Vorwort
Wenn in einem der prominenten Top-Jobs gut die Hälfte der dort erfolgreichen Stars aus einer Gruppe von Menschen kommt, deren Vergangenheit eine auffällige Gemeinsamkeit aufweist, dann macht das neugierig. Und wenn es zwischen diesem Spitzenjob und dieser Herkunft auf den ersten Blick ausgesprochen wenig Gemeinsamkeiten zu geben scheint, dann lohnt es sich allemal, genauer hinzuschauen. Jedenfalls erklärt sich die biografische Beziehung zwischen vielen Showstars aus der ersten deutschen Fernsehliga und ihrer kirchlichen Vergangenheit mit Messdienerzeit nicht von selbst. Von den 25–30 Unterhaltungsmoderatoren in den letzten drei Jahrzehnten sagen gut 15 von sich, dass sie früher Messdiener waren. Gibt es eine besondere, bisher unbeachtete Verbindungslinie zwischen Showbiz und Messdienst? Dies war eine Frage, die auch bei mir als ehemaligem Programmentscheider im ZDF irgendwann einmal aufkam. Sicher keine zentrale oder strategisch bedeutsame Frage. Sie stellte sich mehr aus programmpsychologischer Verwunderung. Der Gegensatz zwischen beiden Tätigkeiten könnte – prima vista – ja kaum größer sein. Hier das glamouröse Entertainment mit dem Millionenpublikum und dem roten Teppich, mit den gefeierten Stars und den großen Schlagzeilen – dort ein eigentümlich zurückgenommener, fast verschroben wirkender Zirkel junger Menschen mit geheimnisvoll anmutenden Spezialaufgaben für Gottesdienst und religiöse Zeremonien.
Was steckt hinter einem solchen Zusammenhang, der seit den 80er Jahren nicht nur Programminsider erstaunt? Welche heimliche Verbindungslinie existiert zwischen den Altarstufen und der Showbühne? Was hat eine solche Karriere mit einer religiös grundierten Kindheit zu tun, die die ehemaligen Messdiener auf der Showbühne als gemeinsamen Ausgangspunkt bezeichnen? Steckt in der katholischen Kindheit eine spezifische Lust und List und eine Kraft, die erklärbar macht, dass eine solche Vergangenheit als eine besonders geeignete Startrampe für den Erfolg im Showbiz taugt?
Das wäre dann eine neue Sicht der Dinge. Bis vor noch gar nicht so langer Zeit war es in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ziemlich klar, dass eine kirchliche Kindheit, ob katholisch oder evangelisch, durchaus kritisch zu sehen ist. Der evangelisch sozialisierte Psychoanalytiker Tilmann Moser hat es in dem extremen Bild der »Gottesvergiftung« drastisch so formuliert: »Kirchliche Kindheit ist kindliches Unglück.« Moser beschreibt seine in der Kindheit anerzogene Religiosität als Krankheit und als eine Fessel, die die Entwicklung eines wirklichen und gelingenden Lebens behindert und zu Neurosen führt. Dieses Deutungsmuster hat lange für den öffentlichen Disput eine Art Deutungshoheit besessen.
In Diskussionen über kirchlich geprägte Kindheiten war, wenn es um katholische Zusammenhänge ging, das Amt und der Begriff des Messdieners in besonderem Maße exemplarisch. Wer in der säkularen Welt von sich sagt, er sei Ministrant gewesen, galt eher als sonderbar. Ein Messdiener galt als eher harmloser und argloser Zeitgenosse, der noch nicht viel weiß vom Leben. »Oberministrant« gar war ein anderes Wort für jemand, der sich mit einem falschen Leben aufspreizt.
Immerhin: Im letzten Jahrzehnt hat sich das Klima um die Einschätzung religiöser Fragen etwas gedreht. Glaube und Spiritualität, die Fragen nach der eigenen Herkunft, nach dem Sinn der eigenen Existenz haben einen neuen Stellenwert. Eine ganze Reihe von Ereignissen haben nach der Jahrtausendwende so etwas wie die »Rückkehr der religiösen Frage« begründet: die zugespitzte Auseinandersetzung mit dem Islam, die Beschäftigung mit dem Buddhismus, die weltweite Aufmerksamkeit um das öffentliche Sterben des polnischen Papstes, später der ganz neue Papst Franziskus. Indikator und Symptom eines neuen Denkens war auch der sensationelle Erfolg des Pilgerbuchs von Hape Kerkeling mit seinen Erzählungen vom lieben Gott und dem Glauben an ihn.
Seit 2005 sprechen Umfragen davon, dass es eine Art »Wiederkehr des Religiösen« gibt. Nur wenig von dem, was zu dieser »Renaissance der Religion« gehört, zahlt allerdings auf das Konto der Kirchen ein. Bis heute gibt es eine unverminderte Austrittswelle, die durch Missbrauchsskandale und Kommunikationsversagen zugleich befeuert wird. Aber Religion und Spiritualität werden zu Beginn des neuen Jahrtausends wieder ein gesellschaftlich akzeptiertes Thema. Ein Nebeneffekt dessen, dass auch das Interesse an den Besonderheiten einer kirchlichen Kindheit mit Taufe und Kommunion bzw. Konfirmation wieder zunimmt, ist ein neues Interesse auch an der bunten Existenz der Messdiener-Gruppen. Gänzlich ironiefrei spricht die »Süddeutsche Zeitung« vom Ministrantendienst als einer »Schule des Lebens«. Die Argumentation folgt einer neuen Erfahrung. Wie könnte man ansonsten erklären, fragt die Zeitung, warum so viele Politiker, Spitzensportler, Schauspieler, Kabarettisten und Künstler der Öffentlichkeit kundtun, dass sie einmal Messdiener waren? Anders als noch Jahre zuvor macht man jetzt fröhlich öffentlich, dass man doch gerne bei diesem »Club« war, bei dem man zum ersten Mal seinen öffentlichen Auftritt und auch erstmals öffentliche Anerkennung erfahren hatte. Ein solcher Stolz folgt freilich einer ziemlich eigenen Logik.
Nirgendwo in der Gesellschaft wird einer so großen Gruppe von so jungen Menschen so früh und so selbstverständlich zugetraut, eine solche Breite an Aufgaben, Funktionen und Tätigkeiten zu übernehmen wie im katholischen Gottesdienst. Und nirgendwo gibt es für Kinder und Jugendliche so früh die Chance, vor erwachsenen Menschen ihren eigenen Auftritt zu gestalten, mit klaren Rollenzuweisungen und wichtigen Funktionen. Sie sind dann Teil einer vorgegebenen, festgelegten Dramaturgie, die viele Facetten menschlicher Emotionen kennt: bewegend feierlich wie etwa in der Osterliturgie, düster und mitleidend wie in der Fastenzeit, adventlich getragen und in tausend Kerzen getaucht vor und um Weihnachten.
Fast 500000 junge Menschen in Deutschland, 50000 in Österreich und 35000 in der deutschsprachigen Schweiz sind bei diesem Dienst dabei. Dass es derzeit wieder mehr Messdiener gibt als in den letzten Jahren, hängt auch damit zusammen, dass es jetzt überall üblich ist, dass auch Mädchen am Altar stehen dürfen: eine revolutionäre Veränderung für den Altardienst in der katholischen Kirche, wenn man bedenkt, dass die »Akolythen« – wie die Messdiener früher hießen – über ein Jahrtausend lang eine Vorstufe zum Priesteramt bildeten. Das alte Idealbild der Kleriker-Ministranten hat sich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen im Prinzip bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts gehalten.
In der Nachkriegsgeneration, ab 1950 bis Mitte der 60er Jahre, erlebt ein neuer Typus des Gemeindemessdieners eine bis dahin ungekannte Konjunktur: Fast jeder getaufte Junge, der bei der Erstkommunion war, sollte, konnte und wollte jetzt Messdiener werden. Und dafür hatte sich auch längst eine klare Hierarchie-Vorstellung unter den Ministranten herausgebildet. Es ist eine ganz eigene interne Karriereleiter. Und für jede Stufe gab es eine Aufstiegsmöglichkeit, die mit einem lateinischen Titel umschrieben war. Der Anfänger, der die Kerzen trug, war der Ceroferar, wer als Assistent des zelebrierenden Priesters den Altardienst besorgte, war der Akolyth. Der legendäre Rauchfass-Schwenker, der bei den feierlichen Hochämtern und bei Prozessionen dem liturgischen Geschehen eine besondere Note zu geben hatte, war der Thurifer. Und der, der die Fürbitten und die Lesung vortragen durfte, war der Lektor. Dazwischen gab es noch die Stufe des Fahnenträgers und, wenn man ganz oben angekommen war, die dirigierende Funktion des Zeremoniars, der die anderen anleitete. Das ist für junge Leute vor und in der Pubertät eine steile Nomenklatur, die früher durch die lateinische Sprachgestalt der Gebete und Antwortrituale mit zungenbrecherischen Wortkaskaden noch überhöht wurde.
All dies machte aus manchen frommen Messdienergruppen einen stolzen, seiner besonderen Bedeutung und Stellung bisweilen sehr bewussten und darum ziemlich geschlossenen Zirkel. Mit dem langsamen Niedergang der Volkskirche wurde jedoch in vielen Gemeinden der selbstbewusste Kreis mit seinen vielen Funktionen eher zur Kleingruppe. Die Anzahl und das Ansehen der »Minis« gingen Ende der 70er und in den 80er Jahren deutlich zurück. In der Öffentlichkeit setzte ein Reputationsknick ein. Wer freiwillig dabeiblieb, sah sich in seiner Rolle von der Gesellschaft eher belächelt – so, als wenn er noch nicht den Anschluss an die Moderne gefunden hätte.
Das neue Klima in der Bewertung religiöser Fragen Anfang des neuen Jahrhunderts, die Renaissance von Religion und Glaube bringt dann aber auch eine Veränderung im Selbstwertgefühl der Messdiener: Der Ministrant im roten Talar ist bei den Inszenierungen der Weltjugendtage und der großen, jetzt live im Fernsehen übertragenen Feierlichkeiten der Weltkirche ein besonderer Hingucker. Die Öffentlichkeit wird wieder aufmerksam auf diese Messdiener, die lange Zeit vom Radar der breiten Wahrnehmung verschwunden waren. Man wird neugierig auf diesen Verein, zu dem...