Einleitung: Aung San Suu Kyi –
Brücke zwischen Ost und West
Tauwetter in Myanmar
Wenn sie durch ihr Land fährt, werfen ihr Anhänger Blumen und Obst zu. Oft bleibt der Konvoi in der Menge stecken, weil so viele Menschen sie von Nahem sehen, sie begrüßen, sie berühren wollen – fast wie ein göttliches Wesen oder zumindest wie einen Popstar.
Kinder singen ihr zu Ehren, Studenten brechen in Tränen aus, wenn sie die Gelegenheit bekommen, ihr eine Frage zu stellen. Der 72-jährige leitende Redakteur der Parteizeitung «D-Wave», Pyapon Ni Lone Oo, schiebt nach unserem Gespräch in Yangon stolz einen dünnen Band mit eigenen Gedichten über den Tisch, in denen er seine Chefin anhimmelt: «Oh, Du Rose, Du die volksliebende Herzblume!» Ein privater Moment in der Öffentlichkeit, ein Spaziergang, ein Einkaufsbummel auf dem Markt sind ihr nicht mehr möglich, ohne dass Menschen herbeiströmen, die sie bewundern.
Im Zentrum Yangons bieten Händler T-Shirts, Becher oder Taschen mit ihrem Porträt feil. Manche Galerien organisieren Ausstellungen von Künstlern, die immer wieder nur eine Frau malen: Aung San Suu Kyi. Ihr Foto findet sich auf Kalendern, Schulheften und Buchdeckeln. Vor der Parteizentrale der «National League for Democracy» (NLD) in der West Shwegondaing Road sind ganze Stapel mit DVDs ihrer Auftritte zu kaufen, daneben Aung-San-Suu-Kyi-Tassen, -Tüten, -Beutel und -Schlüsselanhänger, kleine Statuen und Büsten.
All das erscheint in Yangon wie ein Wunder: Noch vor wenigen Jahren saß Aung San Suu Kyi im Hausarrest. Damals wagte es niemand, ihren Namen laut auszusprechen, schüttete die staatliche Presse Hohn und Spott über sie aus, dichtete ihr Liebesaffären an, warf ihr Nähe zu den Kommunisten und Vaterlandsverrat vor.
Seit 1989 hatte die Militärjunta sie dreimal eingesperrt, ihre Anhänger verhaftet und gefoltert – oft für lächerliche oder konstruierte Vergehen. Es gab in der Regel weder Richter, die sie verurteilten, noch Anwälte, die sie verteidigten. Der Geheimdienst und das Militär allein hatten die Macht, Freiheit zu nehmen und sie wieder zu geben. 2010 zählten Menschenrechtler 2189 politische Häftlinge in 42 Gefängnissen und über 100 Arbeitslagern, im Juli 2014 saßen nach wie vor 70 politische Aktivisten hinter Gittern.[1]
Wer heute in Yangon mit Oppositionspolitikern, kritischen Journalisten oder Wissenschaftlern spricht, begegnet kaum jemandem, der nicht im Gefängnis saß oder ins Exil geflüchtet ist. Unter der burmesischen Junta herrschten weitaus schlimmere Verhältnisse als in anderen Diktaturen dieser Welt: Sie unterdrückte nicht nur die Erwachsenen, sie zwang auch Kinder in ihre Armee. Und sie stahl der Jugend die Chance auf Wissen und Bildung, indem sie auf Monate Schulen und Universitäten verriegelte, weil sie Unruhen der Teenager befürchtete. Nur die KP Chinas hat das während der Kulturrevolution (1966–1976) geschafft.
Über 15 Jahre lang war Aung San Suu Kyi die wichtigste Gefangene der Generäle. Jetzt ist sie frei und sogar Abgeordnete des Parlaments. Über ihre Reden und Auftritte berichten die heimischen Medien. 2010 war das Unerwartete geschehen: Die Militärs, die Myanmar jahrzehntelang mit eiserner Faust regiert hatten, rückten plötzlich beiseite. In jenem Jahr durften die Bürger zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder wählen, und der langjährige Junta-Chef, Senior-General Than Shwe, trat von der politischen Bühne ab. Statt seiner führt Exgeneral Thein Sein mit einer quasizivilen Regierung als Staatspräsident das Land.
Niemand kennt so recht den Grund für das Umschwenken des Militärs. Aung San Suu Kyi glaubt, die fatale wirtschaftliche Lage des Landes sei die Ursache gewesen. Womöglich befürchteten die Generäle aber auch, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Diktatoren in anderen Regionen der Welt. Indem sie rechtzeitig ein klein wenig nachgaben, konnten sie die Kontrolle über das Land und die Geldtöpfe behalten.
Der neue Mann an der Spitze, ein unscheinbarer Herr mit halbrunder Goldrandbrille und schütterem Haar, war einst Infanterie-Generalleutnant, mehr ein Schreibtischsoldat als ein Schlachtenlenker. Er hat eine erstaunliche Verwandlung hinter sich, war er doch seit 1997 Mitglied des Militärregimes, das seine politischen Gegner brutal unterdrückte. Später leitete er die Regierungspartei «Union Solidarity and Development Party» (USDP) und wurde schließlich Premierminister.
Kaum im Amt, ließ er 2010 nicht nur Aung San Suu Kyi, sondern auch Hunderte weitere Dissidenten frei – und schuf so die Voraussetzungen für ein Ende der Isolierung Myanmars und seiner rund 51 Millionen Einwohner. Die USA und die EU strichen Sanktionen. Politiker wie US-Präsident Barack Obama oder Bundespräsident Joachim Gauck, Konzernchefs und die Vertreter von Hilfsorganisationen geben sich seither in der neuen Hauptstadt Naypyidaw die Klinke in die Hand – und alle wollen mit der «Lady» sprechen, wie Aung San Suu Kyi in ihrer Heimat oft genannt wird.
Sie selbst darf seither wieder ins Ausland reisen, ohne fürchten zu müssen, nicht in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Sie wird mit Ehrendoktortiteln, Medaillen und Ehrungen überhäuft, nachdem sie bereits 1991 den Friedensnobelpreis und ein Jahr zuvor den nach dem lange verbannten russischen Regierungskritiker und Atomwissenschaftler benannten Sacharow-Preis «für geistige Freiheit» des Europäischen Parlaments erhalten hatte. 2014 empfing sie während ihres Berlinbesuchs den Internationalen Willy-Brandt-Preis der deutschen Sozialdemokraten.
Ikone der Freiheit
Kein Zweifel: Nur wenige Politiker und Politikerinnen dieser Welt begeistern die Menschen so wie Aung San Suu Kyi. Die Jazzvirtuosen Herbie Hancock und Wayne Shorter spielten das Stück «Aung San Suu Kyi», es gewann 1997 als beste Instrumentalkomposition den Grammy. Die irische Rockgruppe U2 widmete ihr 2000 ein Lied («Walk on»). Die US-Schauspieler George Clooney und Brad Pitt, die Sänger Madonna und Bono warben für ihre Freilassung. Der französische Regisseur Luc Besson setzte ihr 2011 mit dem Film «The Lady» – in der Hauptrolle der malaysische Star Michelle Yeoh – ein Denkmal. Aung San Suu Kyi selbst hat sich den Streifen übrigens nie angesehen.
«Beauty and the Beast in Burma» überschrieb die «New York Review of Books» einen Artikel des britischen Journalisten und Historikers Timothy Garton Ash über die Gegner in diesem Kampf um die Macht in Myanmar – hier eine schöne Oppositionspolitikerin und dort grobe Generäle.[2]
Aung San Suu Kyi fasziniert, weil sie Ost und West auf unnachahmliche Weise verbindet. Sie war mit einem Engländer verheiratet, sie hat in Oxford studiert und in New York gearbeitet. Sie spricht das Englisch der Oberklasse, zum Teil altmodisch und literarisch wie in ihrer Dankesrede für den Friedensnobelpreis – und ist doch Buddhistin durch und durch, philosophiert gerne über die sechs buddhistischen Leiden oder die zehn Tugenden. Eine Brücke zwischen westlicher Demokratie und östlichem Buddhismus zu schlagen, das Wertesystem der Oxford-Universität, nämlich den Respekt «für das Beste in der menschlichen Zivilisation», auf ihr Land zu übertragen – das ist ihr großes Lebensziel.
Obwohl sie so lange im Ausland gelebt hat, ist sie tief verwurzelt in ihrer Heimat. So trägt sie stets den burmesischen Longyi, den langen Rock. Bewunderer zeichnen Aung San Suu Kyi gern als zierlich-fragile, gleichwohl unbeugsame Asiatin mit der Aura der gewaltlosen Entschlossenheit, eine Inkarnation fernöstlicher Duldsamkeit, die Schmerz, Unbill und Erniedrigung für ein hehres Ziel auf sich nimmt.
Die Verbindung zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa brachte sie in ihrer Rede vor dem englischen Parlament mit einem Zitat aus einem Gedicht des englischen Dichters Arthur Hugh Clough (1819–1861) selbst zum Ausdruck: Wenn das Tageslicht anbreche, scheine es durch die östlichen Fenster, «aber zum Westen hin, schau, wie hell das Land ist»![3]
Obwohl sie bereits über 40 Jahre alt war, als sie sich der Politik zuwandte, ist sie schon zu Lebzeiten eine Lichtgestalt. Sie steht in einer Reihe mit dem Südafrikaner Nelson Mandela und dem Dalai Lama, dem religiösen Oberhaupt der Tibeter. Wer von ihr spricht, denkt an den amerikanischen Prediger Martin Luther King oder den tschechischen Dissidenten und späteren Präsidenten Václav Havel.
Aung San Suu Kyi – für viele eine Lichtgestalt. Die Asiatin verkörpert Hoffnung für Millionen.
Es scheint, als verkörpere sie persönlich all die Hoffnungen auf ein besseres Leben in Myanmar. Bewunderer nennen sie «Ikone der Freiheit». Der Sprecher des britischen Unterhauses, John Bercon, erhob sie 2012 zum «Gewissen eines Landes» und zur «Heldin der Menschheit».[4] Sie selbst lehnt Beweihräucherung ab. Eine Ikone stehe oder hänge irgendwo herum, sie aber arbeite hart. Wenn sie «Ikone» genannt werde, könnte leicht der Eindruck entstehen,...