1 DEPRESSION: INNENANSICHT
Wie empfindet man eine Depression? Was geht in Kopf und Körper Ihres Partners, Kindes oder Elternteils vor?
Möglicherweise stellen Sie sich diese Frage auch immer wieder, da Sie nicht verstehen können, warum Ihr Angehöriger sich jetzt so anders verhält als früher.
Wenn Sie selbst nie eine Depression hatten, kann Ihnen das Wissen darüber helfen, was Ihr Angehöriger erleidet. Mit diesem Wissen werden Sie mehr Verständnis für ihn aufbringen und ihn auch besser unterstützen können.
Ich werde das Erleben einer Depression zu skizzieren versuchen, indem ich deren Symptome eines nach dem anderen erkläre. Vorsorglich weise ich schon einmal darauf hin, dass dies kein ermunternder Lesestoff ist, und rate Ihnen, lieber nur in Etappen zu lesen: Ein Kapitel in einem Zuge durchzulesen wird Ihrer Stimmung nicht gerade guttun!
Zunächst aber noch zwei Bemerkungen vorweg – die erste, Thema des folgenden Abschnitts, über die Schwierigkeit, treffende Worte für die Beschreibung des Depressionserlebens zu finden, die zweite, Thema des darauf folgenden Abschnitts, über die vielen Gesichter der Depression.
Depression ist unerklärbar
Es ist eine nahezu unlösbare Aufgabe zu beschreiben, wie man eine Depression empfindet. »Erfahrene Psychiater sagen, dass man bei langer Erfahrung eine Schizophrenie einigermaßen nachvollziehen könne, eine tiefe von innen heraus aufsteigende Depression, eine Melancholie, dagegen könne man nicht nachfühlen« (Manfred Lütz 2009).
Selbst Schriftsteller, die eine Depression erlitten haben, spüren immer wieder, dass Worte für die Beschreibung des Erlebens einer Depression nicht ausreichen.
Der Schriftsteller Rogi Wieg, durch eigenes Erleben sachkundig, schreibt darüber:
Was ist das für eine Krankheit? Eine Krankheit, die sich in Unerklärbarkeit, in Unvergleichlichkeit hüllt. Die Depression reduziert die Sprache zu bedeutungslosem Gebrabbel. Wenn man versucht zu erklären, wie sich eine major depression anfühlt, werden die Worte von ihrem eigenen Gewicht zerdrückt und vom Zuhörer nicht verstanden. Platt gewalzte Worte über … Ja, worüber? Desinteresse, Abgestumpftheit. Über Depression zu sprechen bedeutet, über die plötzliche Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens zu klagen und dabei nicht zu verstehen, wie es möglich ist, sich mitten in der Bedeutungslosigkeit zu befinden.
(Rogi Wieg 2003)
Depression fällt in ein Erfahrungsgebiet, für das Worte nicht ausreichen. Es ähnelt einem Gelände, das von einem unüberwindlichen Zaun eingegrenzt wird, an dem ein Schild hängt mit der Aufschrift: EINTRITT VERBOTEN FÜR NORMALE KOMMUNIKATION. Der Schriftsteller William Styron (vor allem durch das verfilmte Buch Sophies Entscheidung bekannt), der im Alter eine Depression bekam, drückte es so aus: »Das Leiden, das eine schwere Depression mit sich bringt, ist für Nichtbetroffene unvorstellbar. Für die meisten Menschen, die darunter gelitten haben, ist ihre Schrecklichkeit so überwältigend, dass es praktisch nicht auszudrücken ist« (William Styron 2010).
Dieses Buch benutzt Worte zur Vermittlung; die Beschreibung der Depression kann daher nicht anders als unzulänglich sein. Denn wenn es sogar jenen Schriftstellern, die selbst eine Depression erlebt haben, nicht gelingt, treffend auszudrücken, wie man sich damit fühlt, wäre es für mich – der weder Schriftsteller ist noch eine Depression erlebt hat – anmaßend, eine Depression von innen heraus beschreiben zu wollen. Ich werde jedoch versuchen, das Erleben einer Depression aufgrund meiner Kenntnis und Erfahrung als Psychologe und anhand der Fachliteratur zu skizzieren. Um den Lesern einen möglichst lebensechten Eindruck der Krankheit zu verschaffen, werde ich hier und da Patienten zitieren, die ich behandeln durfte, Aussagen von bekannten und weniger bekannten Patienten aus Zeitungen und Zeitschriften wiedergeben und Zitate aus Romanen anführen.
Die tausend Gesichter der Depression
Keine einzige Depression ist genau wie die andere. Die Depression ist ein Syndrom, d. h. ein Krankheitsbild, das sich aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer Symptome ergibt.
Von den neun Symptomen aus dem unten stehenden Kasten müssen wenigstens fünf vorhanden sein und zusätzlich mindestens eines der beiden ersten Symptome.
Merkmale einer depressiven Störung
Trübe, niedergedrückte Stimmung; Gefühl von innerer Leere
Verlust von Interesse und Lebensfreude
Gefühle von Wertlosigkeit oder Schuldgefühle
Schlafstörungen
Verringerter oder größerer Appetit oder deutliche Gewichtsveränderung
Energiemangel oder Müdigkeit
Trägheit oder im Gegenteil anhaltende körperliche Unruhe
Konzentrationsprobleme oder Entscheidungsunfähigkeit
Wiederholte Gedanken an den Tod oder an Selbsttötung
Ihr Angehöriger muss also nicht unter sämtlichen Erscheinungen leiden, die Teil einer Depression sein können. Vielleicht hat er keine Schlafprobleme, ist aber sehr wohl schwunglos und sehr niedergeschlagen. Mit den neun Symptomen der Depression sind zahllose Kombinationen möglich. Es können sogar zwei Patienten eine Depression haben, ohne dass auch nur ein einziges Symptom bei ihnen übereinstimmt. Das liegt unter anderem auch daran, dass bestimmte Symptome sich auf gegensätzliche Weise äußern können: Man kann zu wenig oder im Gegenteil zu viel schlafen, abnehmen oder zunehmen, wenig Appetit oder gerade mehr haben, träge oder erregt sein, Konzentrationsstörungen haben oder entscheidungsunfähig sein.
Darüber hinaus kann auch die Intensität der Erscheinungen je nach Person variieren. Man kann in höherem oder geringerem Maß Essprobleme, leichte oder schwere Konzentrationsprobleme haben und so weiter. Und die Intensität der Gefühle beeinflusst das Erleben direkt: Trübe Stimmung ist bei einer leichten Depression von ganz anderer Art als bei einer schweren. Im ersten Fall kann der Betroffene noch weinen – im zweiten ist er so erstarrt, dass er nicht einmal mehr seinen Trübsinn wirklich spüren kann.
Und schließlich erlebt auch noch jeder die Beschwerden auf eine andere Art. Der eine findet es schrecklich, sich nicht richtig konzentrieren zu können – ein anderer regt sich darüber kaum auf, quält sich jedoch stark damit, den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung zur Last zu fallen.
Jede Depression ist also anders. Man kann gewissermaßen sagen, dass es so viele Depressionen wie Depressionspatienten gibt. Es ist gut, sich dies klarzumachen, ehe Sie die weitere Beschreibung der Symptome lesen.
Trübe Stimmung
Neben dem Verlust der Genussfähigkeit ist eine niedergeschlagene Stimmung eines der Hauptmerkmale einer Depression; so wird die Krankheit auch mit dem Begriff »krankhafter Trübsinn« bezeichnet. Ein Betroffener wird das Wort »trübsinnig« wahrscheinlich nicht benutzen, sondern eher Umschreibungen wählen wie etwa: »Ich fühle mich schrecklich mies«, »Ich sitze in einem tiefen Loch«, »Ein Grauschleier liegt über allem«, »Es ist, als liege eine dunkle Decke über mir« oder »Ich kann den Weg zum Licht und zur Fröhlichkeit nicht mehr finden«.
Der Trübsinn muss nicht tagein, tagaus auf ein und dieselbe Weise in Erscheinung treten. In den meisten Fällen ist die Depressivität morgens heftiger als abends. Ein depressiver Mensch hat dann jeden Tag große Startprobleme; er würde sich am liebsten die Decke über die Ohren ziehen und liegen bleiben.
So erlebte es der deutsche Volksmusikstar Heino, der mit 68 Jahren eine Depression bekam:
Da hatte ich meinen seelischen Tiefpunkt erreicht. Mich konnte nichts mehr aufmuntern. Nachdem ich morgens aufgestanden war, wollte ich mich gleich wieder hinlegen.
(Heino 2008)
Manchmal trifft jedoch genau das Gegenteil zu: Man fühlt sich morgens besser und gleitet stimmungsmäßig ab, je weiter der Tag fortschreitet.
Zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass Sie sich wahrscheinlich immer wieder fragen, was Ihr depressiver Angehöriger fühlt. Möglicherweise hielten Sie diese Frage für unangebracht, da Sie bei dem Wort »Depression« automatisch an eine Phase in Ihrem eigenen Leben denken, in der Sie es selbst schwer hatten, und darum zu wissen meinen, was in Ihrem depressiven Angehörigen vorgeht. Sollte Ihre Stimmung in jener Periode jedoch wegen eines traurigen Ereignisses in Ihrem Leben gesunken sein, so haben Sie eine Periode von Trauer durchlebt. In diesem Fall war Ihre Reaktion normal und hatte mit einer Depression nichts zu tun.
Der Trübsinn einer Depression ist nicht zu vergleichen mit dem Trübsinn der Trauer und ebenso wenig mit dem Trübsinn einer depressiven Verstimmung, die wir alle einmal durchmachen. Ein Mensch mit einer schweren Depression empfindet vor allem Leere. Als ich einen meiner depressiven Patienten fragte, was er fühle, sagte er: »Wenn man sich aus einem bestimmten Grund sehr trübsinnig fühlt, ist das schlimm. Aber dann fühlt man wenigstens noch etwas. Bei einer (schweren) Depression fühlt man nichts, und das ist um vieles schlimmer. Es ist, als stehe eine gläserne Wand zwischen mir und meinen Gefühlen.« Es dauerte eine Weile, ehe ich verstand, was er damit meinte. Ich begriff es erst – ein wenig! –, als mir eine Erinnerung an ein Jahre zurückliegendes Ereignis zu Hilfe kam:
Mit siebenundzwanzig Jahren verliebte ich mich in Nelleke, ein Mädchen, das sechs Jahre jünger war als ich und...