Einleitung
/s/rebrenica, 11. Juli 1995: Bosnische Serben dringen in die von UN-Truppen besetzte «Schutzzone» im bosnischen Srebrenica ein und verüben ein Massaker, das Europa mit Grauen erfüllt. Fast 8000 bosnische Jungen und Männer fallen ihm zum Opfer. Es handelt sich um das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Singapur, Ende Februar 1995: Der britische Investment-Banker Nick Leeson gerät an den fernöstlichen Wertpapierbörsen in Schwierigkeiten. Seit Jahren hat er hinter dem Rücken seines Arbeitgebers, der britischen Barings Bank, auf eigene Rechnung, aber mit fremdem Kapital spekuliert. Nach einer Serie von Rückschlägen steigt der von ihm akkumulierte Verlust auf ca. 619 Millionen britische Pfund. Die illegalen Machenschaften lassen sich nicht mehr verheimlichen, und Barings, die älteste Privatbank Europas, gegründet 1762, ist pleite – von einem einzigen ihrer leitenden Angestellten in den Ruin getrieben.
Athen, 10. April 2014: Griechenland kehrt wieder an den internationalen Anleihenmarkt zurück, nachdem es dem Staatsbankrott nur durch jahrelange Milliardenhilfen aus der Euro-Zone entgangen ist. Die griechische Regierung ist in der Lage, Staatsanleihen im Wert von ca. drei Milliarden Euro zu einem Zinssatz von 4,75 Prozent zu begeben. Da die Nachfrage nach griechischen Papieren weitaus höher ist, bleibt auch der Zinssatz unter den eigentlich erwarteten 5,0–5,25 Prozent. Ist Griechenland nun gerettet, die Euro-Krise überwunden? Hierüber scheiden sich die Geister in Politik und Öffentlichkeit, auch wenn die meisten darin einen Erfolg für die finanzpolitische Stabilisierungsstrategie der Europäer erkennen.
Odessa, 2. Mai 2014: Eine Auseinandersetzung zwischen pro-russischen Separatisten und ukrainischen Nationalisten eskaliert; die Polizei greift nicht oder nur zögerlich ein, vier Tote bleiben zurück. Pro-ukrainische Demonstranten attackieren daraufhin ein Zeltlager der Separatisten, von denen eine Vielzahl in ein nahes Gewerkschaftsgebäude flüchtet. Das Haus wird belagert, und mehr als 30 Menschen müssen sterben, als es in Brand gesteckt wird. Insgesamt zählt man an diesem Tag 48 Tote in Odessa, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Es bleibt unklar, wer welche Schuld trägt, aber die Gewalt schürt den Hass. Schon ist die Rede von einem «Genozid», während die Ukrainer umgekehrt dem russischen Geheimdienst Provokationen vorwerfen.
Die vier Episoden symbolisieren die Spannweite der jüngsten europäischen Geschichte: Der Kontinent ist abhängig geworden von den Finanzmärkten, auf denen sich hypermoderne Transaktionen vollziehen, möglich geworden nur auf der Basis fortgeschrittener Informationstechnologie – Betrug und Wirtschaftskriminalität inklusive. Zugleich aber lauern gleichsam dunkle Kräfte der Vergangenheit: imperiale Versuchungen und nationalistische Rückfälle, ethnisch-kulturell angetriebener Hass, Gewalt und Blutvergießen. Tatsächlich gehört all dies zur europäischen Gegenwart. Staat und Nation, Gewalt und Kommunikation, Wirtschaft und Kapital, Globalisierung und regionale Identität sind wichtige Leitmotive. Und sie treiben die Paradoxien der jüngsten Entwicklung an: fortschreitende Einheit bei fortbestehender Vielfalt, ja sogar gesteigerter kultureller Differenzierung. Europas jüngste Geschichte bewegt sich innerhalb dieses dialektisch zu verstehenden Spannungsfeldes, das den Rahmen für die folgende Darstellung abgibt.
Trotz aller fortbestehenden Unterschiede ist die europäische Geschichte aber doch von einem mächtigen historischen Trend zur Konvergenz geprägt. Das gemeinsame Europa speist sich aus wachsender Angleichung und steigenden Ähnlichkeiten, immer engeren Verflechtungen und gemeinsamen Erfahrungsschätzen. Vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen mag eine solche Auffassung überraschen. Aber man sollte Angleichung und Konvergenz nicht als linearen, sondern vielmehr als dialektischen, ja paradoxen Prozess begreifen. Denn die in den letzten Jahrzehnten unbestreitbar nachzuweisende europäische Konvergenz erzeugt regelmäßig aus sich selbst heraus gegenläufige Tendenzen; und ebenso regelmäßig wird sie durch Krisendiskurse infrage gestellt. Die Vorstellung vom Aufbau, von der weiteren Integration und Konvergenz Europas ist mithin immer schon durch die gegenläufige Diagnose seines Auseinanderdriftens, seiner Divergenzen, ja Fragmentierung gekennzeichnet und durch die Drohung seines Rückfalls in die Zeit nationaler Egoismen oder sogar in offene Gewalt. Objektive Prozesse wie die Überschuldung Griechenlands und anderer europäischer Staaten werden regelmäßig von einem solchen Krisenszenario begleitet. Mithin besteht eine strukturelle Gleichzeitigkeit zwischen dem unbestreitbaren Trend zur europäischen Konvergenz und den sie in Frage stellenden Gegenkräften.
Keineswegs ist solche Gleichzeitigkeit von Konvergenz und Krise neu in der europäischen Geschichte. Vielmehr steht sie in der Logik einer Pfadabhängigkeit, in der Probleme nur mit den bereits bekannten, schon einmal eingesetzten Werkzeugen gelöst werden können. Vom einmal eingeschlagenen Pfad abzuweichen, ist dagegen angesichts der Folgekosten und des erheblichen Legitimitätsverlustes grundsätzlich nicht mehr möglich. Zwischen der zukunftsgerichteten Vorstellung von Europa, dem gleichzeitig konstruierten Gegenbild von der «Krise» Europas und dem ebenfalls gleichzeitig geäußerten Willen, die Situation durch den erhöhten Einsatz europäischer Mittel – eben durch «mehr Europa» – zu bewältigen, besteht daher ein systemischer Zusammenhang. Insofern besteht die Krise Europas in nichts anderem als in seinem Zusammenwachsen.
Wenngleich sich 25 Jahre nach dem Mauerfall schon längst eine neue «Epoche der Mitlebenden»[1] entfaltet hat, über die auch schon gesicherte zeithistorische Kenntnisse bestehen, so stellt sich dieses Buch durchaus auch den offenen Fragen, die sich einem endgültigen historischen Urteil entziehen. Wie verhält es sich etwa mit dem Stand der postkommunistischen Transformation? Ist die ökonomische Stabilisierung gelungen? Sind, wie in Ungarn, Rückfälle in autoritäre Regierungsformen zu befürchten? Können die ostmittel- und südosteuropäischen Regionen wirtschaftlich und politisch zu ihren westlichen Nachbarn aufschließen und damit ihre 1989 eingeläutete «Rückkehr nach Europa» besiegeln? Wie steht es ferner mit dem Schicksal der sowjetischen Nachfolgestaaten? Entwickelt sich trotz aller Rückschläge eine zivilgesellschaftlich fundierte, demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung mit einer funktionierenden Marktwirtschaft? Oder etabliert sich hier ein eigenständiger, präsidial-autoritärer Typus, der, zumindest gemessen am westlichen Anspruch, langfristige demokratische und zivilgesellschaftliche Defizite aufweist? Wieweit reichen russische Versuche zur imperialen Rekonstruktion und geht von ihnen eine Gefahr für den Frieden in Europa aus? Schließlich die Gretchenfrage: Wie steht es um die europäische Integration? Wie sieht die Zukunft des Euro-Raumes aus? Kann Europa seine aktuelle Schulden- und Vertrauenskrise überwinden?
Ungeachtet solcher noch offener Fragen lassen sich die Hauptlinien der europäischen Geschichte seit 1989 in die Leitbegriffe Demokratisierung und Globalisierung fassen. Schon in den 1970er und 1980er Jahren ließ sich ein weltweit spürbarer Trend zu Demokratie und Freiheit beobachten. In Europa schüttelten Griechenland, Spanien und Portugal ihre autoritären Regime ab; in Lateinamerika kehrten die Militärdiktaturen in Argentinien und Chile zur Demokratie zurück. In Südafrika schaffte Präsident Frederik Willem de Klerk 1989/90 in einem aufsehenerregenden Schritt die Apartheid ab; und in Asien liberalisierte sich der schlafende Riese China unter Deng Xiaoping, wenngleich das Massaker auf dem Tiananmen-Platz am 5. Juni 1989 zu einem Menetekel kommunistischer Repression wurde. Die Umwälzung Osteuropas und der Übergang zur Demokratie in den meisten Ländern fügten sich offenkundig in diesen welthistorischen Entwicklungszusammenhang ein. Auch die Geschichte der europäischen Integration speiste sich im Übrigen aus diesem welthistorischen Kontext. Und seit 1989 hat sich die Europäische Union ihrerseits dafür verbürgt, den Prozess der Demokratisierung in ganz Europa zu fördern.
Praktisch gleichzeitig gewann mit der «Globalisierung» das nachhaltigste Schlagwort der 1990er und 2000er Jahre an Bedeutung. Dabei ist kaum ein anderes zeitgenössisches Thema ähnlich unterschiedlich, ja konträr bewertet worden. Geradezu messianischem Lobpreis stand nicht selten ein Verdammungsurteil entgegen, das praktisch alle Probleme des neuen Europa auf die Globalisierung zurückführte. Andere wiederum betrachteten die Globalisierung als ein bloßes Schlagwort, das sachlich nur wenig aussage, sich dafür aber umso besser als argumentatives Druckmittel eigne, um neoliberal definierte gesellschaftspolitische Interessen diskursiv durchzusetzen. Weit verbreitet ist schließlich die Auffassung, es handle sich bei der «Globalisierung» nicht um...