Kapitel 1
Mythen und Fakten über Depression und Burnout
Depression ist nicht die Ursache für Traurigkeit und Verzweiflung. Es ist nur ein Name, eine Bezeichnung, unter der wir eine Gruppe von Patienten mit ähnlichen Symptomen zusammengefasst haben, um alle mit denselben Medikamenten behandeln zu können.
Du hast Depressionen, also nimm Antidepressiva –
Fall abgeschlossen, der Nächste bitte.
Dr. Mark Hyman
Dieses Zitat des amerikanischen Arztes und Bestsellerautors Dr. Mark Hyman beschreibt sehr treffend, warum eine der gängigsten Behandlungsmethoden von Depressionen häufig nicht den gewünschten Effekt zeigt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wird dieselbe Medikamentengruppe auch noch gegen Burnout, Angst-, Ess- und Schlafstörungen, chronische Schmerzen, Bandscheibenvorfälle, stressbedingte Blasenschwäche, vorzeitigen Samenerguss sowie etliche weitere psychische und körperliche Probleme verschrieben.
So reizvoll der Gedanke auch sein mag, durch die Manipulation einiger Neurotransmitter im Gehirn gleich Dutzende von Krankheiten behandeln zu können, so weltfremd ist er gleichzeitig. Denn nur selten lässt sich eine der genannten Krankheiten auf jeweils nur einen einzigen Auslöser reduzieren. Vielmehr haben wir es mit psychischen und körperlichen Reaktionen auf unterschiedlichste Mangelerscheinungen und Stresssituationen zu tun. Neben Psychotherapie und der Veränderung belastender Lebensumstände gibt es noch viele weitere Möglichkeiten, die ebenfalls hilfreich und wichtig sein können. So nutzen die einen bestimmte Mentaltechniken, um aus der Spirale des negativen Grübelns auszusteigen, während anderen schon mehr Bewegung und Sonnenlicht reicht, um wieder ins Lot zu kommen. Zudem gibt es erstaunlich viele Menschen, die auf Medikamente oder bestimmte Lebensmittel paradox reagieren. Selbst ein Mangel oder ein Überschuss an bestimmten Spurenelementen kann zu Depressionen, Ängsten und Burnout führen. Das Gleiche gilt für unerkannte Entzündungen im Körper sowie einen gestörten Zellstoffwechsel infolge eines Halswirbelsäulentraumas. Wer all diese unterschiedlichen Auslöser einfach nur mit ein paar Pillen behandeln möchte, der ignoriert häufig nicht nur die eigentlichen Ursachen der Erkrankung, er provoziert sogar das Auftauchen weiterer, teils schwerwiegender Probleme.
Egal ob es um Antidepressiva, Betablocker, Beruhigungsmittel, Tabletten gegen Übelkeit oder irgendein anderes Medikament geht, viel zu häufig werden nur die Symptome behandelt, während die eigentlichen Ursachen unerkannt bleiben. So wie es herzlich wenig hilft, bei einem Wohnungsbrand lediglich das nervige Piepsen des Rauchmelders auszuschalten, während die Wohnung weiter abbrennt, verhält es sich auch hier. Erst wer erkennt, wann es sich nur um Symptome handelt (Rauchmelder) und wo die wahren Ursachen von Depression oder Burnout liegen (Wohnungsbrand), kann verhindern, dass seelische Probleme immer wieder auflodern.
Dafür ist es unter Umständen nötig, den ein oder anderen gut gemeinten Rat mit etwas Skepsis zu betrachten. Immerhin kam es in der Geschichte der Medizin schon des Öfteren vor, dass scheinbar bewährte Verfahrensweisen sich später als falsch und sogar schädlich herausgestellt haben. So beginnt das Problem bereits bei der Unterscheidung von Burnout und Depression. Selbst Experten sind sich manchmal nicht einig, wann man vom einen und wann vom anderen spricht. Typische Burnout-Symptome sind zum Beispiel: Niedergeschlagenheit, Interessenverlust, mangelnde Konzentration und Antriebslosigkeit. Doch genau dieselben Symptome finden sich auch bei depressiven Menschen. Ist Burnout also nur ein »schickerer« Name für eine Depression, wie viele behaupten? Keineswegs, weswegen ich auch nur dringend davon abraten kann, beide gleich zu behandeln.
1.1 Die psychischen Auslöser von Burnout und Depression sind grundverschieden
In unserer Praxis begegnen mir vor allem zwei Typen von Menschen: Die einen erkranken mehr oder weniger direkt an einer Depression, während die anderen erst über den Umweg eines Burnout-Syndroms in die Depression abrutschen. Dieser kleine, aber feine Unterschied scheint manchen Ärzten nicht weiter wichtig zu sein, denn schließlich hat es sich ja eingebürgert, in beiden Fällen dieselben Psychopharmaka zu verordnen. Für mich ist dieser Unterschied jedoch einer der wichtigsten Schlüssel zur schnellen Genesung. Vor allem, wenn das seelische Tief vorrangig durch psychische Auslöser – also eine bestimmte Art des Denkens – verursacht wurde, sollten Menschen mit Burnout völlig anders behandelt werden als Menschen mit Depression. Wobei erschwerend hinzukommt, dass viele Depressive anfangs gar nicht realisieren, dass sie zuvor ein Burnout-Syndrom hatten. Dies wird oft erst durch gezielte Fragen während einer Therapie klar, auf die ich später noch ausführlich eingehen werde.
Zweckpessimist oder Perfektionist?
Jemand, der direkt an einer Depression erkrankt (die nicht durch Medikamente ausgelöst wurde), denkt in der Regel völlig anders als jemand, der zuerst im Burnout landet. Der Erste neigt mehr zum Zweckpessimismus, während der Zweite eher perfektionistisch veranlagt ist. Sollten Sie beide Eigenschaften in sich vereinen, so können Sie im folgenden kleinen Test herausfinden, wohin Sie mehr tendieren. Und selbst wenn Zweckpessimismus und Perfektionismus sich bei Ihnen perfekt die Waage halten, ist das nicht weiter tragisch. In diesem Fall können Sie nämlich gleich doppelt von diesem Buch profitieren, da sowohl die Techniken gegen Depression als auch gegen Burnout für Sie geeignet sind.
Und so können Sie herausfinden, ob Sie eher zu Zweckpessimismus oder zu Perfektionismus neigen. Beantworten Sie bitte folgende vier Fragen mit JA oder NEIN:
- Hatten Sie bereits ein oder sogar mehrere traumatische Erlebnisse, die Ihnen nachhaltig zu schaffen machen?
- Neigen Sie auf Grund Ihrer Erziehung und Ihrer bisherigen Lebenserfahrung dazu, übervorsichtig und kritisch zu sein?
- Pflegen Sie ein »gesundes« Misstrauen dem Staat, Behörden, Medizinern, Medien, Konzernen oder auch bestimmten Gesellschaftsschichten gegenüber?
- Sind Sie ständig wachsam und darauf vorbereitet, »mal wieder« enttäuscht zu werden?
Falls Sie mindestens drei dieser Fragen mit JA beantwortet haben, sind Sie tendenziell eher ein Zweckpessimist, und daran ist erst mal auch nichts verkehrt. Ihre bisher gemachten Erfahrungen haben Sie geprägt, und somit ist absolut nachvollziehbar, dass es Ihnen manchmal schwerfällt, positiv in die Zukunft zu blicken.
Doch Vorsicht: So gerechtfertigt Ihr Zweckpessimismus in einer bestimmten Lebensphase auch gewesen sein mag, je länger Sie daran festhalten, umso höher ist der Preis, den Sie dafür zahlen müssen.
Denn auch wenn Sie sich das nur schwer vorstellen können: Eine permanente negative Erwartungshaltung verändert im wahrsten Sinne des Wortes die Struktur Ihres Gehirns. Dieses wird dann aufgrund seiner Neuroplastizität (dazu später mehr) immer leistungsfähiger darin, Negatives wahrzunehmen. Zeitgleich baut sich jedoch auch die Fähigkeit ab, positive Erfahrungen zu verarbeiten. Dass es dabei wirklich zu biologischen Veränderungen im Gehirn kommt, wurde übrigens bereits durch eine ganze Reihe von Studien bewiesen.1 Doch keine Sorge, es gibt ein paar einfache Techniken, auf die ich später noch eingehen werde, mit denen sich solche negativen Veränderungen auch wieder rückgängig machen lassen.
»SO NEGATIV bin ich doch gar nicht eingestellt!«
Diesen Satz höre ich ständig von Patienten, die ich mit ihrem offensichtlichen Zweckpessimismus konfrontiere. Häufig gefolgt von dem Zusatz: »Fragen Sie doch meine Familie, ich beschwere mich so gut wie nie!« Und das stimmt auch in vielen Fällen, denn es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was Zweckpessimisten sagen, und dem, was sie wirklich denken. Fragt man diese Menschen, wie es ihnen geht, hört man regelmäßig: Alles gut! Doch damit spielen sie sich und ihrer Umwelt nur eine Rolle vor. Denn tatsächlich haben die Betroffenen unterbewusst eher Gedanken wie diesen:
»Ich bin erschöpft, und mir ist alles zu viel.
Selbst die Frage, wie’s mir geht, stresst mich schon.«
Also geben sie lieber eine Antwort, die möglichst keine weiteren Nachfragen produziert. Und was eignet sich dafür besser als: Alles gut, alles bestens oder passt schon? Wie aber sollen andere angemessen reagieren und solche Menschen zum Beispiel in einer bestimmten Situation entlasten, wenn sie gar nicht wissen, wie es ihnen wirklich geht? Stattdessen wird in bester Absicht versucht, so lange wie möglich »zu funktionieren«. Besonders schlimm wird es übrigens, wenn sich zum Verbergen der wahren Gefühle auch noch Gedanken wie diese gesellen:
»Du kannst mir doch eh nicht helfen,
also wozu dich auch noch belasten?«
Oder auch:
»Wenn er mich wirklich lieben würde, dann
müsste er doch merken, wie schlecht es mir geht.«
Wenn zur Überforderung auch noch das Gefühl der Einsamkeit hinzukommt, dann ist das Abrutschen in eine Depression nur noch eine Frage der Zeit. Doch so weit muss es nicht kommen, denn solche Gedanken basieren zum Glück häufig nur auf »falschen Glaubenssätzen«. Was damit gemeint ist, und vor allem, was man dagegen tun kann, erfahren Sie in Kapitel 3.
Wer zum Burnout tendiert, denkt anders
Menschen, die zum Burnout neigen, sind...