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Der Balkan im 20. Jahrhundert

Eine postimperiale Geschichte

AutorOliver Jens Schmitt
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783170318625
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
It was around a century ago that the great empires of eastern Europe collapsed. For more than a hundred years, attempts have been made to erase the legacy of empire through assimilation, expulsions and destruction. But the modern national states in the Balkans are still today continuing the tradition of the Byzantine, Ottoman and Habsburg empires. Against this background, Oliver Schmitt has written a postimperial history of the Balkans. This unusual angle enables him to regard the Balkans as a large region of Europe and point out lines of continuity that persist to the present day. On the basis of recent research, fundamental developments in politics, society, the economy and culture are compared transnationally, so that differences and common elements among the individual Balkan states, as well as across the region as a whole, clearly emerge.

Oliver Jens Schmitt is Professor of East European History at the University of Vienna.

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Leseprobe

 

2          Das erste Kriegsjahrzehnt 1912–1923


 

 

 

Der Weg zum ersten Kriegsjahrzehnt


Das kurze 20. Jahrhundert am Balkan setzt ein mit dem Zusammenbruch der Imperien in einem Jahrzehnt brutal geführter Kriege. Das erste Kriegsjahrzehnt (hier in Abgrenzung zum zweiten von 1939 bis 1949) gehört zu den vielschichtigsten Kapiteln der jüngeren Balkangeschichte. In ihm bündeln sich die konflikthafte Entwicklung der seit 1830 entstandenen Nationalstaaten auf ehemals osmanischem Gebiet und die Stellung des Balkans in der großen europäischen Kriegsphase 1914–1918. Zu Beginn dieser Phase (1912/13) versuchten die Balkanstaaten (Griechenland, Bulgarien, Serbien und Montenegro) zum ersten Mal, sich regionalpolitisch von den Großmächten zu lösen und in einem regionalen Bündnis eine neue territoriale Ordnung einzuführen. Unmittelbar darauf folgte die Zeit der bis dahin massivsten Präsenz der Großmächte in der Region durch militärische Interventionen und Besatzungen (1915–1918). Ende 1916 kontrollierte lediglich noch Bulgarien souverän sein Staatsgebiet. Serbien und Montenegro, Nord- und Mittelalbanien sowie Südrumänien waren von den Mittelmächten besetzt, Südalbanien und Nordgriechenland von Ententestreitkräften, der Rest Griechenlands war durch die Entente in seiner Souveränität stark eingeschränkt. Beeindruckend war auch der erneute Umschwung ab Ende 1918: Rumänien und Serbien gingen als Sieger über die großen Imperien und mit enormen Gebietsgewinnen aus dem Ringen hervor. Das nationalstaatliche Prinzip schien zu triumphieren. Die Region teilte sich wie ganz Europa in Sieger und Verlierer.

Macht und Ohnmacht der jungen Staaten lagen in dem Kriegsjahrzehnt nahe beisammen. In der älteren Forschung der Nationalstaaten und vor allem den nationalen Erinnerungskulturen hat sich ein klares Bild von den Ereignissen und von deren Deutung herausgebildet. Es dient der Sinnstiftung und Legitimierung der neuen Staatenwelt und stellt den Nationalstaat als geschichtlichen Fortschritt im Vergleich zu den Imperien dar. Ihr Verschwinden wurde in älteren nationalhistoriographischen Darstellungen oft als Teil eines (teleo-)logischen Prozesses gedeutet und als Beweis ihres anachronistischen Charakters. In den regionalen Siegerstaaten wurde die Geschichte eines linearen Befreiungskampfes gegen Habsburger, Osmanen und Russen gezeichnet, getragen und geführt von Volkskollektiven unter aus dem Volke erwachsenen Führern. Nicht erst im Kommunismus wurde diese Lesart vertreten. Ausgeblendet wurde jegliche Ambivalenz. Dass Geschichte für die Zeitgenossen auch im Falle des Ersten Weltkriegs am Balkan ein offener Prozess war, kein Triumphmarsch, wird erst jüngst von einer kritischen Forschung herausgearbeitet. Dass nicht ein oft quasireligiös überhöhter Staat, sondern klar benennbare, oft parastaatliche Gruppen (wie Geheimorganisationen, etwa Offiziersbünde in Bulgarien, Serbien und Griechenland) maßgeblichen Einfluss auf politische Entwicklungen nahmen, passt ebenfalls nicht immer in das regionale Selbstbild moderner Machtstaaten.

Das erste Kriegsjahrzehnt band den Balkan militärisch und politisch stärker in die europäische Politik ein als je zuvor, nicht nur durch das gesteigerte Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch der Staaten, als eigenständige Machtsubjekte ohne die Großmächte regional zu handeln, und dem fortdauernden Interesse an außerregionalen Machtfaktoren. Die Art der Kriegführung und die neuen Instrumente der Konfliktlösung machten die Region nicht etwa zu einem Sonderfall, sondern zum Modell für die großen Kriege und viele Massenverbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die systematische Verfolgung der Zivilbevölkerung, staatlich durchgeführte Massenvertreibungen, die Vernichtung von Siedlungen und der erste Völkermord in räumlicher Nähe zu Europa (der vom Osmanischen Reich begangene Genozid an den Armeniern ab 1915) jeweils mit dem Ziel der ethnischen Homogenisierung von Territorien spielten sich am Balkan und in dessen kultureller Nachbarschaft (Anatolien) ab.

Nationalstaatsbildung auf ehemals osmanischem Gebiet


Wann die 1912 kulminierende Konfliktphase am Balkan begann, ist umstritten. Zahlreiche Konfliktlinien reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück, so der Gegensatz zwischen Bulgaren und Griechen um Makedonien, zwischen Serben und Albanern um das Kosovo, Albanern und Griechen um Epirus. Griechenland und Serbien, die beiden ältesten Balkanstaaten, hatten schon in den 1840er Jahren nationale Expansionsprogramme entworfen. Die Große Idee stand für die Wiederaufrichtung des Byzantinischen Reichs in Gestalt eines neugriechischen Staates. Das serbische Nationalprogramm zielte zunächst vor allem auf das damals noch osmanische Bosnien und die ebenfalls osmanische Herzegowina, aber auch auf die Serben im österreichischen Kaiserstaat (vor allem in Südungarn und an der Militärgrenze, d. h. dem Grenzgebiet Kroatiens zu Bosnien). Ab 1878 verfolgte Bulgarien das Ziel, die Anfang desselben Jahres im Vorfrieden von San Stefano für einen künftigen bulgarischen Staat vorgesehenen – aber nie verwirklichten – Grenzen zu erreichen, in erster Linie Makedonien, aber auch Teile von Thrakien. Es ging also um die Aufteilung der europäischen Provinzen des Osmanischen Reichs. Das Imperium hatte seit 1839 eine Reformpolitik (Tanzimat) begonnen, die der Stärkung von Heer und Verwaltung diente und ab 1856 auch die Gleichbehandlung der jahrhundertelang diskriminierten Christen anstrebte, die am Balkan die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Um 1900 musste jedoch der osmanische Versuch, moderne Staatlichkeit auch in traditionellen Randgebieten (vor allem den albanischen Siedlungsgebieten) geltend zu machen, als weitgehend gescheitert gelten. Die Einbindung der christlichen Bevölkerung blieb weitgehend auf dem Papier. In der Praxis widersetzten sich regionale muslimische Bevölkerungsgruppen jeder Veränderung. Entsprechend gering war die Loyalität der christlichen Bevölkerung gegenüber dem offenkundig reformunfähigen Imperium. Um wenigstens die nichttürkischen Muslime (auf dem Balkan vor allem Albaner und bulgarischsprachige Slawen, im Osten des Reichs auch Kurden, Araber und Tscherkessen) loyal zu erhalten, setzte dieses Imperium auf den Panislamismus als Reichsideologie, was Christen noch mehr ausgrenzte.1

Krisenhafter Beginn des 20. Jahrhunderts


Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sah in der Region gleich mehrere innenpolitische Erschütterungen. Zum negativen Balkanbild in Europa trugen der blutige Sturz der serbischen Königsdynastie der Obrenović und die durch ihn erfolgte Machtübernahme der Dynastie Karađorđević wesentlich bei (1903). Im August des gleichen Jahres entfachte die wohl größte Untergrundorganisation Europas, die 1893 gegründete Innere makedonisch-Adrianopler revolutionäre Organisation, einen Aufstand im osmanischen Zentralbalkan, der von osmanischen Truppen und balkanmuslimischen Paramilitärs brutal niedergeschlagen wurde und eine humanitäre Katastrophe hervorrief (sog. Ilinden-Aufstand, der am Tag des heiligen Ilija/Elias begann). Die Großmächte entsandten eine internationale Polizeimission, ein Instrument, das zu Beginn und zu Ende des 20. Jahrhunderts wiederholt zum Einsatz gelangte, wenn regionale Staaten den Schutz ihrer Bevölkerung nicht mehr garantieren konnten. Freilich scheiterte die Stabilisierung der Region Makedonien (eines geographischen Konstrukts zwischen Ägäis und Šargebirge, Ochridsee und Pirin), die die ausgesprochene religiöse und ethnische Vielfalt des Balkans nochmals in gebündelter Form darbot. Zwischen 1904 und 1908 operierten in der Region paramilitärische Banden, die von Griechenland, Bulgarien und Serbien finanziert wurden, sowie von Rumänien alimentierte Nationalaktivisten, um die orthodoxe Bevölkerung für die jeweilige nationale Sache zu gewinnen. Gegen den Zerfall der Staatsgewalt im Osmanischen Reich putschten 1908 die Jungtürken, getragen vor allem von in Balkangarnisonen stationierten jungen reformorientierten muslimischen Offizieren. Sie stellten die 1876 kurzfristig eingeführte osmanische Verfassung wieder her. Schon bald aber entwickelte sich das Jungtürkenregime von einem Experiment mit dem Parlamentarismus zu einer autoritären Militärdiktatur. 1908 annektierte Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina, das es seit 1878 als Protektorat verwaltet hatte. Die Donaumonarchie wollte so nach der Jungtürkischen Revolution jede Aussicht darauf verhindern, dass das Gebiet an ein gestärktes Osmanisches Reich fallen könnte. Der außenpolitische Preis war hoch – Russland sah sich brüskiert, noch mehr aber dessen regionaler Schützling Serbien, das...

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