1.
In eigener Sache
Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Julia Onken, und ich war esssüchtig. Jedenfalls würde ich mich, ginge es um Alkoholabhängigkeit, mit solchen Worten vorstellen. Damit geben «trockene» Alkoholiker einen Teil ihrer Lebensproblematik gleich zu Beginn bei einem Treffen anonymer Alkoholiker preis und weisen darauf hin, dass sie sich ihrer Alkoholsucht bewusst sind und sich intensiv damit auseinandergesetzt haben. Wenn sie so offen aussprechen, dass sie Alkoholiker waren, heißt das im Klartext aber auch: «Ich habe keine Lust, irgendetwas vorzutäuschen oder etwas vertuschen zu wollen, ich will niemandem etwas vormachen und mich besser darstellen, als ich bin. Ich spiele mit offenen Karten. Im Moment unterliege ich zwar dieser Sucht nicht, bin aber ständig achtsam.» Und genau das ist es, was ich in diesem Buch sagen möchte. Denn aufgrund meiner eigenen Situation fühle ich mich nicht nur legitimiert, sondern auch befähigt, zum Thema Übergewicht das Wort zu ergreifen.
Mehr als 40 Jahre lang hielt ich mich an irgendwelche Diäten. Mindestens während der Hälfte meines Lebens bildete ich mir ein, übergewichtig zu sein, und oft wiesen messbare und belegbare Daten und vor allem optisch wahrnehmbare Tatsachen darauf hin, dass ich deutlich Übergewicht hatte. Ich bin also eine Fachfrau, was Übergewicht und Diäthalten betrifft. Denn es gibt wohl keine Diät, die ich nicht brav befolgt und durchexerziert hätte. Und mit allen diätischen Bemühungen erzielte ich beachtliche Erfolge, die Pfunde purzelten nur so von mir herunter, und ich war überglücklich. Leider hielt das Glück nicht lange an. In dem Moment, wo ich mir eine Verschnaufpause gönnte und das enge Korsett der Verbote lockerte, hefteten sich die verlorenen Pfunde in Windeseile wieder an mich, und zu meinem großen Leidwesen kamen oft noch ein paar zusätzliche dazu. Ebenso erging es mir mit dem Fasten. Ich lebte mehrere Wochen pro Jahr euphorisch mit null Kalorien, schwebte leichtfüßig und schmetterlingsfroh durch den Tag, vom wunderbaren Gefühl getragen, federleicht zu sein, um hinterher, nach Beendigung der Fastenhochform und mit Rückkehr zur «Normalität», wie eine unförmige Kröte auf dem Boden zu stranden. Wenn ich meine Fastenzeiten zusammenrechne, komme ich locker auf ein Jahr ohne Essen. Ich habe erst im Nachhinein begriffen, dass diese Art zu hungern nicht mit Fasten gleichgesetzt werden kann.
Und da ich mich beruflich mit der menschlichen Psyche beschäftige, lag es auf der Hand, alles, was es an diesbezüglicher Fachliteratur gibt, zu lesen. So habe ich mich in unzähligen psychoanalytischen Sitzungen mit sämtlichen Möglichkeiten psychischer Fehlentwicklungen auseinandergesetzt, den Verlauf meiner eigenen frühkindlichen oralen Phase durchforstet und daraufhin durchsucht, ob ich etwa zu früh abgestillt worden bin oder ob im späteren Entwicklungsverlauf etwas schiefgegangen war. Ebenso habe ich die gesamte Frustrations- und Deprivationspalette, die sich in einem Erwachsenenleben einstellen kann, gewissenhaft analysiert, ob die überflüssigen Pfunde auf Essen als Lustersatz oder andere Ersatzbefriedigungen zurückgeführt werden könnten. Ich bin also hart mit mir ins Gericht gegangen, habe mich auch gefragt: Bilde ich mir meine grundsätzliche Zufriedenheit etwa nur ein, verdränge ich erfolgreich Leere, Angst, Frustration? Ach, ich hätte viel darum gegeben, etwas Handfestes ausfindig machen und sagen zu können: Hier sitzt das Übel, jawohl, das ist es. Aber ich fand nichts, keine psychischen Auffälligkeiten, Abnormitäten oder verdächtige Schmauchspuren unverarbeiteter Kindheitserlebnisse, nicht einmal eine unbefriedigende Sexualität.
Ich tappte also über Jahrzehnte im Dunkeln. Und gleichzeitig führte ich einen Kampf gegen das Übergewicht, den ich ständig verlor. Nur wer selbst einmal in diesem hoffnungslosen Gefecht mit sich selbst stand, weiß, was das bedeutet. Das ganze Leben ist vom Thema Übergewicht beherrscht. Lauscht man etwa dem Gezwitscher der Vögel, schießt sofort der gedankliche Miesmacher ins Hirn, ob die gefiederten Kerlchen wohl auch Gewichtsprobleme haben, sich irgendwann nicht mehr in der Luft halten können und dann bleischwer vom Himmel herabklatschen. Und statt sich an den Vogelstimmen zu erfreuen, landet man unverzüglich wieder in der eigenen Misere. Sitzt man im Kino oder vor dem Fernseher, fahndet das auf winzige Übergewichtshinweise geschulte Auge ausschließlich nach verdächtigen weiblichen Fettschichten, und man denkt, sobald man fündig wird: So schlimm wie bei der ist es bei mir aber noch nicht – gelegentlich wird dann auch noch der Partner mit seinem Urteil hinzugezogen, der sich, längst in solchen Fangfragen erfahren, der eigenen Beurteilung gefälligst anzuschließen hat. Oft jedoch erblasst man vor Neid über soviel lässig gemeiner Schlankheit, die unverblümt zur Schau getragen wird. Die Übergewichtsfolter zieht sich durch sämtliche Lebensbereiche, und je mehr man versucht, davon frei zu werden, um so schlimmer wird es, und gelegentlich fühlt es sich so an, als ob die Schlinge um den Hals immer enger würde. Ich gebe es gerne zu, ich habe auch schon daran gedacht, ob nicht mit einem chirurgischen Eingriff dieser unsäglichen Pein endgültig zu entkommen wäre.
Am meisten habe ich im Sommer gelitten, erstens weil mir die Hitze grundsätzlich zusetzt und schon immer – auch in schlanken Zeiten – zugesetzt hat, und zweitens weil Übergewichtige bei 30 Grad im Schatten in der Regel nicht mehr wissen, was sie anziehen können und am besten das Haus nicht mehr verlassen. Während die Schlanken in kurzen Hosen und mit einem winzigen T-Shirt bekleidet Eis lutschend durch die Gegend schlendern, quälen sich Dicke verschämt und schweißgepeinigt in langen Hosen und möglichst weiträumigen Ballonblusen ab, um die schlimmsten Fettzonen zu verhüllen. An Badebekleidung möchte ich erst gar nicht denken müssen! Als ob sich Modedesigner verschworen hätten, dafür zu sorgen, Übergewichtige von Badestränden grundsätzlich fern zu halten, gibt es keine auch nur etwas ansehnlichen Modelle in größeren Größen, und obwohl sich viele Frauen – schlanke – den Busen operativ mit Silikon vergrößeren lassen, um von Körbchengröße B auf D zu kommen, hört die konfektionierte Badebekleidung strikt bei C auf, das heißt, alles was darüber ist, sprengt den Rahmen. Am besten gehen Übergewichtige nur nachts baden. Zudem haben Frauen, was die Mode ab Größe 44 betrifft, ohnehin nichts zu lachen. Die ausgesuchtesten Scheußlichkeiten werden in großen Größen angeboten, vom großmütterlichen Großgeblumten mit monströsen Abnähern an den falschen Stellen bis zu sack- und zeltartigen Überhängen in plastikpink, gurkengrün, pissgelb oder ochsenblutrot, alles in rüder, liebloser Schnittführung und fantasielos zusammengestoppelt, ganz zu schweigen von den absolut ungastlichen, spröden und luftundurchlässigen Materialien. Als ob das noch nicht genug des Verdrusses wäre, setzen einige Modeunternehmen noch eins drauf. Sie wittern das große Geschäft mit den Dicken und kennen sich in deren Psyche bestens aus. Deshalb schlagen sie bei größeren Größen bis zu einem Viertel des Preises auf. Klar, die Kalkulation geht auf, sie riechen den Braten und wissen, wie sich Übergewichtige in den winzigen Umkleidekabinen fühlen, wenn sie versuchen, sich in eine Hose zu zwängen, die hinten und vorne kneift, klemmt und sie wie eine Wursthaut umgibt. Und plötzlich ist dann ein Kleidungsstück dabei, das sogar passt, und die Dankbarkeit für dieses Himmelsgeschenk kennt sofort keine Grenzen mehr. Heiter und klaglos zahlen die Käuferinnen mit lockerem Handgelenk gerne den überhöhten Preis. Ich weiß nicht, was schwerer zu verkraften ist, die erheblichen Mehrauslagen oder das Gefühl, für dumm verkauft zu werden. Jedes Kind kann selbst im Kopf nachrechnen, dass einige Zentimeter Stoff mehr nicht ein Viertel des Preises ausmachen können.
Mein Leben mit Übergewicht machte mir oft keinen Spaß. Wäre ich nicht mit der Anlage zur Frohnatur ausgestattet, die mir erlaubt, über mich selbst zu lachen, hätte ich wohl irgendwann das Handtuch geworfen. Ich hätte mich einfach in das Unabwendbare gefügt, wäre dabei immer dicker und dicker geworden und läge vielleicht irgendwo auf einem riesigen Bett, weil ich mich nicht mehr auf den Beinen halten und nicht mehr zur Tür hinaus gelangen könnte. Bei Krankheit müsste man mich mit einem Kran über das freigelegte Dach heraushieven und auf einem Lastwagen abtransportieren. Obwohl ich – ganz realistisch gesehen – weit von einer derartigen Möglichkeit entfernt bin, schwebt diese Horrorvorstellung wie ein Damoklesschwert über mir.
Dass ich mich dennoch meines Lebens erfreue, hat vor allem etwas damit zu tun, dass es immer wieder Zeiten gibt, in denen ich mein Problem vergesse, ja, es fällt mir irgendwie aus dem Hirn. Dann ist die Welt plötzlich in Ordnung, und ich freue mich einfach des Lebens und dass ich so bin, wie ich bin. In diesen problemfreien Zeiten meines Daseins...