlos. Als die Tage vergingen, fing er an, sich Sorgen zu machen.
Nicht lange darauf saß mein Vater eines Morgens beim Frühstück, als es an der Tür klopfte. War vielleicht sein Zimmergenosse zurückgekehrt? Als er öffnete, standen mehrere ihm unbekannte Herren vor ihm und teilten ihm mit, dass er einen Lehrerpreis gewonnen habe. Es sei ein ganz besonderer Preis, der ihm nur persönlich überreicht werden dürfe, daher seien sie gekommen, um ihn zum Ort der Ehrung zu bringen. Die Einladung machte ihn argwöhnisch: Unter den gegebenen Umständen war es befremdlich, dass die Männer so mürrisch dreinschauten und alle identische Trenchcoats trugen. Doch ihm blieb keine Wahl, man brachte ihn sofort zu einem wartenden Auto, und als er eingestiegen war, entdeckte er zu seinem blanken Entsetzen, dass sich die Türen nicht von innen öffnen ließen. Er war von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet worden.
Mit der Begründung, dass er Englisch sprach, wurde mein Vater beschuldigt, ein amerikanischer Spion zu sein. Keiner seiner Familienangehörigen oder Freunde wusste, wo er abgeblieben war, er war wie vom Erdboden verschluckt. Er wurde in ein Gefängnis der Sowjetbehörden geworfen, wo er sechs Jahre in Einzelhaft schmachtete. Er erfuhr nie, warum er verhaftet worden war oder was schließlich zu seiner Freilassung geführt hatte.
Persönliche Informationen zu teilen kann reale, lebensbedrohliche Risiken bergen, weil solche Daten gegen uns verwendet werden können. Tatsächlich wird mir, wenn ich mir diese Gefahren recht überlege, angst und bange, insbesondere weil ich gesehen habe, wie Daten über meinen Vater gesammelt und gegen ihn verwendet wurden.
Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der DDR beantragte ich bei der zuständigen Behörde Akteneinsicht, um herauszufinden, welche Informationen die Stasi während und nach seiner Haft über meinen Vater gesammelt hatte. Ich war nicht der Einzige, der neugierig war, was die ostdeutsche Geheimpolizei über seine Familie wusste; beinahe drei Millionen Menschen haben seit dem Fall der Mauer Einsicht in ihre eigenen Stasi-Unterlagen oder die Akten von Familienangehörigen beantragt.2 Leider erhielt ich von der Stasi-Unterlagenbehörde Bescheid, dass die Unterlagen über meinen Vater offenbar vollständig vernichtet worden waren.
Allerdings entdeckte ich im Umschlag des Antwortschreibens die Fotokopie des Deckblatts einer anderen Stasi-Akte: meiner eigenen. Ich war baff. Es gab also eine Stasi-Akte über mich? Ich war doch nur ein junger Physikstudent. Dennoch hatten die Stasi-Agenten bereits 1979, als ich noch ein Teenager war, damit begonnen, Informationen über mich zu sammeln, und die Akte zuletzt 1987 aktualisiert, dem Jahr nach meinem Umzug in die Vereinigten Staaten. Von meiner Akte war nicht mehr geblieben als das Deckblatt; ich würde nie erfahren, welche Informationen die Stasi über mich gesammelt hatte, warum sie es getan hatte und wozu dieses Wissen, falls überhaupt, verwendet worden war.
Damals, in den Tagen der Stasi, war es ein anstrengendes Geschäft, Informationen über »Bürger von Interesse« zu beschaffen. Zunächst mussten die Daten gesammelt werden, indem man Leute beschattete, sie fotografierte, ihre Post abfing, ihre Freunde befragte und ihre Wohnungen verwanzte. Dann mussten diese Informationen ausgewertet werden, alles per Hand. Es gab so viel Material zu durchforsten, dass zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung hauptamtlich für die Geheimpolizei arbeitete. Doch zur Informationsbeschaffung benötigte die Stasi sogar noch mehr Ressourcen.3 Laut Bundesregierung hatte die DDR schließlich annähernd 200 000 Zuträger, die als »inoffizielle Mitarbeiter« ihre Mitbürger ausspionierten.4
Deckblatt meiner Stasi-Akte
Im Vergleich dazu haben es Datensammler heute leicht. Denken wir nur an einige aufsehenerregende Fälle. Nach vielmonatigen Protesten und Gerichtsprozessen errangen Datenschutzaktivisten in den USA einen kleinen Sieg gegen die Schleppnetzüberwachung von Telefondaten durch die NSA.5 Doch nur wenige Menschen verzichteten während oder nach dem Kampf, als klar wurde, dass die Metadaten ihrer Anrufe womöglich ausgewertet wurden, auf die Nutzung ihrer Handys. Einen Fall immerhin gab es, wo eine Vertriebsmitarbeiterin gegen ihre Entlassung durch ihren Arbeitgeber klagte, weil sie eine App deinstalliert hatte, die sowohl während als auch außerhalb ihrer Arbeitszeit ihre Ortungsdaten speicherte und an ihren Vorgesetzten sandte.6 Als bekannt wurde, dass Facebook untersuchte, wie sich Stimmungen von Mensch zu Mensch verbreiten, gab es viel Empörung um die Frage, ob das Unternehmen die Gefühle seiner Nutzer »manipuliere«.7 Die tatsächliche Nutzung von Facebook änderte sich indessen kaum, und Facebook führte weiterhin ohne vorheriges Einverständnis seiner Nutzer Experimente durch, aus dem einfachen Grund, weil das Experimentieren ein wesentliches Element bei der Gestaltung von Online-Plattformen ist. Und 2015 startete Ant Financial, die Tochter des Internethandelsgiganten Alibaba, in China einen Pilotdienst namens Sesame Credit, der die Kreditwürdigkeit von Personen durch Analyse ihrer individuellen Transaktionen bewertet – so ungefähr, als würde die Kaufhistorie der Amazon-Kunden herangezogen, um zu entscheiden, ob sie sich für einen Kredit qualifizieren.8 Die Bonitätsbewertung wurde rasch in anderen Bereichen übernommen, zum Beispiel als zwar optionales, aber beliebtes Profilfeld einer chinesischen Dating-Plattform.9 Es gibt keine Bewegung, die für die Abschaffung von Mobiltelefonen, E-Mail-Adressen, Navigations-Apps, Konten bei sozialen Medien, Online-Handel oder anderen digitalen Dienstleistungen kämpft. Das Leben ist einfach bequemer mit diesen Technologien.
Der Schock, der in mich fuhr, als ich entdeckte, dass über mich eine Stasi-Akte geführt worden war, hätte mich in einen glühenden Eiferer für den Schutz der Privatsphäre verwandeln können. Weit gefehlt. Tatsächlich sind die Stasi-Unterlagen nichts im Vergleich zu dem, was ich tagein, tagaus freiwillig über mich selbst mitteile.
Seit 2006 veröffentliche ich auf meiner Website jede Vorlesung und Rede, die ich halten werde, und jeden Flug, den ich buche, bis hin zur Nummer meines Sitzplatzes.10 Ich tue dies aus der Überzeugung heraus, dass der reale, greifbare Mehrwert, den wir aus der Mitteilung von Daten über uns ziehen, die Risiken überwiegt. Daten eröffnen Chancen für Entdeckungen und Optimierung. Worauf es ankommt, ist, dass wir Wege finden, um zu gewährleisten, dass die Interessen derjenigen, die unsere Daten nutzen, mit unseren eigenen Interessen im Einklang stehen.
Wie können wir das erreichen? Indem wir verstehen, welche Daten gegenwärtig – und welche wahrscheinlich in naher Zukunft – geteilt werden und wie Datenfirmen unsere Daten analysieren und nutzen. Bei allem nötigen Respekt für Marshall McLuhan: Je mehr die Datenfirmen über jeden Einzelnen von uns speichern, desto stärker existieren wir, und desto mehr können wir über uns selbst erfahren. Die wahren Probleme bestehen darin, wie wir sicherstellen können, dass die Datenfirmen uns gegenüber so transparent sind wie wir gegenüber ihnen und dass wir ein Mitbestimmungsrecht erhalten, wie unsere Daten verwendet werden. Dieses Buch erklärt, wie wir beide Ziele erreichen können.
Anmerkungen
1Marshall McLuhan mit Wilfred Watson, From Cliché to Archetype, Berkeley 2011, S. 13. Die erste Auflage des Buches erschien 1970.
3Vgl. John O. Koehler, Stasi. The Untold Story of the East German Secret Police, Boulder (CO) 1999, S. 8.
4Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, »Was bedeutet eigentlich ›Stasi‹?«,...