Die drei Zeitzonen
Bis vor nicht allzu langer Zeit war es nicht möglich, systematisch und gründlich zu testen, wie das Unbewusste unser Denken und Handeln beeinflusst. Es gab nur wissenschaftliche Theorien, Fallstudien mit klinischen Patienten und uneinheitliche Befunde, die natürlich die Auseinandersetzungen weiter nährten. Der Gedanke, dass der menschliche Geist auch unbewusste Anteile hat und mentale Prozesse stattfinden, die wir nicht wahrnehmen, existiert nicht erst seit Freud.[5] Darwin beispielsweise erwähnt dies wiederholt in seinem Hauptwerk Die Entstehung der Arten im Zusammenhang mit den Bauern und Züchtern seiner Zeit, die die Prinzipien der natürlichen Auslese unbewusst anwandten, um Getreide mit größeren Ähren, fettere Kühe und Schafe mit mehr Wolle zu erzeugen. Sie seien sich, meinte Darwin, nicht bewusst, warum ihr Vorgehen zum Erfolg führte und welche Mechanismen diesem Erfolg zugrunde lagen – vor allem aber wussten sie nicht um die weitreichenderen Implikationen dieser Mechanismen in Bezug auf die christliche Lehre von der übernatürlichen Erschaffung der Welt mit all ihren Tieren und Pflanzen. Etwas später im selben Jahrhundert veröffentlichte Eduard von Hartmann sein Buch Philosophie des Unbewussten, das im Grunde lediglich aus wilden Spekulationen über den menschlichen Geist und seine inneren Funktionsweisen bestand, ohne jegliches Datenmaterial und noch dazu mit einem Mangel an Logik und gesundem Menschenverstand. Dieses Buch wurde sehr populär und befand sich 1884 bereits in der neunten Auflage. William James, einer der Väter der modernen Psychologie, lehnte von Hartmanns Schilderung der unbewussten Regionen des Geistes als völlig unwissenschaftlich ab, veranlasste ihn sogar, das Unbewusste als »schwankenden Boden für menschliche Grillen« zu bezeichnen.[6] Doch nachdem er 20 Jahre später zum ersten Mal Freud begegnet war und einen Vortrag von ihm über die Bedeutung von Träumen gehört hatte, war James von der medizinischen Herangehensweise an das Unbewusste positiv beeindruckt und lobte Freud, seine Arbeit sei die Zukunft der Psychologie.[7] James schätzte Freuds Bemühen, an die Stelle rein gedanklicher Spekulationen genaue klinische Beobachtungen und Interventionen zu setzen, um das Leid und die Symptome seiner Patienten zu lindern.
Doch dann, nur wenige Jahre nach dieser einzigen Begegnung dieser beiden Titanen der Psychologie, wandte sich das naturwissenschaftliche Establishment jener Zeit mit Heftigkeit gegen die Untersuchung geistiger Prozesse und schlug damit hohe Wellen. Was Teilnehmer psychologischer Studien über ihre inneren Vorgänge berichteten, die sogenannte Introspektion, sei keine zuverlässige Beweisquelle, da ein und dieselbe Person in ein und derselben Situation zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches berichte. (Eines der Themen dieses Buchs ist die Tatsache, dass es uns an einem präzisen introspektiven Zugang zu uns selbst mangelt und ebenso an Kenntnissen über die Funktionsweise unseres Geistes[8] – während die Wissenschaftler jener Zeit davon ausgingen, dass ihre Probanden diese korrekt schildern konnten.) Im Jahr 1913 konstatierte daher John B. Watson, die wissenschaftliche Psychologie solle Denken und bewusste Erfahrung überhaupt nicht mehr zum Gegenstand von Untersuchungen machen. Die Folgen waren verheerend. So schrieb Arthur Koestler 1967 in einem Buch mit dem Titel Das Gespenst in der Maschine, einer vernichtenden Kritik am Behaviorismus, Watson und die Behavioristen seien einem kolossalen logischen Fehlschluss unterlegen, der dazu geführt habe, dass das Studium des Geistes für die folgenden 50 Jahre – ob bewusst oder unbewusst – aus der wissenschaftlichen Psychologie ausgeschlossen worden sei. In dieser Zeit seien in den anderen Naturwissenschaften, so Koestler, in krassem Gegensatz dazu enorme Fortschritte erzielt worden.[9] Die vorherrschende »behavioristische« Schule in der Psychologie, wie sie von Watson begründet wurde, behauptete vehement, der Mensch sei ausschließlich das Produkt seiner Umwelt. Was wir sähen, hörten und berührten – und nur wenig mehr –, bestimme unser Handeln. Wir gingen wie Ratten durchs Leben, die lernten, auf einen Hebel zu drücken, um an Futter heranzukommen. Bewusstsein sei eine Illusion, ein Epiphänomen, das uns real erscheine, aber keine wirksame Rolle in unserem Leben spiele. Diese radikale Sicht war natürlich falsch. In den 60er-Jahren kam dann ein neues Paradigma in Mode – die kognitive Psychologie. Deren Vertreter wollten diese Behauptungen widerlegen und zeigen, dass unser Bewusstsein doch zähle. Indem sie uns den freien Willen zurückgaben und heftig gegen den mächtigen, fest etablierten Behaviorismus ankämpften, fielen die kognitiven Psychologen jedoch ins andere Extrem. Unser Verhalten, so erklärten sie, stehe beinahe ständig unter intentionaler und bewusster Kontrolle und werde nur selten durch Reize aus der Umgebung ausgelöst. Aber diese Position ist ebenfalls falsch. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen diesen beiden Polen und lässt sich nur erklären, wenn wir die elementarste Bedingung allen Lebens berücksichtigen – die Zeit.
Die übergreifende Prämisse dieses Buchs lautet, dass der Geist – wie laut Einstein das ganze Universum – gleichzeitig in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existiert. Unsere bewusste Erfahrung ist die Summe dieser drei Aspekte, da sie im Gehirn miteinander interagieren. Doch was die koexistierenden Zeitzonen konstituiert, ist weniger geradlinig, als es den Anschein hat. Vielmehr lässt sich eine Schicht ohne Weiteres identifizieren, die anderen hingegen nicht.
Wir können in jedem Augenblick auf das riesige Archiv unserer gespeicherten Erinnerungen zugreifen, die zum Teil außerordentlich lebhaft sind. Gelegentlich fallen uns Erinnerungen zu, ausgelöst durch eine Assoziation, die uns anspringt und sich vor unserem geistigen Auge entfaltet wie eine Filmszene. Und wenn wir uns die Zeit nehmen, nachzudenken – oder einen neugierigen Partner haben oder eine Therapie machen –, können wir sehen, dass die Vergangenheit unsere gegenwärtigen Gedanken und Handlungen prägt. Unterdessen nehmen wir weiterhin die fortdauernde Gegenwart wahr. In jeder wachen Sekunde erfahren wir das Leben, indem es auf unsere Sinne trifft – Bilder, Gerüche, Geschmack, Klänge, Texturen. Das menschliche Gehirn hat sich so entwickelt, dass wir sinnvoll auf das, was jetzt gerade in unserem Umfeld geschieht, reagieren können. Wir wenden daher eine beträchtliche Menge neuraler Ressourcen auf, um in einer sich ständig verändernden Welt, die wir nicht kontrollieren können, kluge Verhaltensentscheidungen zu treffen. Äonen der Evolution haben die graue Masse zwischen unseren beiden Ohren zu einem erstaunlich komplexen Befehlszentrum geformt. Man denke nur daran, dass das Gehirn eines Menschen im Durchschnitt zwei Prozent seines gesamten Körpergewichts ausmacht, aber etwa 20 Prozent der im Wachzustand verbrauchten Energie verschlingt.[10] (Womöglich möchten Sie jetzt, nachdem Sie darüber nachgedacht haben, gleich etwas essen.)
Unsere erwünschte Zukunft hingegen können wir durchaus steuern. Wir folgen unseren Ambitionen, Wünschen und Maßstäben – sei es eine wichtige Beförderung, ein Traumurlaub, ein Haus für unsere Familie. Wenn wir mit diesen Gedanken spielen, sind sie uns ebenso wenig verborgen wie die Vergangenheit oder die Gegenwart. Wie auch? Wir haben sie schließlich selbst aufgebracht.
Es ist also unbestreitbar, dass uns unsere bewusste Wahrnehmung ein wichtiges, sinnstiftendes Mahl bereitet. Doch in unseren Köpfen geschieht viel, viel mehr als das, was in den drei Zeitzonen unmittelbar sichtbar ist. Wir haben nämlich auch eine verborgene Vergangenheit, eine verborgene Gegenwart und eine verborgene Zukunft, und sie alle beeinflussen uns, ohne dass wir es wissen.
Der menschliche Organismus hat sich unter dem Diktat entwickelt, am Leben zu bleiben und sich fortzupflanzen. Alles andere – Religion, Zivilisation, der progressive Rock der 70er-Jahre – kam später. Das mühsam erworbene Wissen über das Überleben unserer Spezies stellt unsere verborgene Vergangenheit dar und versorgt uns mit unbewussten »Protokollen«, die bis in die Gegenwart bestehen bleiben, obwohl wir natürlich keine persönliche Erinnerung an die unendliche Geschichte unserer Vorfahren haben, in denen diese Protokolle hinterlegt wurden. Wenn beispielsweise ein Bus auf Sie zufährt, können Sie zur Seite springen, und Ihr Nervensystem hilft Ihnen, dies zu tun, ohne dass Sie ihm den Befehl erteilen müssen, Adrenalin auszuschütten. Und wenn sich jemand, zu dem Sie sich hingezogen fühlen, vorbeugt, um Sie zu küssen, wissen Sie, was Sie tun müssen, um den Kuss zu empfangen. Vor einem halben Jahrhundert wies George Miller, Professor in Princeton, darauf hin, dass wir morgens nicht aus dem Bett kämen (was ohnehin oft schon schwer genug ist), wenn wir alles bewusst tun müssten.[11] Wenn Sie entscheiden müssten, welche Muskeln Sie zu diesem Zweck zu bewegen hätten, wären Sie überfordert. In der chaotischen Hektik des Alltags können wir uns nicht den Luxus leisten, in jedem einzelnen Augenblick sorgfältig abzuwägen, wie wir am besten reagieren, aber unsere unbewusst wirkende evolutionäre Vergangenheit liefert uns ein unkompliziertes System, mit dem wir Zeit und Energie sparen. Wie wir bald sehen werden, steuert es aber auch in anderer wichtiger, jedoch weniger deutlicher Hinsicht unser Verhalten – zum Beispiel bei der Partnersuche oder in der...