ERSTER TEIL
Geschichte der Geschichtsschreibung
über die Französische Revolution
La Révolution française n’a existé dans sa réalité, dans son langage, dans certaines de ses vérités, qu’un sièle après 1789. Il a fallu un siècle!
Fernand Braudel 1985[15]
Einen Schritt näher treten wir an die Untersuchung der Französischen Revolution heran, wenn wir uns nun mit der bisherigen Erforschung ihrer Geschichte beschäftigen, mit der Geschichte der Geschichtsschreibung über die Französische Revolution. Diese Fragestellung wirkt immer etwas wie Selbstbespiegelung oder Inzucht der Geschichtswissenschaft, längst ist aber ihr großer erkenntnisfördernder Wert zutagegetreten.
Sich nicht mit der bisherigen Literatur auseinanderzusetzen, sie nicht oder nur das allerneueste zur Kenntnis zu nehmen, heißt: flach und einseitig, ohne Berücksichtigung anderer Gesichtspunkte schreiben. Originelle Ideen können sehr alt sein. «Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen», wie Hermann Heimpel einmal gesagt hat.[16] Eine solche Nichtberücksichtigung bedeutet auch, daß man in weit höherem Maße, als einem bewußt ist, die wenige (neueste) Literatur kopiert, die man kennt, – einfach weil man ihre Fragwürdigkeit und Einseitigkeit nicht erkennen kann. Es heißt, daß man sich über seine eigenen Voraussetzungen, über die Voraussetzungen des eigenen Standpunktes nicht klar wird. Ältere Literatur ist in der Geschichtswissenschaft im allgemeinen weit weniger veraltet als etwa in naturwissenschaftlichen Fächern.
Es gibt zwei Grundmuster der Geschichte der Geschichtsschreibung. Das erste ist der Gesichtspunkt des Erkenntnisfortschritts. Mit jeder neuen geschichtswissenschaftlichen Untersuchung wird die Erkenntnis erweitert, ein weiterer unverlierbarer Baustein für das wissenschaftliche Fernziel der Gesamterkenntnis geliefert. Jedes spätere Buch ist in diesem Sinne «besser» als das frühere.
Das andere Grundmuster ist die Einsicht in die starke Zeitgebundenheit aller Geschichtsanschauung – speziell bei einem so großen, umkämpften Problem wie der Französischen Revolution. Danach ist alles relativ; keinem Geschichtswerk, ob früher oder später, ist eigentlich zu trauen. Eberhard Schmitt hat in diesem Sinne die Geschichtsschreibung über die Französische Revolution als ein «Muster für weltanschaulich-ideologisch geprägte Geschichtsschreibung» bezeichnet.[17]
Beide Gesichtspunkte haben etwas Wahres, wenn sie nur nicht ins Extrem getrieben werden und nie der eine über dem anderen mißachtet wird. Natürlich gibt es sachlichen Erkenntnisfortschritt bei aller Zeitgebundenheit und Subjektivität der Historiker. Zeitgebundenheit kann sich sogar positiv für die Erkenntnis eines bisher nicht beachteten Geschichtsbereiches auswirken. Und natürlich gibt es spätere Werke, die schlechter und ärmer sind als die früheren, und gibt es verlorene Erkenntnisse. Es kommt darauf an – und darin liegt das Erkenntnisfördernde einer Geschichte der Geschichtsschreibung –, in jedem Einzelfall Maß und Grad an Zeitgebundenheit und wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt festzustellen.
Ich kann natürlich nur einen kurzen, unvollständigen Überblick geben. Zurücktreten müssen hier die freundlichen oder feindlichen Erklärungsversuche und Analysen der Französischen Revolution durch die Mitlebenden. Diese Versuche sind keine «Geschichte», sie gehen nicht aus auf Faktenschilderung, knüpfen kaum an deren Darstellung an. Das soll nicht heißen, daß sie unbedeutend oder gar wirkungslos gewesen seien. Nur müßte man, wenn man solche Zeitmeinungen oder Zeitanalysen betrachtet, gerechterweise nicht nur Schriften nehmen, sondern auch viele Reden der Revolutionäre selber.
Ich weise nur kurz auf sechs wichtige Schriften hin, die ebensoviele verschiedene politische, philosophische, halbhistorische Erfassungen der Revolution sind:
1. Edmund Burke, ‹Reflections on the Revolution in France›, erstmals im November 1790, dann 1793. Das ist der Ansländer, der Engländer mit der eigenen älteren, «viel besseren» Revolution in der Tasche. Ursprünglich war Burke kein Konservativer, kein Tory, sondern Whig, Liberaler, der durch die Französische Revolution zum konservativen Whig (Old Whig) wird. Er stellt die Tradition der gemäßigten englischen Glorreichen Revolution gegen diese neue radikale französische und deren Anhänger in England. Er stellt damit die organisch sich weiterentwickelnde, traditionsbejahende «Geschichte» gegen abstrakte Freiheitsvorstellungen. Er versucht dabei in sehr beachtlicher Weise, die französischen Geschehnisse durch eine Klassenanalyse aus der jüngsten französischen Entwicklung zu erklären. Burke hatte eine große Wirkung auf England und Deutschland, vor allem in seiner Betonung, daß die Französische Revolution eine französische Angelegenheit sei, nicht etwa eine menschheitsübergreifende.
Im übrigen nenne ich französische Zeitmeinungen:
2. Antoine Barnave, ‹Introduction à la Révolution française›, 1791–92. Dies ist das Fragment eines Vertreters der Nationalversammlung, der als der beste Redner nach Mirabeau galt. Barnave fing radikal an, er wurde dann gemäßigt und schließlich zu einem entschiedenen Verteidiger der konstitutionellen Monarchie in radikaler Zeit. Man klagte ihn darum der Konspiration mit dem König an, worauf er im November 1793 guillotiniert wurde. Er und seine Schrift sind daher von Revolutionsanhängern scheel angesehen worden. Das Fragment wurde überhaupt erst 1843 veröffentlicht, hatte also keine Zeitwirkung und war auch dann wegen seiner materialistischen Strukturanalyse von Gemäßigten nicht geschätzt. Erst neuerdings sieht das anders aus. Man kann sagen, daß Barnave zwischen Montesquieu und Tocqueville steht. Er unternimmt es, die Notwendigkeit der Entwicklung nachzuweisen. Die sozialökonomische Analyse, die vor allem den Aufstieg der Volksschicht mit beweglichem Eigentum betont, ist noch schärfer als die von Burke und ganz anders als sie: nicht zuletzt, weil sie auf ganz Europa bezogen wird.
3. Antoine (Marquis de) Condorcet, ‹Esquisse d’un tableau historique des progrés de l’esprit humain›, 1794 im Gefängnis geschrieben. Condorcet war radikaler als Barnave, galt aber als Anhänger der Girondisten, wurde mit ihnen verfolgt und starb an Gift nach seiner Verhaftung, – nachdem er eines der optimistischsten geschichtsphilosophischen Werke über den menschlichen Fortschritt geschrieben hatte. Die Französische Revolution figuriert darin als bisher höchste Ermöglichung, wird aber sel ber gar nicht beschrieben.
Nun drei französische Gegenrevolutionäre:
4. Joseph de Maistre, ‹Considérations sur la France›, London 1796. Das ist eine religiöse Deutung von großem zeitgenössischem Einfluß. Die Revolution wird als Gottesstrafe für die Unkirchlichkeit der Franzosen gedeutet. Die bösen Menschen der Revolution sind Handlanger der göttlichen Strafe; die ganze Entwicklung wird aber schließlich zum Glanze Frankreichs führen oder zurückführen, zur Rückkehr in eine verbesserte Monarchie. In der Restaurationszeit war der Autor entsprechend politisch tätig, als Royalist und als Vertreter des politischen Klerikalismus.
5. Chateaubriand, ‹Essai sur les révolutions›, London 1797. Chateaubriand sieht die Revolution als eine der vielen typischen Staatskrisen. Die Geschichte besteht für ihn aus solchen immer wiederkehrenden historischen Krisen. Man kann ihn also als den ersten revolutionsvergleichenden Geschichtsdenker betrachten.
6. Abbé Barruel, ‹Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme›, Hamburg 1798. Dieser Abbé ist der Erfinder der Komplott-Theorie. Er sieht die ganze Revolution als ein bewußt vorbereitetes Komplott gegen den bestehenden Staat. Eine internationale «jakobinische», freimaurerische Verschwörung habe sich gegen Frankreich gerichtet, von Voltaire, Diderot bis zu Friedrich dem Großen. Für diese Verschwörungsthese sammelt Barruel «Tatsachen» und «Beweise».
Das sind sechs typische zeitgenössische Deutungen, die übrigens fast alle noch heute irgendwie zu finden sind. Es sind einflußreiche Maßstäbe zum Verständnis bzw. zur Diffamierung der Französischen Revolution, aber, wie gesagt, keine «Geschichte».
Historische, zunächst chronikartige Schilderung der Revolution finden wir bei drei Zeitgenossen:
1. Der ‹Almanach historique de la Révolution française pour l’année 1792› von Rabaut Saint-Etienne. Der Verfasser war Mitglied der Nationalversammlung und Pfarrer. Gegen Burke und anders als Barnave wollte er einfach die politischen Ereignisse darstellen, aber als Apologie des Werks der Verfassungsgebenden Versammlung. Er glaubte, daß mit deren Werk die Revolution nun glücklich beendet und als erfolgreich zu bezeichnen sei, wenn es vielleicht auch noch einige Wolken gäbe. Auch diese Anschauung...